Kaiser und König

Es gab einmal einen Kaiser, der keine Kinder hatte, und auch einen weit entfernt lebenden König ohne Kinder. Nun begab sich der Kaiser auf Reisen zu Experten in der ganzen Welt ...

14 Min.

Rabbiner Nachman aus Breslev

gepostet auf 17.03.21

Die Erzählungen des Rabbi Nachman aus Breslev 

Die zweite Erzählung handelt:
 
vom Kaiser und König

 

Es gab einmal einen Kaiser, der keine Kinder hatte, und auch einen weit entfernt lebenden König ohne Kinder. Nun begab sich der Kaiser auf Reisen zu Experten in der ganzen Welt, von denen er sich Rat oder Mittel erhoffte, wie er doch noch Kinder bekommen könnte.

Der König begab sich  ebenfalls aus dem selben Grund auf Reisen, und so geschah es, dass sie beide zufällig in demselben Gasthaus abstiegen, ohne vorher je voneinander gehört zu haben. Doch dem Kaiser fiel das königliche Benehmen des anderen auf, deshalb erkundigte er sich bei ihm. Dieser gab zu, ein König zu sein. Auch der König hatte des Kaisers herrschaftliche Art bemerkt, und auch dieser offenbarte ihm, ein Kaiser zu sein. Dabei berichtete jeder dem anderen den Grund der Reise, nämlich dass sie Experten besuchten, die ihnen zu Kindern verhelfen sollten. Sie gaben sich einander für den Fall des Erfolges ihrer Reise ein Versprechen: Wenn nach ihrer Heimkehr die Frau des einen einen Knaben und die andere ein Mädchen zur Welt brächten, dann würden sie diese später miteinander verheiraten.

Der Kaiser reiste heim und bekam eine Tochter. Auch der König reiste heim und wurde Vater eines Sohnes. Aber an das Versprechen dachte keiner mehr in seinem Glück. Der Kaiser ließ später seine Tochter studieren, und der König seinen Sohn. So geschah es, dass die beiden jungen Leute sich bei demselben Professor begegneten. Sie verliebten sich ineinander und wollte gemeinsam eine Ehe eingehen. Der Königssohn nahm einen Ring, steckte ihn an ihre Hand, und sie verheirateten sich. Später ließ der Kaiser seine Tochter heimkommen, und auch der König ließ seinen Sohn nach Hause kommen.

Der Tochter des Kaisers  wurden sehr gute Partien angeboten, doch sie wies all die Freier wegen ihrer Verbindung mit dem Sohn des Königs ab. Der Sohn des Königs wiederum sehnte sich derweil sehr nach ihr. Auch die Tochter des Kaisers war meist sehr traurig, weil sie ihren Geliebten sehr vermisste. Deshalb pflegte der Kaiser mit ihr durch seine Hallen und Höfe zu wandeln und wollte ihr so ihre Bedeutung aufzeigen, doch sie blieb einfach nur traurig. Der Sohn des Königs indes sehnte sich so sehr nach ihr, dass er ganz krank wurde, und wann immer man ihn auch fragte: «Warum bist du krank?«, gab er keine Antwort. Da wurde sein Diener gefragt: »Vielleicht kannst du es uns erklären?«

Der Diener antwortete ihnen, er wisse es genau, denn er hatte ihm ja auch dort gedient, wo er studiert hatte. Und so erzählte er ihnen die ganze Geschichte. Da erinnerte sich der König wieder, dass er vor langer Zeit mit dem Kaiser einen Vertrag über die Heirat ihrer beiden Kinder geschlossen hatte. Er sandte sofort eine Botschaft an den Kaiser, er möge die Hochzeit vorbereiten lassen, da sie doch vor langer Zeit einen Heiratsvertrag geschlossen hätten. Der Kaiser aber wollte diese Verbindung nicht mehr, wagte es andererseits auch nicht, sich einfach nur so zu weigern.

