Der Eifer der Toren

Fanatismus und Anatismus - Wer Menschen tötet und sich dabei auf G’tt beruft, der irrt.

4 Min.

Rabbiner Reuven Konnik

gepostet auf 17.03.21

Fanatismus und Anatismus – Wer Menschen tötet und sich dabei auf G’tt beruft, der irrt

 

Es ist schwierig, das Töten für einen guten Zweck zu rechtfertigen. Zu viel Blut ist in den vergangenen Wochen und Monaten geflossen – Blut von Menschen, die in den Augen von Terroristen »Sünder« oder »Ungläubige« waren. Der islamistische Hass greift die Gesellschaft an – nicht nur in Europa oder Amerika, sondern auf der ganzen Welt. Die Welt ist ein anderer Ort geworden, und jeder neue Anschlag verursacht Wut, Beklemmung und Angst.

 

Aufregend ist, sich in dieser beunruhigenden Zeit mit der Tat von Pinchas ben Elasar zu beschäftigen. Der tötete den lüsternen Simri und die Midianiterin Kosbi (4. Buch Mose 25) und wurde dafür durch g’ttliches Dekret belohnt: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Pinchas, der Sohn von Elasar, der Sohn von Aharon, dem Kohen, hat Meinen Grimm von den Kindern Israel abgewendet, indem er an Meiner statt in ihrer Mitte seinen Eifer betätigte, sodass Ich die Kinder Israels nicht in meinem Eifer aufgerieben habe. Ich gebe ihm durch Meinen Bund mit ihm Frieden. Dieser Bund soll ihm und seinen Nachkommen nach ihm das Priestertum auf ewig sichern, dafür, dass er für seinen G’tt geeifert und den Kindern Israels Sühne erwirkt hat« (25, 10–14).

 

An dieser Stelle ist nicht ganz klar, ob es sich um zwei getrennte Belohnungen handelt oder ob sie ein und dieselbe sind. Tatsächlich zeigt eine sorgfältige Lektüre der Verse, dass zwei getrennte Versprechen aufgezählt werden: »Bund des Friedens« und die Kehuna, das ewige Priestertum.

 

Beides bekommt Pinchas freilich nicht zufällig. Frieden gibt es nur, weil alle, die sich laut Raschi (1040–1105) mit Mordabsicht auf Pinchas stürzen wollten, an einer grauenvollen Seuche zu Grunde gehen. Und der Segen der Kehuna legt sich wie ein strahlender Schutzpanzer über Pinchas, sodass keine Zweifel daran bestehen, wie G’tt dessen Tat bewertet.

 

 

FRIEDEN

 

Vom spezifischen Moment abgesehen, sind der Bund des Friedens (Brit Schalom) und der des Priestertums (Brit Kehuna) ganz klar miteinander verbunden. Denn die Priester segnen das Volk letztendlich mit Schalom, Frieden (6, 24–26).

 

Priestertum und Frieden gehen also Hand in Hand. In Awot 1,12 sagt Hillel, ein Mensch solle sein wie ein Nachkomme Aharons: friedliebend, rechtschaffen und liebevoll; jemand, der seinen Mitmenschen die Werte der heiligen Tora näherbringt.

 

Nun wird es spannend, denn diese Worte können nur bedeuten, dass Pinchas um des Friedens willen tötete. Ganz anders als Aharon selbst, der beinahe stillschweigend die Entstehung des Goldenen Kalbs beobachtete und damit quasi die Wahrheit um des Friedens willen opferte, nur um kein Blutvergießen zu provozieren.

 

Pinchas’ Weg führt genau in die entgegengesetzte Richtung: Er opfert zunächst den Frieden um der Wahrheit willen. Selbstlos und furchtlos wie Aharon, doch vollkommen anders.

 

 

KOMMENTARE

 

Die traditionellen Kommentatoren sind in Bezug auf die Bedeutung des Bundes der ewigen Kehuna durchaus geteilter Meinung. Raschi erklärt, dass Pinchas ursprünglich überhaupt kein Kohen war und erst nach der höchst umstrittenen Tat gesalbt wurde.

 

Wie wunderlich verzwickt das Schicksal eines Menschen sein kann, zeigt gerade hier der Umstand, dass Pinchas, obwohl er Enkel und Sohn von Kohanim war, tatsächlich von allen Ehren ausgeschlossen war. Denn sein Großvater und Vater wurden erst nach seiner Geburt zu Kohanim ernannt (2. Buch Mose 28ff). Dadurch war er von allen Ehren ausgeschlossen, die es mit sich bringt, ein Kohen zu sein.

