Was zusammengehört

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist von Anfang an mit dem Land Israel verbunden ...

4 Min.

Rabbiner Jaron Engelmayer

gepostet auf 05.04.21

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist von Anfang an mit dem Land Israel verbunden
 

Vor etwa 15 Jahren nahm ich an Ferienlagern der Sochnut, der Jewish Agency, in den Staaten der früheren Sowjetunion teil. Beim Vorbereitungsseminar für die Madrichim (Jugendleiter) in Israel wurde unter anderem darüber diskutiert, wann in der Geschichte die Beziehung des jüdischen Volkes zum Land Israel begonnen hat.

 

Einige meinten, dass sie erst vor etwas mehr als 100 Jahren mit dem modernen Zionismus eingesetzt habe – davor gebe es keine relevante Geschichte, die man den Jugendlichen vermitteln müsse.

 

 

SELBSTVERSTÄNDNIS

 

Wann, wo und wieso unsere Verbindung mit dem Staat Israel ansetzt, hat sehr verschiedene Hintergründe. Auch hierzulande gehören die Solidarität und eine enge emotionale Verbindung mit Israel zum Selbstverständnis sowohl des Zentralrats der Juden als auch der meisten jüdischen Gemeinden.

 

Bei manchen stecken persönliche Beweggründe hinter dieser besonderen Verbindung: Sie haben Familie oder Freunde in Israel. Bei anderen sind es ethnische Motive: Sie identifizieren sich als Juden mit dem einzigen jüdischen Staat der Welt. Hinzu kommt geschichtliche Verbundenheit: Die Geschichte unserer Vorväter und die der Israeliten zur Zeit der Tempel bis nach deren Zerstörung spielte sich in Israel ab. Mitunter wird bei der besonderen Verbindung mit Israel auch daran gedacht, dass das Land eine mögliche Zuflucht für den Extremfall ist. Dies liegt in der Schoa und in dem sich ausbreitenden Antisemitismus in Europa begründet.

 

Darüber hinaus reicht die Bedeutung Israels für Juden aber noch viel weiter und findet ihren Ausdruck im Gebet für den Staat Israel. Es wurde von Israels Oberrabbinat verfasst und wird in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland in jedem Schabbatg’ttesdienst gesprochen. Es beginnt mit den Worten »Awinu schebaschamajim«: »Unser himmlischer Vater, Fels Israels und sein Erlöser, segne den Staat Israel, den ersten Spross unserer Erlösung …«

 

Besonders bemerkenswert ist hier die Bezeichnung Israels als »erster Spross der Erlösung«. Nach jüdischem Verständnis gibt es die Erlösung (Ge’ula) in zweifacher Form: die Erlösung aus Ägypten und die künftige Erlösung. Für beide finden wir einen »Stufenplan«, und in beiden nimmt das Land Israel eine zentrale Rolle ein.

 

 

ELIJAHU

 

Über die Erlösung aus Ägypten lesen wir zu Beginn des Wochenabschnitts von drei Stufen, auf die an Pessach die vier Weingläser und das zusätzliche Glas des Propheten Elijahu hindeuten.

 

Der erste Schritt beinhaltet die Befreiung von der Unterjochung durch die Ägypter und die physische Entstehung eines freien Volkes. Für die dafür verwendeten Ausdrücke stehen die ersten drei Weingläser. »Deshalb sage den Kindern Israels: Ich bin G’tt! So werde Ich euch von den Lastarbeiten Ägyptens wegführen, werde euch aus ihrer Arbeit erretten und mit ausgestrecktem Arm und mit großen Strafgerichten erlösen« (2. Buch Mose 6,6).

 

Im zweiten Schritt wird das freie Volk zum Volk G’ttes und erhält einen geistigen Inhalt in Form der Tora und ihrer Gebote: »Und Ich werde euch Mir zum Volk nehmen, und Ich werde euer G’tt sein, und ihr sollt wissen, dass Ich der Ewige, euer G’tt bin, der euch von den Lastarbeiten Ägyptens herausgeführt hat« (2. Buch Mose 6,7). Hier besteht eine verbale Anlehnung an die Zehn Gebote, die sowohl symbolisch für die Übergabe der Tora stehen als auch den Kern aller Gebote enthalten. Diese Phase spiegelt sich im vierten Glas Wein wider.

