Tanzstunde

Zum Vers "In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage" (Lev. 23,42) erklärten die talmudischen Weisen: …

4 Min.

Rabbiner Lior Engelmann

gepostet auf 06.04.21

Tanz der Toragelehrten

"Und David tanzte mit aller Kraft vor dem Ewigen, und David war umgürtet mit einem leinenen Efod. Und David und das ganze Haus Israel brachten die Lade des Ewigen hinauf mit Jubel und Schofarklang. Und als die Lade des Ewigen in die Stadt Davids kam, da schaute Michal, Tochter Scha'uls, aus dem Fenster und sah den König David hüpfen und tanzen vor dem Ewigen, und sie verspottete ihn in ihrem Herzen… Und David kehrte zurück, sein Haus zu segnen. Da ging Michal, Tochter Scha'uls, hinaus dem David entgegen und sprach: Wie verherrlicht hat sich heute der König von Israel, der sich heute vor den Augen der Mägde seiner Knechte gezeigt hat wie sich nur einer der Niedrigen zeigen kann. Da sprach David zu Michal: Vor dem Ewigen, der an mir mehr Gefallen fand als an deinem Vater und an seinem ganzen Hause, mich zum Fürsten über das Volk des Ewigen über Israel zu bestellen – so hab' ich denn getanzt vor dem Ewigen! Und hätte ich mich auch noch geringer gezeigt als so, dass ich niedrig wäre in meinen Augen, doch bei den Mägden, von denen du sprichst, bei ihnen würde ich mich verherrlichen" (Schmu'el II, 6.Kap., 14-16, 20-22).
 
"Beruhigt fürwahr und gestillt meine Seele hab ich wie ein entwöhntes Kind an seiner Mutter (Psalm 131,2) – so wie dieses Kleinkind sich nicht schämt, sich vor seiner Mutter zu entblößen, so habe ich meine Seele vor dir beruhigt, dass ich mich nicht schämte, mich vor dir zu erniedrigen" (Midrasch Bemidbar raba 4,20).
Zweimal im Jahr feiern wir unsere besondere Verbindung zur Tora, an Schawuot (Wochenfest) und an Simchat Tora. Diese beiden Festtage unterscheiden sich auf extreme Weise. An Schawuot feiern wir mit Lernen, und an Simchat Tora – mit Tanzen. Die Tatsache an sich, die Tora erhalten zu haben, feiern wir, ohne uns ein bisschen Schlaf zu gönnen, und bringen damit die überwältigende Sehnsucht zum Ausdruck, neues Leben aus ihr zu schöpfen. An Schemini Azeret/Simchat Tora, zum Abschluss des Lehrjahres, fangen wir an zu tanzen. Wir lernen nicht an diesem Tage, wie veranstalten keine Repetitionen, wir tanzen einfach Ringelreihen. 
 
Schawuot, das Fest, das den Beginn des Weges markiert, ist besonders denen angenehm, die das Bet Midrasch bevölkern. Jenen, die auf die Bänke des Lehrhauses abonniert sind, bereitet das Untertauchen im Meer der Tora keine Schwierigkeiten, selbst mitten in der Nacht nicht. Gerade Simchat Tora, das eigentlich ihr Hauptfest sein sollte, das Fest, das die spirituellen Mühen des Jahres abschließt, entpuppt sich als eine gar nicht so kleine Herausforderung. Würde Schemini Azeret mit wunderbaren Lehrvorträgen und der intensiven Ergründung komplizierter talmudischer Abschnitte gefeiert werden, welch' süßes Fest wäre es, doch unsere Weisen ordneten stattdessen an, Arme und Beine auszurecken, zu springen und zu hüpfen, zu singen und zu trällern…
 
Den Toragelehrten fällt das Tanzen schwer. Tora lernt man mit kühler Überlegung und ausgeruhtem Kopf, und sie fördert den Scharfsinn und ein Gefühl der Verantwortung. Das Lehrhaus ist kein Tanzclub, es dient dem geistigen Aufbau der Welt und lässt keinen Raum für Ringelreihen und Dreivierteltakt. Das Lehrhaus entwickelt die Würde des Menschen, "Ehre besitzen die Weisen" (Sprüche 3,35), und Tanzen gehört normalerweise nicht zu den ordentlichen Manieren. Während des Tanzens sitzt die Kleidung nicht so richtig, die ruckartigen Bewegungen können Spott hervor rufen, und überhaupt gehört das Tanzen eher in die Welt der einfachen Leute. Das Tanzen fällt den mit der Toramühe Beschäftigten schwer, weil es ein Ausdruck spontaner Freude ist, wohingegen das Torastudium den Verstand auf Kosten des Gefühles ausbaut… Sie würden lieber mit Verrenkungen des Gehirns als mit Verrenkungen von Armen und Beinen feiern.
 