 

Eine Reihe von Kommentatoren ist da anderer Meinung. Abraham Ibn Ezra (1089–1167) erklärt, dass Pinchas bereits ein Kohen war, ganz genauso wie sein Vater und sein Großvater. Die Bedeutung des Verses sei, dass der Bund, der damals geschlossen wurde, Pinchas und seinen Nachkommen die herausragende Stellung des Hohepriesters (Kohen Gadol) zusprach.

 

Einen neuen Ansatz zeigt uns Rabbi Jehuda ben Elieser, der Riva (14. Jh.), im Namen von Rabbi Mosche ben Jacob von Coucy, dem Smag (13. Jh.): Das jüdische Gesetz besagt, dass ein Kohen, der tötet, sofort dienstuntauglich wird. Daher müsste Pinchas in dem Augenblick, als er das sündhafte Paar mit einem Schwert durchbohrte, als Kohen disqualifiziert worden sein. Nur das Eingreifen G’ttes in Form einer Verheißung der ewigen Kehuna rettete ihn davor.

 

Aharons Erhabenheit beruhte also auf der Bereitschaft, die Wahrheit um des lieben Friedens willen zu opfern. Im Wesentlichen bringt jeder Kohen bei Opferungen die Wahrheit ins Wanken. Denn durch Opfer werden böse Taten gesühnt, das heißt, in gewisser Weise wird die Wahrheit – das, was wirklich geschehen ist – im Interesse der Versöhnung und im Interesse des Friedens geopfert.

 

In einer Welt der absoluten Wahrheit sollte jede Sünde gerecht bestraft werden. Die Idee der Reue und der Vergebung ist der Idee von Recht, Ordnung und Strafe entgegengesetzt. Aus dem Talmud (Jeruschalmi Makot 7a) und dem Midrasch (Jalkut Schimoni Jechezkel 358) erfahren wir jedoch, dass das Universum nur dann zu erhalten ist, wenn das Prinzip des Friedens über die Wahrheit gestellt wird. Man könnte es den Preis für unsere menschliche Existenz nennen, wenn die Wahrheit manchmal mit Füßen getreten wird.

 

Doch Pinchas verkörpert Wahrheit. Er wollte und konnte nicht zusehen, wie ein Fürst desVolkes vor allen Augen Götzendienst ausübte. Er handelte deshalb mit Gewalt, zerstörte das Gleichgewicht, brach den Frieden.

 

 

MORD

 

Jeder wird zugeben, mehr als nur einmal von Situationen geschockt worden zu sein, in denen respektierte Individuen plötzlich die Maske fallen lassen, und das ganze Ausmaß an Falschheit, Lüge und Verdorbenheit zutage tritt. Wie viel Mut muss ein Mensch aufbringen, um eine solche Person anzugreifen, wenn alle anderen nichts dagegen unternehmen – oder gar vorgeben, nichts zu bemerken?

 

Jedoch ist es äußert wichtig, sich vom Morden zu distanzieren. Im Namen G’ttes Menschen umzubringen, ist eine uralte Strategie derer, die in den Fanatismus abgerutscht sind. Auch weil uns das fünfte der Zehn Gebote das Morden klar verbietet, kann uns die Tat von Pinchas kein Beispiel sein.

 

Nicht nach unseren Ansichten und Meinungen werden wir gerichtet, sondern nach den Geboten. Wenn wir jemanden nicht mögen, ist es uns nicht nur verboten, die Person zu ermorden. Wir dürfen sie auch nicht benachteiligen. Und außer in Ausnahmesituationen dürfen wir über die Person nicht einmal ein schlechtes Wort sagen.

 

Aber eines lehrt uns Pinchas’ Tat: auch dann nach Wahrheit zu suchen, wenn alle anderen um uns herum Falschheit, Verdorbenheit und Egoismus für selbstverständlich halten und wegschauen, als ob sie nichts bemerken würden. Und zu welchem Zweck? Um des lieben Friedens willen. Aber in einer falschen Welt, mit verdrehten Werten, doppelter Moral und selbstverständlichem Lügen wird wahrer Frieden niemals existieren können.

 

 

Der Rabbiner ist Mitglied in der ORD. Der Artikel ist aus: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung.

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