Deshalb antwortete er dem König, er solle seinen Sohn zu ihm senden und man würde dann prüfen, ob er auch fähig wäre, später einmal die Regierungsgeschäfte zu führen. Wenn ja, dann wolle er ihm seine Tochter zur Frau geben. Daraufhin sandte der König seinen Sohn zu ihm, und der Kaiser ließ ihn in ein Zimmer setzen und ihm etliche Akten von Staatsgeschäften geben, um zu sehen, ob er das Land regieren könne. Der Sohn des Königs sehnte sich aber nur danach, die Tochter des Kaisers zu sehen, was ihm aber stets verwehrt wurde. Einmal ging er an einer Spiegelwand entlang, erblickte sie darin und wurde sofort ohnmächtig. Sie kam zu ihm schnell zu Hilfe, richtete ihn wieder auf und beteuerte, sie wolle keinesfalls einen anderen, da sie ihm ja bereits verbunden sei. Er fragte entmutigt: »Was sollen wir denn bloß tun? Dein Vater will es doch aber nicht!« 

Sie entgegnete energisch: »Dennoch!« Und so beschlossen sie, weit fort über das Meer zu fliehen. Sie mieteten ein Schiff, stachen heimlich in See und segelten übers Meer. Nach langer Zeit wollten sie endlich wieder ans Ufer gelangen. Sie erreichten eine bewaldete Küste. Hier gingen sie an Land und in den nahen Wald. Die Tochter des Kaisers zog den Ring von ihrer Hand, um  ihn den den Königssohn zu geben und legte sich schlafen. Als dieser später merkte, dass sie bald erwachen würde, legte er den Ring neben ihrren Körper. Als sie aufgestanden und schon zum Schiff unterwegs waren, bemerkte sie, dass sie den Ring vergessen hatten und bat ihn, den Ring doch zu holen. Also kehrte er um, konnte aber den Ort ihres

Ausruhens nicht mehr finden. Er ging an einen anderen Platz und konnte auch dort den Ring nicht finden. So ging er überall umher und suchte vergeblich nach dem Ring, bis er sich total verirrt hatte und deshalb nicht mehr zurückfand. Nun begann sie ihn zu suchen, doch auch sie verirrte sich. Je weiter er aber herumlief desto tiefer geriet er in die Irre. Dann stieß er plötzlich auf einen Weg, der ihn in eine Siedlung führte. Da er nicht mehr ein noch aus wusste, blieb er dort und verdingte  sich als Knecht. Auch sie wanderte umher und verirrte sich. Da beschloss sie, am Meer zu bleiben – und begab sich wieder an die Küste. Dort gab es ein paar Obstbäume, und so ließ sie sich dort nieder und lebte von den Früchten. Tagsüber ging sie an die Küste, weil sie dort auf vorbeifahrende Schiffe  hoffte.

Des Nachts stieg sie auf einen Baum, um sich vor den wilden Tieren zu schützen. Zu jener Zeit lebte ein unermesslich reicher Kaufmann, der auf der ganzen Welt Handel betrieb. Er war schon alt und hatte nur einen einzigen Sohn. Einmal sagte der Sohn zum Vater: »Da du schon so alt bist, ich aber noch jung und deshalb deine Handelsagenten mich nicht respektieren, weiß ich nicht, was ich tun soll, wenn du sterben solltest und ich allein zurückbliebe. Gib mir ein Schiff mit Waren, und ich will damit zur See fahren, um Erfahrungen im Handel zu sammeln.« Der Vater erfüllte ihm seinen Wunsch und gab ihm ein Schiff voll mit Waren. Er fuhr in fremde Länder, verkaufte die Waren, kaufte neue und war dabei sehr erfolgreich. Während er so übers Meer fuhr, erblickte er Bäume an der Küste, an der die Tochter des Kaisers lebte.

