Tanz in weißen Kleidern

Am »jüdischen Valentinstag« werden Ehe, Liebe und Familie gefeiert ...

4 Min.

Rabbiner Abraham Itzchak Radbil

gepostet auf 05.04.21

TU BE AW – Tanz in weißen Kleidern – Am »jüdischen Valentinstag« werden Ehe, Liebe und Familie gefeiert

Tu be Aw, der 15. Tag des jüdischen Monats Aw, ist als Feiertag in unserem Kalender gekennzeichnet. Zwar feiern viele von uns diesen Tag überhaupt nicht, und nur wenige messen ihm überhaupt größere Bedeutung bei und kennen seine Hintergründe. Doch der Talmud sagt im Namen von Raban Schimon ben Gamliel im Traktat Taanit, dass es für das jüdische Volk keine größeren Feiertage gegeben hat als den 15. Aw und Jom Kippur.

 

Die Weisen des Talmud waren über diese Aussage Raban Gamliels sehr verwundert – so wie wir, wenn wir diese Stelle lesen – und fragten, was am 15. Aw denn so besonders sein soll. Es ist klar, warum Jom Kippur zu den herausragendsten Tagen unseres Kalenders gehört – an diesem Tag werden uns schließlich unsere Sünden verziehen; ein Grund zu großer Freude. Doch wie kann man den 15. Aw mit Jom Kippur gleichsetzen und damit über die restlichen jüdischen Feiertage stellen?

Die Gemara gibt sechs unterschiedliche Gründe an, warum der 15. Aw als Freudentag zu behandeln ist. Doch die dazugehörige Mischna nennt nur einen einzigen Grund: »Es gibt keine besseren Tage für Israel als den 15. Aw und den Versöhnungstag, an welchen die Töchter Jerusalems hinausgehen in geborgten weißen Gewändern. (…) Und die Töchter Jerusalems gingen hinaus und tanzten in den Weinbergen« (Taanit 4,11).

 

MÄDELS

Doch warum wollten die jungen Damen gerade an diesen beiden Tagen die Aufmerksamkeit der jungen Männer auf sich ziehen? Gab es keine bessere Gelegenheit als ausgerechnet Jom Kippur, den Tag, an dem wir für die Vergebung unserer Sünden beten müssen? Und warum musste es gerade der 15. Aw sein? Außerdem ist es zwar sehr schön, zwei Tage im Jahr zu haben, wo unsere Mädels tanzen und mit unseren Jungen kommunizieren können, doch warum genau macht das diese Tage zu den freudigsten des Jahres?

Ich glaube, dass wir diese Fragen beantworten können, indem wir der Essenz der beiden Tage auf den Grund gehen. Jom Kippur und der 15. Aw sind Tage der Verbindung beziehungsweise der Herstellung einer Verbindung. Und damit ist keine Internetverbindung gemeint, sondern eine Verbindung zwischen dem Menschen und G’tt, aber auch zwischen den Menschen untereinander.

Unsere Weisen sagen, dass Jom Kippur der Tag ist, an dem die himmlischen Tore am weitesten geöffnet sind. Wir versuchen, uns den ganzen Tag mit Gebeten zu beschäftigen, zu fasten und uns von sonstigen Gelüsten fernzuhalten, um uns wie Engel über die körperliche Welt zu erheben, um eine besondere Verbindung mit G’tt aufzubauen. Am Jom Kippur geht es aber nicht nur um die Verbindung zu G’tt, sondern auch um die Verbindung zu unseren Mitmenschen. Da G’tt nur die Sünden verzeiht, die gegen ihn begangen worden sind, müssen wir für die Vergehen gegen unsere Mitmenschen sie selbst um Verzeihung bitten und damit die verlorenen Verbindungen wiederaufbauen.

Wenn wir die Gründe für den 15. Aw als einen Feiertag in der Gemara (Taanit 4,11, 30b–31a) genauer analysieren, wird deutlich, dass die Essenz auch hier die Verbindung ist. Hier einige Beispiele: Am 15. Aw wurde den Angehörigen der einzelnen Stämme der Generation der Wüstenwanderung erlaubt, untereinander zu heiraten. Es wurde also eine Verbindung zwischen den einzelnen Stämmen hergestellt, die es vorher nicht gab. In der Geschichte war Angehörigen des Stammes Benjamin wegen bestimmter Vergehen verboten worden, sich mit Abkömmlingen aller anderen Stämme zu verheiraten. Dieses Verbot wurde später am 15. Aw aufgehoben – also wurde die Verbindung wiederhergestellt.

TEMPEL

Ein anderer Grund, der vom Talmud angegeben wird, ist, dass man am 15. Aw aufhörte, das Holz für den Altar für das ganze kommende Jahr zu hacken. Der Tempel diente als ein Verbindungsort zwischen uns und dem Allmächtigen, aber auch als Verbindung zwischen den Menschen. Denn alle Israeliten trafen sich mehrmals im Jahr zu den Feiertagen im Tempel. Die Grundlagen für diese Verbindungen wurden am 15. Aw gelegt. Die Mischna sagt weiter: »Und so heißt es im Hohelied: ›Geht raus und seht, Töchter Zions, den König Salomo. (….) Am Tag seiner Hochzeit‹, das ist die Gabe der Tora, ›Und am Tage der Freude seines Herzens‹, das ist der Bau des Tempels.«

Aus diesem Grund wurden Jom Kippur und der 15. Aw dafür ausgewählt, die Verbindungen zwischen den jungen Männern und Frauen herzustellen. Wir sehen, dass es unsere größte Freude ist, wenn wir mit einander und mit G’tt verbunden sind. Zerstrittenheiten aber führen zu Trauertagen, so wie es beim neunten Aw der Fall ist.

Unsere Weisen sagen, dass das Gebot der Nächstenliebe – also das wichtigste Gebot der Tora – am besten in einer Ehe erfüllt werden kann. Sie ist die wichtigste Verbindung für das jüdische Volk. Es ist eines der größten Gebote, zu heiraten und sich zu vermehren, denn nur innerhalb von Ehe und Familie kann man auch die höchste Stufe des G’ttesdienstes erreichen.

 

GESELLSCHAFT

Der häusliche Frieden hat im Judentum große Priorität und findet seinen Ausdruck in vielen Geboten, wie zum Beispiel dem Zünden der Schabbatkerzen. Dieser Frieden ist so wichtig, dass selbst G’tt bereit war, unserem Vorvater Awraham nicht die ganze Wahrheit über seine Frau Sara zu erzählen, damit Awraham sich nicht über sie ärgerte. Und schließlich ist eine Familie der wichtigste Baustein unserer Gesellschaft, auf dem beinahe alles in unserer Religion basiert.

 

Diese Einstellung hat unser Volk über Jahrtausende geprägt und vor allen negativen Einflüssen und Verfolgungen gerettet. Aus diesem Grund gehören die wichtigsten Tage unseres Kalenders den Tagen, an denen unsere Familien begründet wurden. Mögen wir alle unseren Teil dazu beitragen, die Institution einer jüdischen Familie weiterhin aufrechtzuerhalten, die Existenz des jüdischen Volkes zu sichern und noch ganz viele Freudentage in unserem Kalender zu erleben.

 

 

Der Autor ist Rabbiner in Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Mehr Infos finden Sie auf dem Blog von Rabbi Abraham Itzchak Radbil.

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