 

Im dritten Schritt sollen der Einzug und die Besiedlung des verheißenen Landes den Bund vervollkommnen: »Und Ich werde euch in das Land bringen … und werde es euch zum Besitz geben, Ich bin der Ewige« (2. Buch Mose 6,8). Es ist das Land, das unter der direkten Aufsicht und speziellen Einwirkung G’ttes steht. Hier ist der direkte Kontakt zum Ewigen möglich, denn da ist das Volk Israel in der Nähe G’ttes. Das schreibt Nachmanides, der Ramban (1194–1270), in seiner Drascha zu Rosch Haschana.

 

Diese Idee wird im Talmud noch stärker formuliert: »Wer im Ausland wohnt, gleicht einem G’ttlosen« (Ketuwot 110b). Für diese Phase steht nach manchen Meinungen das fünfte Weinglas, das dem Propheten Elijahu, dem Verkünder der Erlösung, gewidmet ist.

 

Die Stufen 2 und 3 machen deutlich, dass der Auszug aus Ägypten keine zufälligen Befreiung war, sondern zu einer planmäßigen Erlösung führte.

 

 

BEFREIUNG

 

Auch für die zweite Erlösung, die künftige, wird ein ähnlicher Stufenplan beschrieben. Wir finden ihn im Buch Jecheskel 37, 21–28.

 

Zwischen den beiden Erlösungen lassen sich einige Vergleiche ziehen. In 37,21 lesen wir: »So spricht der Ewige, G’tt: Siehe, Ich nehme die Kinder Israel aus den Völkern heraus, wo sie hingegangen sind.« Wir entdecken hier den Auszug und die physische Befreiung, dieses Mal vom Joch des Exils, was der ersten Stufe des Auszugs aus Ägypten entspricht.

 

In 37, 21–22 lesen wir: »Und Ich werde sie von allen Seiten sammeln und sie auf ihren Boden bringen. Und Ich werde sie zu einem Volke im Lande machen.« Die Versammlung im Land Israel und die Vereinigung des jüdischen Volkes bilden die Parallele zur dritten Stufe der Erlösung aus Ägypten. In diesen Jahren hier und jetzt erleben wir, wie sich das jüdische Volk in Israel sammelt und inzwischen vielleicht bereits die Mehrheit des Judentums ausmacht. Dies ist möglicherweise die Erfüllung dieser Prophezeiung, worauf auch das eingangs genannte Gebet für den Staat Israel hindeutet: erster Spross unserer Erlösung.

 

Ein weiterer Vergleich zwischen den beiden Erlösungen lässt sich in Jecheskel 37, 23–27 ziehen: »Und Ich werde sie reinigen, und sie werden Mir ein Volk sein, und Ich werde ihnen G’tt sein …, und sie werden mit meinen Rechten gehen und meine Gesetze hüten und sie ausüben …, und Ich werde mit ihnen den Friedensbund schließen … und mein Heiligtum in ihre Mitte geben auf ewig …, und Ich werde ihnen G’tt sein.«

 

Hier entdecken wir die zweite Stufe wieder: die geistigen Inhalte, die das Volk begleiten und ausmachen. Diese Phase beinhaltet die vollständige Wiederaufnahme der Tora und der Gebote. Das wird dem Volk den festen Frieden bringen und schließlich erneut das Heiligtum und die g’ttliche Präsenz inmitten des Volkes.

 

 

WELTFRIEDEN

 

An dieser Stelle jedoch ist die künftige Erlösung noch nicht abgeschlossen. Ein weiterer Schritt vervollständigt sie, und dadurch erreicht sie ihren Höhepunkt: »Und die Völker werden wissen, dass Ich, der Ewige, Israel heilige, wenn mein Heiligtum unter ihnen sein wird auf ewig« (37,28). Dadurch, dass die Völker G’tt und seinen Bund mit dem Volk Israel anerkennen, vervollkommnen die Völker den g’ttlichen Plan und bringen die mit der Erlösung verbundene und erhoffte Nebenwirkung: den Weltfrieden (Talmud Brachot 34b, Rambam Hilchot Melachim 12,2). Möge das bald eintreten.

 

Die Bedeutung Israels für das jüdische Volk hat also eine über die Geschichte des modernen Zionismus weit hinausreichende Dimension: vom geschichtlichen Echo des ersten Aufrufs G’ttes an Awraham und später an die versklavten Nachkommen in Ägypten, aus dem Exil nach Israel zu ziehen, hin zur prophetischen Vision einer künftigen Erlösung, deren Entwicklung wir vielleicht in unseren Tagen erleben.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen und Mitglied in der ORD. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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