Süßes neues Jahr

Es gibt wohl kaum ein jüdisches Haus, das nicht auf irgendeine Weise den Ausspruch von Abaje einhält ...

4 Min.

Rabbiner Asri´el Ari´el

gepostet auf 06.04.21

Es gibt wohl kaum ein jüdisches Haus, das nicht auf irgendeine Weise den Ausspruch von Abaje einhält, am Neujahrstage allerlei Gewächse als gutes Vorzeichen zu essen: Kürbis (Kra), Fönnkraut (Rubia), Porree (Karti), Mangold (Ssilka) und Datteln (Tamre) (Horajot 12a), und in späteren Generationen fügte man den Apfel mit Honig dazu. Die meisten Leute messen dem eine hauptsächlich folkloristische Bedeutung zu, und manche Witzbolde tun sich durch besonderen Einfallsreichtum und auch Zynismus bei der Erfindung allerlei neuer Symbole hervor. Wer sich aber die Schriften jüdischer Größen in ihren Generationen näher vornimmt, wird schnell der Ernsthaftigkeit dieses Brauches gewahr werden.

Beginnen wir mit dem Kommentar des "Me'iri" (aus der Periode der Rischonim) zum Talmudtraktat Horajot. Er nahm diesen Brauch so ernst, daß er dabei die Übertretung des Verbotes der Zeichendeuterei befürchtete. Darum schrieb er: "Und damit man dabei nicht durch die Wege der Zeichendeuterei fehlgehe, wurde angeordnet, daß man dazu Dinge spreche, die zu bußfertiger Umkehr ermuntern. Über Kra spreche man 'werden unsere Verdienste vorgelesen', über Rubia 'mehren sich, die uns rechtfertigen', und über Karti 'mögen unsere Hasser abgetrennt werden' – will sagen: die Hasser der Seele, nämlich die Sünden, über Ssilka 'mögen unsere Sünden verschwinden', über Datteln 'mögen unsere Übertretungen aufhören'… Bekanntlich erfolgt dies alles zur Ermunterung; die Sache hängt nämlich nicht nur vom Aufsagen ab, sondern von der Umkehr (Tschuwa) und guten Taten".
 
Diese Symbole beeinflussen die Realität nicht auf direktem Wege, so der "Me'iri", sondern über die Persönlichkeit des Menschen. Der Mensch, der durch sein prinzipientreues und moralisches Verhalten eine neue Seite seines Lebens aufschlägt, kommt dadurch in den Genuß einer anderen göttlichen Lenkung, soweit es ihn angeht. Seine Hauptaufmerksamkeit sei auf sein Innenleben gerichtet, auf die Änderung seines Charakters – das ist es, was im Endeffekt die Lebensrealität dieses Menschen umgestalten wird. Darum heißt es im Namen der Kabbalisten, man solle beim Sprechen des "jehi razon" [über den Apfel usw., s.u.] Gedanken der Tschuwa im Sinn haben (Kaf Hachajim).
 
Einen noch tieferen Sinn können wir dem Kommentar des MaHaRaL ("hohe Rabbi Löw") aus Prag entnehmen, der sich mit der Diskrepanz zwischen der göttlichen Lenkung und dem menschlichen Verhalten beschäftigt. Die göttliche Lenkung hält dem Menschen viele Dinge bereit, die allerdings nicht unbedingt in die Wirklichkeit umgesetzt werden, aber nicht, weil sie dessen nicht würdig wären, sondern weil der Mensch mit seinen Taten G~tt "behilflich" sein muß und mit seinen Aktivitäten den Erhalt des Segens erst ermöglicht. Manchmal werden von ihm große Taten verlangt, und manchmal nur eine geringfügige Vorbereitung wie die Öffnung von der Größe eines Nadelöhrs.
 
Das Essen der "Zeichen" an Rosch Haschana trägt ein wenig bei zur Öffnung des Menschen zum Erhalt einer neuen, anderen göttlichen Lenkung als die des vergangenen Jahres. Nicht der Apfel und der Honig bewirken diese Öffnung, sondern das Bewußtsein des Menschen, seine Hoffnungen, sein Willen und seine Gebete sind es, die der Realität eine neue Gestalt geben.
 