Die Seeleute dachten, es sei eine Siedlung und wollten dort landen. Als sie jedoch näher kamen, erkannten sie, dass dort nur Bäume standen, und wollten deshalb wieder umkehren. In diesem Augenblick blickte der Sohn des Kaufmanns ins Meer. Dort spiegelte sich ein Baum und in seiner Krone konnte er etwas wie einen Menschen erkennen. Weil er aber dachte, er würde einer Täuschung erlegen, berichtete er diess den Männern, die bei ihm waren; sie blickten dann auch dort hin und sahen selbst etwas in der Krone des Baums, das einem Menschen ähnelte. Sie beschlossen daraufhin, näher heranzufahren und einen Mann in einem Boot hinüber zu schicken. Und sie schauten auf das Wasser, um den Mann im Boot zu lenken, damit der nicht die Richtung verlöre, sondern geradewegs zu jenem Baum gelangte.

Als er zu dem Baum kam, sah er in ihm einen Menschen sitzen. Da fuhr der Sohn des Kaufmanns selbst hin und sah die Tochter des Kaisers dort sitzen – und bat sie herunterzusteigen. Sie antwortete ihm, sie würde sein Schiff nur betreten, wenn er ihr verspreche würde, sie nicht zu berühren, bis sie in seiner Heimat angekommen wären und in allen Ehren geheiratet hätten. Das versprach er ihr. Als die beiden auf dem Schiff waren, bemerkte der Sohn des Kaufmanns, dass die Tochter des Kaisers Musikinstrumente spielen und viele Sprachen sprechen konnte. Er freute sich sehr, sie gefunden zu haben. Als sie seiner Heimat schon sehr nahe gekommen waren, sagte sie ihm, es sei doch angebracht, dass er vorausgehe und seinen Vater, seine Verwandten und alle guten Freunde benachrichtige. Alle sollten sie begrüßen und beglückwünschen, da er eine so besondere Frau heimführe. Dann würde er auch erfahren, wer sie in Wirklichkeit sei.

(Sie hatte zuvor schon verlangt, dass er erst nach der Hochzeit fragen solle, wer sie sei. Erst dann solle er es erfahren.) Er stimmte zu. Auch sagte sie zu ihm: »Es sei wohl angebracht, dass du alle Matrosen, die das Schiff segeln, trunken machst, damit sie erfahren, mit welch einer Frau ihr Kaufherr Hochzeit feiern wird.« Er stimmte ihr zu, nahm den besten Wein, den er an Bord hatte, gab den Matrosen davon, und sie betranken sich ordentlich.

Er indes zog heim, seinem Vater und seinen Freunden Mitteilung zu machen. Die Seeleute betranken sich, verließen das Schiff, fielen betrunken um und blieben liegen. Während sich die ganze Familie vorbereitete, sie zu empfangen, machte sie das Schiff vom Ufer los, setzte die Segel und stach in See. Die Familie des Kaufmanns begab sich zum Hafen, fand aber kein Schiff. Der Kaufmann war voller Zorn über seinen Sohn. Der Sohn beteuerte daraufhin: »Glaube mir: Ich habe ein Schiff voll Waren zurückgebracht!« Aber sie sahen nichts, und er sagte ihnen: »Dann fragt doch die Matrosen!« Doch die lagen nur betrunken da. Als sie endlich wieder nüchtern waren, wurden sie befragt, aber sie erinnerten nicht mehr daran, was ihnen geschehen war. Sie wussten nur, dass sie ein Schiff mit vielen Waren zurückgebracht hatten, doch wo es jetzt war, wussten sie nicht. Der Kaufmann war sehr zornig über seinen Sohn und verjagte ihn aus seiner Heimat, damit er ihm nicht mehr vor die Augen käme.

