Einer wie der andere

Ob groß oder klein, dick oder dünn: Gute Eltern versuchen, im Umgang mit ihren Kindern möglichst wenige Unterschiede zu machen.

4 Min.

Rabbiner Yaacov Zinvirt

gepostet auf 05.04.21

Die Tora lehrt, dass Eltern ihre Kinder gleichbehandeln sollten
 

In der Parascha Wajeschew werden Jakovs schwierige Familienverhältnisse aufgedeckt. Es geht um Eifersucht, Neid und Missgunst. Fast hätte dies zu einem Mord geführt, wie man liest: »Jetzt kommt, wir wollen ihn erschlagen, in eine der Gruben werfen und sagen, ein wildes Tier hat ihn gefressen, dann werden wir ja sehen, was aus seinen Träumen wird« (1. Buch Moses 37,20). Welche Erklärungen geben uns die Weisen für derartigen Hass innerhalb der Familie, und wer hat ihn ihrer Meinung nach ausgelöst?

Im 1. Buch Moses 37, 3-4 steht: »Israel (Jakov) aber liebte Josef mehr als alle seine Söhne, weil er ihm im hohen Alter geboren worden war. Und er machte ihm einen bunten Rock. Als nun seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr als sie alle liebte, hassten sie ihn und konnten nicht freundlich mit ihm sprechen.« Josef war der Erstgeborene von Jakov und Rachel, seiner Lieblingsfrau. Rachel verstarb schon sehr früh. 

MEINUNG 

Über die Bemerkung in Vers 3 – »Jakov aber liebte Josef mehr als alle seine Söhne« – stehen im Midrasch Bereschit Raba zwei Meinungen geschrieben: Rabbi Jehudas Erklärung dazu, warum Jakov Josef mehr als die anderen liebte, war: »Denn dessen Gesichtszüge glichen den seinen.« Rabbi Nechemia gibt eine andere Erklärung: »Alles, was Jakov von Schem und Ewer gelernt hatte, überlieferte er ihm (Josef).« 

Rabbi Jehuda meint, Jakov sehe in seinem geliebten Sohn Josef sein Ebenbild und identifiziert sich mit ihm. Die Brüder hassten ihn, weil der emotionale Bund zwischen den beiden so stark war und sie sich in der Zuwendung ihres Vaters benachteiligt fühlten.

Rabbi Nechemia geht von einer rationalen, bewussten Bevorzugung Josefs aus. Jakov sah in Josef den wahren spirituellen Nachfolger seiner selbst. Laut Rabbi Nechemia hassen sie ihn, da Josef von ihrem gemeinsamen Vater als künftiger Führer aller Brüder auserwählt wurde. 

Am Ende der Diskussion der beiden Rabbiner sagt Resch Lakisch im Namen von Rabbi Elieser, Sohn des Asarias, über den Vers: »Und er machte ihm einen bunten Rock.« Dazu meint Resch Lakisch, ein Vater dürfe keinen Unterschied zwischen seinen Kindern machen, da dies zum Hass unter den Geschwistern führt.

GESCHENK 

Nach Resch Lakisch kann es bei Eltern vorkommen, dass sie vielleicht ein Kind mehr lieben als das andere, jedoch sollten sie das niemals zum Ausdruck bringen und darauf achtgeben, dass sie alle Kinder gleichstellen. Jakov glaubte, seinem Sohn Josef durch das Geschenk seine Liebe besonders zu beweisen. Aber gerade diese Bevorzugung führte fast zu einem Mord.

Aus Resch Lakischs Aussage, »Der Mensch darf keinen Unterschied zwischen seinen Kindern machen«, lernen wir aus der Tora, dass jedes Elternteil bei der Erziehung seiner Kinder darauf achten muss, dass alle in der Familie gleichberechtigt behandelt werden müssen, unabhängig von ihrer Art und ihrem Charakter.

GARBEN 

Dem oben genannten Vers 20, in dem die Brüder Josef töten wollten, gingen Josefs Träume voraus. Er erzählte seinen Brüdern davon: »Er sprach zu ihnen: ›Hört doch nur den Traum, den ich hatte: Wir banden gerade Garben auf dem Feld, da richtete sich meine Garbe auf und blieb stehen, eure Garben aber stellten sich rings herum und warfen sich vor meiner Garbe nieder.‹ Da sprachen seine Brüder zu ihm: ›Willst du etwa König über uns werden, oder dich zum Herrn über uns machen? Und sie hassten ihn noch mehr wegen seiner Träume und wegen seiner Reden‹« (1. Buch Moses 37, 6-8).