Wir sind keine Materialisten, die die ganze Welt nur mit materialistischen Augen sehen. Wir glauben, daß nicht das Stoffliche den Geist beherrscht, sondern der Geist das Stoffliche. Wir wissen, daß nicht nur die Wirklichkeit das Bewußtsein des Menschen formt, der sie betrachtet, sondern auch das Gegenteil zutrifft; das spirituelle Bewußtsein des Menschen hat die Kraft, die materielle Wirklichkeit und die Handlungen des Menschen zu formen, indem sie eine Öffnung für das Erscheinen des göttlichen Segens schafft.Übrigens treffen diese Dinge nicht nur für das Gute, sondern auch für das Schlechte zu. Darum warnten uns die talmudischen Weisen, dem "Satan" keine Vorwände durch unüberlegtes Gerede zu liefern, was dem Bösen, Fluch, Verbrechen und Leiden Tür und Tor öffnet.
 
In der Rosch Haschana-Nacht sitzt jeder Jude an seinem Tisch zuhause, sein Herz voller Vertrauen auf die Möglichkeit, die bittere Wirklichkeit könne sich zum Besseren hin ändern. Er erhebt sich über die Tiefen der Verzweiflung, die Kapitulation vor seinen persönlichen Schwächen und die Mißstände in der Welt und in der Gesellschaft. Er füllt sich mit der Hoffnung – und damit auch mit dem Glauben – daß das Schicksal des Menschen, der Nation und der Welt sich zum Bessern ändern können und werden. Er weiß, daß die Größe der Kraft des Glaubens, die Wirklichkeit zu formen, gerade in den Taten zum Ausdruck kommt.
 
Auch wenn es sich nur um eine kleine Tat handelt, wird sie nicht ohne Wirkung bleiben. Manchmal wird nur durch sie eine Öffnung für eine andere göttliche Lenkung geschaffen. Und manchmal zieht eine kleine Tat eine etwas größere nach sich, und viele Tropfen finden sich zu einem gewaltigen Strom zusammen.
 
Lassen wir uns im großen Glauben das in Honig getauchte Apfelstück halten, in der Nacht des neuen und anderen Jahres, und mit großer Konzentration dieses Gebet sprechen: Möge es dein Wille sein, Ewiger, unser G~tt und G~tt unserer Väter, uns ein gutes und süßes Jahr zu erneuern!".
 
HALACHA: An Rosch Haschana ist es üblich, das Brot statt in Salz in Honig zu tunken, als Zeichen für ein süßes neues Jahr. Bei der Abendmahlzeit tut man desgleichen mit einem Stück Apfel, über den allerdings vorher der Segensspruch "bore pri ha'ez" zu sagen ist, obwohl man schon Brot gegessen hat(!), und nach dem Verzehr: "jehi razon melifanecha adonai elohenu w'elohe awotenu, schetechadesch alenu schana towa umetuka" [Sei es der Wille vor Dir, G~tt, unser G~tt und unserer Väter G~tt, uns ein gutes und süßes neues Jahr zu geben]. Dieses kleine Gebet ist dabei die eigentliche Hauptsache, nämlich die Anregung zum Nachdenken über die Gegenleistung für die Dinge, die man sich von G~tt erbittet. Darum kann man dem Apfel noch weitere Symbole hinzufügen, zum Beispiel: Datteln [Tamar] – "Jehi
razon… awotenu, schejitamu ssonenu we'ojwenu" […daß unsere Hasser und Feinde zuendegehen]; Granatapfel (wegen der großen Zahl seiner Fruchtkerne) – "…sche'nirbe s'chujot kerimon" […daß sich unsere Verdienste mehren wie (die Kerne) eines Granatapfels]; Fische – "…schejifru wejirbu kedagim" […wie Fische fruchtbar zu sein und sich zu mehren]. Die Bereitung von sauren oder bitteren Speisen ist zu vermeiden… (Schulchan Aruch/Mischna Brura §583, Kizur Schulchan Aruch §129, 9)
 
 
Quelle des Artikels: Kimizion

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