So wurde der Sohn des reichen Kaufmanns ein Flüchtling und umherstreifender Wanderer. Und die Tochter des Kaisers befuhr die Meere. Zu jener Zeit gab es einen König, der baute sich Paläste am Meer, weil er die Meereswinde und den Anblick der vorüberziehenden Schiffe liebte. Die Tochter des Kaisers fuhr übers Meer und kam ganz in die Nähe dieses Königspalastes. Der König blickte hinaus und sah ein Schiff ohne Ruder und keinen einzigen Mann an Bord. Er glaubte sich zu irren, und befahl seinen Leuten nachzusehen, aber auch sie sahen nichts anderes. Als die Tochter des Kaisers dem Palast nahe gekommen war, dachte sie: »Was soll mir der Palast?« So wendete sie das Schiff, aber der König schickte nach ihr und ließ sie zu sich führen. Dieser König hatte keine Frau, denn er konnte keine finden. Hatte er eine ins Auge gefasst, so wollte die ihn nicht – und umgekehrt.

Als die Tochter des Kaisers vor ihm kam, verlangte sie, er solle ihr schwören sie nicht zu berühren, bis er sie zur rechtmäßigen Ehefrau genommen habe. Er schwor es ihr. Sie verlangte von ihm auch,  dass er ihr Schiff weder öffnen noch antasten werde, sondern dass es vielmehr bis zur Hochzeit auf dem Meere bliebe. Dann werde jedermann sehen, wie viele Waren sie mitgebracht habe, und niemand könne sagen, er habe nur irgendeine gewöhnliche Frau genommen. Er versprach ihr  dies alles.

In allen Ländern gab der König kund, dass sie zu seiner Hochzeit kommen sollten. Und er ließ Paläste für sie bauen. Sie verlangte, man solle ihr elf junge Damen zuführen, um ihr Gesellschaft zu leisten. So befahl es der König, und elf junge Damen wurden zu ihr gesandt. Die waren Töchter vornehmer Fürsten, und für jede von ihnen wurde ein eigener Palast erbaut. Auch sie selbst hatte ihren eigenen Palast. Dort versammelten sich alle, um Musik zu machen und mit ihr zu spielen. Einmal sagte sie, dass sie mit ihnen auf dem Meer segeln wolle. Sie gingen mit ihr ans Meer und spielten dort. Sie erklärte, sie wolle ihnen von dem guten Wein vorsetzen, den sie an Bord habe. Davon gab sie ihnen reichlich, bis diese ganz betrunken waren und einschliefen. Sie ging hin, machte das Schiff los, setzte die Segel und floh übers Meer.

Der König und seine Leute schauten hinaus auf das Meer, sahen, dass das Schiff verschwunden war, und waren äußerst bestürzt. Der König sagte: »Gebt Acht und sagt ihr das nicht direkt, denn ihr Kummer über den Verlust des kostbaren Schiffes wird sehr groß sein. Vielleicht denkt sie auch, ich hätte das Schiff jemand anderem gegeben! Schickt darum eine ihrer Damen zu ihr, damit sie es ihr schonend beibringe.« Man ging in eine  Kammern für die jungen Damen und fand dort aber niemanden; dann in eine zweite, und so in alle elf Kammern, aber nirgends fand man jemanden. Da beschloss man, zur Nachtzeit eine alte Edeldame zu ihr zu schicken.

Die ging zu ihrer Kammer, aber auch dort war niemand, deswegen waren alle sehr bestürzt. Die Väter der jungen Damen sahen, dass sie von ihren Töchtern plötzlich keine Nachrichten mehr erhielten. Sie sandten Briefe, doch es kamen keine  Antworten zurück. So kamen sie selbst, fanden aber keine von ihren Töchtern vor. Sie gerieten sehr in Zorn und wollten den König an einen Ort für die zum Tode Verurteilten verbannen, denn sie waren immerhin die Vornehmsten des Reiches. Doch sie besannen sich: »Ist der König so schuldig, dass er diese Verbannung verdient? Er ist das Opfer höherer Gewalt!« Sie beschlossen also, ihn der Herrschaft zu entheben und ihn einfach zu verstoßen.