Der Traum zeigt, dass es in der Familie zwei verschiedene Gruppen gab. Die Brüder und Josef standen sich gegenüber: auf der einen Seite er, der Auserwählte, – auf der anderen seine Brüder, das einfache Volk, seine Untergebenen. Warum gehen die Brüder nicht zu ihrem Vater und beschweren sich, bitten ihn um eine Aussprache? Sie hatten Angst und Respekt, da ihnen der besondere Bund zwischen ihrem Vater und G’tt bekannt war. Sie fürchteten sich davor, ihren Vater zu kritisieren. 

Andererseits sahen sie die Schuld auch nicht nur bei Josef allein. Was kann er dafür, dass sein Vater ihm eine Sonderstellung zuspricht? Doch in dem Moment, da Josef von seiner künftigen Führungsposition träumt, sehen die Brüder in ihm einen arroganten Menschen, der nach Macht strebt. Die Entschlossenheit, brutal gegen ihn vorzugehen, entstand nach Verkündung des Traums, denn das bestätigte ihnen, dass auch Josef von seiner Sonderstellung überzeugt war.

REDEN 

Wir haben bis jetzt den Vater und die Brüder betrachtet. Was dachten unsere Weisen über Josef? Im 1. Buch Moses 37,2 steht: »Dies ist die Geschichte der Nachkommen Jakovs: Josef war 17 Jahre alt, da hütete er mit seinen Brüdern die Schafe mit den Söhnen Bilhas und Silpas, der Frauen seines Vaters. Josef war noch kindlich und hinterbrachte ihrem Vater ihre bösen Reden.« 

Im Midrasch wird folgende Frage aufgeworfen: Er ist 17 Jahre und noch kindlich? Darauf antwortet der Midrasch: Sein Tun und Handeln war kindlich, er ordnete seine Haare, pflegte seine Augen und seinen Körper, legte viel Wert auf Äußerlichkeiten. Während seine Brüder schufteten, sorgte er sich um sein Aussehen. Dieses Verhalten schürte zusätzlichen Hass.

Josef erzählte seinem Vater alles und denunzierte damit seine Brüder. Der Midrasch schreibt, Josef habe seinem Vater gesagt, dass Leas Kinder sich abfällig über die Kinder der Mägde Bilha und Silpa geäußert und sie als Sklaven bezeichnet hätten. Der Midrasch kritisiert Josef als einen selbstverliebten und verräterischen Menschen.

Das Unglück, das ihm bevorsteht, die Grube, Ägypten, die Trennung von der Familie, ist ein Erziehungsprozess für ihn, um in der Zukunft einen Neuanfang zu gestalten. Er braucht diese schwere Zeit, um sich selbst zu formen und ein akzeptables Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Die böse Absicht, Josef zu töten, wurde letztendlich nicht ausgeführt. Aber trotzdem schreckte es unsere Weisen nicht ab, an all den beteiligten Parteien Kritik zu üben.

Nicht umsonst hat die Tora uns diese Geschichte so dargestellt. Aus Sicht der Weisen ist sie eine ewig aktuelle Mahnung und Anweisung. Wir ziehen daraus unsere Lehren für die Bereiche Familie, Erziehung und für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Einheit der Familie steht im Zentrum der jüdischen Religion. Unser Ziel muss es immer sein, nach Harmonie und Ausgeglichenheit in der Familie zu streben, denn sie ist das Fundament für die Zukunft. 

Der Inhalt vom Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, wie Josef – zum Ärger seiner Brüder – von seinem Vater Jakov bevorzugt wird. Zudem hat Josef Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. 

Eines Tages schickt Jakov Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef gerissen. Jakov glaubt ihnen. In der Sklaverei steigt Josef zum Hausverwalter auf. Nachdem ihn die Frau seines Herren Potifar der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort deutet er die Träume des königlichen Obermundschenks und des Oberbackmeisters.

1. Buch Moses 37,1 – 40,23
 
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen und Mitglied der ORD und verfasst Artikel für die Jüdische Allgemeine.

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