Nur nicht hängen lassen

Der Mensch neigt zur Bequemlichkeit. Die Tora erklärt, warum ihm das nicht gut tut...

3 Min.

Rabbiner Benjamin Kochan

gepostet auf 04.04.21

Der Mensch neigt zur Bequemlichkeit. Die Tora erklärt, warum ihm das nicht gut tut

Einer der wichtigsten Aspekte unseres Wochenabschnitts ist der Mischkan. Er war das transportable Heiligtum der Israeliten bis zur Zeit von König David und seinem Sohn, König Salomo, der den ersten Tempel errichtete. Der Mischkan war ein Ort, an dem Opfer dargebracht wurden, und insbesondere auch ein Ort der Begegnung mit G’tt.

 

Gleich zu Beginn des Wochenabschnitts gibt G’tt Mosche die Anweisung, von den Kindern Israels die Materialien einzusammeln, die man für den Bau des Mischkans braucht: »Und dies ist die Hebe (die Abgabe), die ihr von ihnen nehmen sollt: Gold und Silber und Kupfer; und purpurblaues und purpurrotes und karmesinfarbenes Garn und Byssus und Ziegenhaare; und rot gefärbte Widderfelle und Tachaschfelle und Akazienholz; Öl zur Beleuchtung, Gewürze zum Salböl und zum Räucherwerk von Spezereien; Schohamsteine und Steine zum Einsetzen für den Obermantel und den Brustschild« (2. Buch Mose 25, 3–7).

 

STEINE

 

Der Or HaChajim, Rabbiner Chajm ben Mosche ibn Attar (1696–1743) aus Marokko, weist in seinem gleichnamigen Torakommentar darauf hin, dass die Reihenfolge, in der die Materialien zu Mosche gebracht wurden, schwer nachzuvollziehen ist. Die Schohamsteine und die Steine zum Einsetzen für den Obermantel sind die wertvollsten Elemente in der Liste aller Materialien. Man würde erwarten, dass sie zuerst genannt werden. Warum aber werden sie zuletzt erwähnt? Der Or HaChajim erklärt dies mit einem Midrasch, der uns über den geschichtlichen Hintergrund der wertvollen Steine informiert.

 

Demnach seien die Schohamsteine erst dann zu Mosche gebracht worden, als man alle anderen Materialien bereits beisammen hatte. Der Plan der Nessim, der Oberhäupter der Stämme, deren Aufgabe es war, die Steine zu überreichen, war es, abzuwarten, bis alle anderen im Volk ihre Spende gebracht hatten. Falls dann noch etwas fehlen sollte, würde dies von den Nessim hinzugefügt und zu Mosche gebracht werden. Allerdings lief es anders als erwartet: Die Menschen brachten voller Begeisterung alles, was Mosche ihnen genannt hatte.

 

Der Midrasch erzählt weiter, dass G’tt mit den Stammesoberhäuptern sehr unzufrieden war, weil sie ihre Spende hinausgezögert hatten. Der Or HaChajim erklärt weiter, dass die wertvollen Steine durch das Hinauszögern der Nessim ihre spirituelle Komponente verloren hätten. Das sei der Grund dafür, dass sie als Letztes in der Liste der Materialien erwähnt werden.

 

FEHLER

 

Der Grund dafür, dass die Nessim ihre Spende so spät brachten, scheint logisch zu sein: Sie wollten abwarten, wie viel zusammenkommt und wie viel noch hinzuzufügen ist. Dann könnten sie alle Materialien zusammen zu Mosche bringen und müssten nicht mehrmals laufen.

 

Warum verurteilte Haschem die Nessim für diese harmlose Fehleinschätzung? Die Antwort auf diese Frage gibt uns Raschi (1040–1105). Er sagt, Haschem sei mit ihnen unzufrieden gewesen, weil sie faul waren. Sie hätten die Steine sofort bringen können. Und nachdem alle anderen ihre Spenden übergeben hatten, hätten sie die fehlenden Materialien bringen können.

 

Aus diesem kurzen Raschi-Kommentar kann man ersehen, warum die Nessim die wertvollen Steine erst zum Schluss brachten. Die Begründung ihrer Handlungen lag in einer menschlichen Eigenschaft, der Faulheit. Sie wollten lieber nur einmal laufen statt zweimal.

 

SCHLÜSSE

 

Wir können aus diesem Aspekt des Wochenabschnitts auch Schlüsse für unser eigenes Tun ziehen. Worauf sollten wir achten, wenn wir Entscheidungen treffen? Wir überlegen, was sind die Argumente dafür und was die Argumente dagegen, und dann treffen wir eine Entscheidung. Neben den Argumenten sollten wir jedoch auch auf unsere inneren Triebe achten. Denn die spielen bei der Entscheidungsfindung möglicherweise auch eine Rolle.

 

Man muss sich ihrer im Leben immer bewusst sein – ganz besonders, wenn man eine Entscheidung trifft. Jeder Mensch sollte sich fragen, ob sie nicht auch durch einen seiner Charakterzüge beeinflusst wurde. Jeder kennt Situationen, in denen man sich sagt: »Das ist zu kompliziert für mich, das schaffe ich nicht«, oder: »Das kann ich niemals erreichen«. Es mag nicht immer so sein, dass man dies aus Faulheit sagt, aber oft ist es der Fall. Man sucht eine Ausrede, um irgendetwas nicht tun zu müssen. Dabei verzichtet man womöglich auf Erfolge, nur weil man ein bequemeres Leben haben möchte.

 

Wenn wir wichtige Entscheidungen zu treffen haben, dann sind wir mit dem gleichen Problem wie die Nessim aus unserem Wochenabschnitt konfrontiert. Zum Beispiel: Will ich heiraten und eine Familie aufbauen, oder zieht dies zu viele Pflichten nach sich und könnte meiner Karriere schaden? Sollte ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen, oder werden meine Frau und die Kinder verstehen, dass ich meiner Karriere zuliebe fast nie zu Hause bin?

 

Es gibt immer Argumente, die für oder gegen etwas sprechen. Doch sollte man dabei seine inneren Triebe und Charaktereigenschaften im Blick haben, denn sie steuern uns. Wenn man das nicht versucht, dann verliert man vielleicht und erreicht Dinge nicht, die man sonst hätte erreichen können. Diese Gefahr bezieht sich sowohl auf materielle als auch auf spirituelle Dinge. Der bequemere Weg führt meist nicht zum Erfolg.

 

Der Autor ist Rabbiner und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD). Dieser Artikel erschien auch in der Jüdischen Allgemeinen.

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