Entlassen und verstoßen zog er davon. Die Tochter des Kaisers, die sich mit den elf Damen davongemacht hatte, segelte inzwischen weiter. Nach einer Weile wachten die jungen Damen auf und begannen wieder zu spielen wie zuvor, weil sie nicht wussten, dass das Schiff längst die Küste verlassen hatte. Dann sagten sie zu ihr: »Lass uns wieder heimkehren.« Die Kaisertochter antwortete ihnen: »Lasst uns doch noch etwas länger bleiben.« Nach einer Weile kam ein Sturmwind auf, und die Damen sagten wieder: »Lass uns endlich heimkehren.« Da eröffnete sie ihnen, dass das Schiff schon längst die Küste verlassen hatte. Sie fragten erstaunt, warum sie das getan habe.

Sie antwortete, dass sie  befürchtet habe, wegen des aufkommenden Sturms könne das Schiff zerbrechen, und darum hätte sie so handeln müssen. So fuhren sie weiter übers Meer – die Tochter des Kaisers mitsamt den elf jungen Damen – und diese spielten auf ihren Instrumenten. Nach längerer Fahrt gelangten sie vor einen Palast, und die Damen baten: »Lass uns dorthin fahren«, doch sie lehnte  ab und sagte ihnen, sie bedauere es, einst den Palast jenes Königs, der sie heiraten wollte, angesteuert zu haben. Später entdeckten sie eine Insel mitten im Meer und fuhren darauf zu.

Auf dieser Insel hausten zwölf Räuber, die wollten die Frauen töten. Sie fragte: »Wer ist der Größte unter euch?« Den zeigte man ihr, und sie sprach zu ihm: »Was seid ihr?« Er antwortete ihr, sie seien Räuber. Da sagte sie: »Auch wir sind Räuber. Seid ihr es mit eurer Kraft, sind wir es mit unserer Klugheit, denn wir sprechen viele Sprachen und spielen verschiedene Instrumente. Was hättet ihr wohl davon, uns umzubringen? Besser, ihr heiratet uns und werdet so auch unseren Reichtum besitzen.«

Und sie zeigte ihnen, was ihr Schiff geladen hatte. Den Räubern gefiel ihre Rede, und sie zeigten den Frauen ihre Schätze und führten sie in ihr Versteck. Sie kamen überein, nicht alle auf einmal zu heiraten, vielmehr einer und dann der nächste, so würde jeder sich entsprechend seinem Rang die passende junge Dame wählen. Später schlug die Kaisertochter den Räubern vor, sie wolle ihnen von dem guten Wein, den sie an Bord habe, vorsetzen. Von dem habe sie aber noch nie gekostet , weil er für den Tag verwahrt werden sollte, an dem Gott ihr den vorbestimmten Partner zuführen würde. Sie reichte ihnen den Wein in zwölf Bechern und bat einen jeden, auf alle zwölf zu trinken. Sie tranken, wurden betrunken und fielen um. Da rief sie ihren Damen zu: »Nun geht hin und tötet eure Männer!« Und sie töteten sie alle. Dann fanden sie  die Schätze der Räuber, so unermesslich wertvoll, wie sie bei keinem König der Erde zu finden sind.

Sie beschlossen, weder Kupfer noch Silber zu nehmen, sondern nur Gold und Juwelen. Sie warfen alles über Bord, was entbehrlich war, und beluden das ganze Schiff nur mit den wertvollsten Dingen, dem Gold und den Juwelen, die sie gefunden hatten. Auch beschlossen sie, sich nicht länger wie Frauen zu kleiden. Sie nähten sich Männerkleider nach deutscher Mode und segelten wieder davon. Zur selben Zeit trug es sich zu, dass ein alter König lebte; der hatte einen einzigen Sohn, den verheiratete er und übergab ihm sein Reich. Einmal sagte der Prinz zu seinem Vater, er wolle mit seiner Frau auf dem Meer segeln, damit sie sich an die Meeresluft gewöhne, für den Fall, dass sie jemals – Gott behüte! – übers Meer fliehen müssten. Der Prinz, seine Frau und seine Minister bestiegen ein Schiff, waren sehr ausgelassen und trieben tolle Späße. So beschlossen sie, ihre Kleider auszuziehen.