Das Tanzen als Prüfstein
 
Am Ende jeder Lerneinheit gibt es Prüfungen, so ist es an jeder Schule üblich. Endlich lohnt es sich, den während des Studienjahres aufgenommenen Stoff zu testen. Wäre die Tora bloß eine Sammlung logischer Informationen, wäre eine Wissensprüfung am Platze. Nun ist unsere Tora aber eine Lehre des Lebens. Das große Tanzen an Simchat Tora bedeutet nicht nur ein Feiern, sondern auch einen gewaltigen Spiegel, der jeden Toraschüler mit dem vergangenen
Studienjahr konfrontiert, ein Spiegel, der ihm den Inhalt der Tora offenbaren soll, die ihm vergönnt war.
 
Es ist wohl wahr, dass man der Tora allein auf der Ebene des Verstandes begegnen kann. Man kann sich eine kalte, sachliche, genaue und pedantische Tora aneignen, doch damit auch eine statische, eingefrorene. So eine Tora blockiert die Weiten des Gefühles, neutralisiert alle außerverstandesmäßigen Kräfte. So eine Tora weiß zu erklären und zu erläutern, zu fragen und zu antworten, doch weiß sie nicht zu beleben und zu begeistern, sie berührt nicht die tieferen Ebenen des Lebens. Wir mögen großartige Predigten über die Freude halten können und wissen in erhellender Weise den Platz des Herzens beim Dienst an G~tt zu beschreiben – doch unsere Tora weiß nichts vom Tanzen. Wir sind nicht zum Rundtanz fähig, weil unsere einfachen und natürlichen Kräfte im Staub der Spitzfindigkeiten erblühten. Der lebendige und fröhliche Tanz erzählt von der lebendigen Verbindung zur Tora, die alle Kräfte der Seele umfasst.
 
Richtig, "Ehre besitzen die Weisen", und ein Toragelehrter muss sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass man ihn wegen der Würde der Tora ehrt, nur manchmal verschwimmt der Unterschied zwischen Würde der Tora und Würde des Gelehrten. Manchmal erwirbt sie sich einen festen Platz in seinem Lebenswandel und verlässt den Rahmen des notwendigen Übels, das der Toragelehrte zu ertragen hat. Den Prüfstein bildet die Frage, wenn die Torawürde und die Würde des Toralernenden sozusagen kollidieren. Beim Tanzen an Simchat Tora offenbart sich das Verhältnis seiner Seele zur Tora. Wenn sein ganzes Lernen G~tt und dessen Ehre galt, fällt ihm der Auszug zum Tanz zu Ehren G~ttes leicht. Genau das sagte David seiner Frau Michal – wundere dich nicht über die unerträgliche Diskrepanz zwischen meiner Würde als König und meiner Erniedrigung während des Tanzens – ich tanze "vor G~tt", denn all meine Würde stammt von seiner. Der einfache Tanz von Simchat Tora, bei dem sich der Mensch manchmal nicht entsprechend seiner regulären Würde offenbart, bedeutet die wahre Würde, die jenen Menschen offenbart, der trotz seiner Größe als Toragelehrter nicht seine Würde mit der des Himmels verwechselt.
 
Sicher gehört das tanzen in die Welt der Kinder, die Welt des Lachens und des Spielens. König David wusste alle Schalen der Würde abzuschälen, das erstickende Erwachsensein, und wie ein Kind zu hüpfen: "..so hab' ich denn getanzt vor dem Ewigen" – "wie ein entwöhntes Kind an seiner Mutter (Psalm 131,2) – so wie dieses Kleinkind sich nicht schämt, sich vor seiner Mutter zu entblößen, so habe ich meine Seele vor dir beruhigt, dass ich mich nicht schämte, mich vor dir zu erniedrigen" (s.o.).
 
 

 

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