Als sie nichts weiter auf dem Leib hatten als das Hemd, versuchten einige von ihnen auf den Mast zu klettern. Dem Prinzen gelang es, den Mast zu erklimmen. Unterdessen war die Tochter des Kaisers mit ihrem Schiff in die Nähe gekommen und sah das Schiff des Prinzen. Zuerst zögerte sie näher heranzusegeln. Dann, als sie etwas näher gekommen war, sah sie, dass es dort sehr ausgelassen zuging und dass keine Räuber an Bord waren. Sie fuhr noch näher heran und sagte ihren Leuten: »Ich kann den Kahlschädel ins Meer werfen!« (Der Prinz, der den Mast erklettert, war kahlköpfig.) Diese fragten sie: »Wie sollte das möglich sein? Wir sind noch zu weit entfernt!« Sie antwortete ihnen, sie habe ein Brennglas, mit dem werde sie ihn hinabwerfen. Doch sie wolle ihn nicht hinabstoßen, bevor er die Spitze des Mastbaums erreicht hätte. Denn wenn er erst in der Mitte wäre, würde er aufs Deck fallen, von der Mastspitze aber würde er ins Meer stürzen.

So wartete sie, bis er die Spitze des Mastes erreicht hatte, nahm ihr Brennglas und richtete es so lange auf seinen Kopf, bis sein Hirn verbrannte und er ins Meer stürzte. Als die anderen auf dem Schiff des Prinzen sahen, dass er abgestürzt war, erhob sich ein großes Wehgeschrei, denn wie würden sie nun nach Haus zurückkehren können? Der König würde vor Kummer sterben! Sie beschlossen, sich dem Schiff zu nähern, das sie gesehen hatten, denn auf ihm mochte vielleicht ein Doktor sein, der ihnen einen Rat geben könnte. Sie näherten sich dem Schiff und riefen der Mannschaft zu, sie sollten nichts befürchten, sie würden ihnen nichts tun. Sie fragten: »Gibt es unter euch wohl einen Doktor, der uns helfen kann?« Und sie erzählten ihnen, wie der Prinz ins Meer gestürzt war. Die Tochter des Kaisers riet ihnen, den Prinzen aus dem Meer zu ziehen. Das wollten sie tun, fanden ihn und zogen ihn heraus.

Sie fühlte seinen Puls und sagte: »Das Hirn ist ihm verbrannt.« Sie rissen ihm das Hirn auf und fanden ihre Vermutung bestätigt. Sie staunten sehr, dass der Doktor (also des Kaisers Tochter) so zutreffend gesprochen hatte. Sie baten, er solle doch mit ihnen heimkehren, des Königs Leibarzt werden und große Berühmtheit erlangen. Sie wollte das aber nicht und sagte, dass sie gar kein Doktor sei, sondern diese Dinge nur eben so wisse. Die Leute auf dem Schiff des Prinzen wollten nicht heimkehren, und so setzten die Schiffe ihre Fahrt gemeinsam fort. Die Minister kamen auf den Gedanken, dass ihre Königin (die Witwe des Prinzen) den Doktor heiraten sollte, seiner großen Weisheit wegen, die sie an ihm entdeckt hatten. Sie wollten, dass er ihr neuer König würde, und waren bereit, dafür ihren alten König zu töten. Es war ihnen nicht sehr angenehm, der Königin zu sagen, sie solle einen Doktor heiraten, aber es gefiel ihr sehr, diesen Doktor zu heiraten zu können.

Sie fürchtete nur, das Land würde ihn nicht als König akzeptieren. Sie verabredeten, auf ihren Schiffen Banketts zu veranstalten, so dass sie beim Trinken – also in einem weinseligen Augenblick – die Angelegenheit besprechen könnten. Sie gaben Banketts, jeder an einem bestimmten Tag. Als der Tag des Doktors (d. i. der Tochter des Kaisers) gekommen war, gab er ihnen von seinem Wein, und sie wurden betrunken. In einem Augenblick bester Stimmung nahmen die Minister das Wort: »Wie großartig wäre es doch, wenn die Königin den Doktor heiraten würde!« Und der Doktor sprach: »Wie großartig wäre es, wenn sie darüber mit einem Munde reden würden, der nicht betrunken ist!« Auch die Königin nahm das Wort: »Es wäre überaus großartig, wenn ich den Doktor zum Mann nehmen könnte, nur müsste das Land zustimmen.«

Der Doktor nahm wieder das Wort: »Wie großartig wäre es, wenn sie darüber mit einem Munde reden würde, der nicht betrunken ist!« Später, als sie alle wieder nüchtern waren, erinnerten sich die Minister an ihre Äußerungen, und es war ihnen wegen der Königin sehr unangenehm, dass sie so etwas gesagt hatten. Aber sie überlegten sich: »Die Königin hat es ja selbst auch gesagt.« Und der Königin war es wegen der Minister unangenehm, doch sie überlegte sich: »Sie haben es ja auch gesagt.« So begannen sie, sich zu besprechen und alles miteinander auszumachen. Sie stimmte zu, den Doktor zu heiraten, und alle kehrten in die Heimat der Königin zurück. Als das Volk sie erblickte, jubelte es, denn es war schon lange her, dass der Prinz davongesegelt war. Sie wussten nicht, wo er abgeblieben war, und der alte König war bereits vor ihrer Rückkehr verstorben. Da bemerkten die Leute mit einem Mal, dass der Prinz, der nun ihr König geworden war, nicht unter den Zurückgekehrten war. Sie fragten: »Wo ist unser König?« Die Seefahrer erzählten ihnen, dass er gestorben sei und sie bereits einen neuen König angenommen hätten, der gleich mit ihnen gekommen sei. Und das Volk war sehr glücklich, gleich einen neuen König zu haben. Der König, des Kaisers Tochter also, befahl nun, in allen Ländern zu verkünden, dass jeder, gleich wer er sei, zu seiner Hochzeit kommen solle: Wanderer oder Heimatlose, Flüchtlinge oder Vertriebene. Niemand dürfe fehlen, und jeder werde reichliche Geschenke erhalten. Auch ließ der König Brunnen um die ganze Stadt herum anlegen, damit man nicht weit gehen müsste, wenn man trinken wollte; jeder sollte einen Brunnen in seiner Nähe finden.

Bei jedem Brunnen ließ der König sein Abbild zeichnen und Wächter aufstellen. Sie sollten diejenigen festnehmen, die das Bild sehr aufmerksam betrachteten und die Stirne runzelten. So geschah es. Es kamen alle drei: der erste Königssohn (der wahre Bräutigam der Tochter des Kaisers, die König geworden war) und der Kaufmannssohn (verstoßen von seinem Vater, da die Kaisertochter mit dem Schiff und all seinen Waren geflohen war) und der König, den man seines Königreichs enthoben hatte (da sie mit den elf
Damen geflüchtet war). Jeder der drei erkannte ihr Bild. Sie betrachteten es, erinnerten und grämten  sich.

Also nahmen die Wächter sie gefangen. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten ließ der König die Gefangenen vorführen. Man brachte die drei, und sie erkannte sie genau. Die drei aber erkannten sie nicht, da sie wie ein Mann gekleidet war. Die Tochter des Kaisers ergriff das Wort und sprach: »Du, König, wurdest deiner Herrschaft enthoben wegen jener elf  jungen Damen, die dir verloren gingen. Hier sind deine Damen wieder. Kehr zurück in dein Land und zu deinem Königtum. Du, Kaufmann, wurdest von deinem Vater wegen des Schiffes und der Waren, die verloren gingen, verstoßen. Hier ist das Schiff mit allen Waren. Und weil dir dein Geld so lange nicht zur Verfügung stand, sind nun in deinem Schiff doppelt und dreifach so viel Schätze wie zuvor. Und du, Königssohn (d.i. ihr wahrer Bräutigam), komm her! Auf, lass uns heimfahren.« Und sie kehrten in ihre Heimat zurück.

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