Zum Wohle der Familie

Es gibt allgemein die Tendenz, den Mann, sowohl in körperlicher Hinsicht als auch bezüglich seiner Rechte, als stärker zu betrachten als die Frau. Sie wird für schwächer gehalten.

3 Min.

Rabbiner Avichai Apel

gepostet auf 17.03.21

NEDER

 

Der Ehemann darf manche Gelübde, die seine Frau abgelegt hat, für nichtig erklären. Ist das gerecht?
 

Es gibt allgemein die Tendenz, den Mann, sowohl in körperlicher Hinsicht als auch bezüglich seiner Rechte, als stärker zu betrachten als die Frau. Sie wird für schwächer gehalten, und ihr stehen angeblich weniger Rechte zu als dem Mann.

 

Doch auch die Fähigkeit des Menschen, zu sprechen, ist ein sehr wichtiges Recht. Die Tora (1. Buch Mose 2,7) schreibt: »Und es ward der Mensch zu einem Leben Atmenden (zu einer lebendigen Seele)«. Targum Onkelos übersetzt dies mit »zu einem sprechenden Geist«, das heißt: zu jemandem, der zu sprechen in der Lage ist.

 

Im Unterschied zu den übrigen Kreaturen ist der Mensch fähig, seine Gedanken, seine Gefühle, seinen Willen und vieles mehr in Worten auszudrücken. Bei Frauen ist diese Fähigkeit oftmals sogar stärker ausgeprägt als bei Männern. Die Gemara schreibt, dass zehn Maße Gespräch auf die Welt hinabgestiegen sind: Davon haben neun Maße die Frauen genommen, während den Männern nur ein Maß übrig blieb (Kidduschim 49b).

 

Die Fähigkeit, sich verbal auszudrücken, hat einen starken Einfluss auf unser Leben. In dem Maße, in dem das Sprechen uns von den übrigen Geschöpfen unterscheidet, können Worte in unserem Leben neue Situationen schaffen, wie schon König Schlomo sagte: »Tod und Leben sind in der Macht der Zunge« (Sprüche 18,21).

 

GERICHT

 

Ein ganz besonderes und verbindliches Wort ist der Neder, das Gelübde. Ein solcher Ausspruch kann das ganze Leben eines Menschen beeinflussen. Wenn jemand ein Gelübde ablegt, verpflichtet er sich zu einer bestimmten Handlung. Eine Person kann sich zum Beispiel zum Almosengeben verpflichten. Sie kann dies übrigens tun, ohne dass jemand dieses Gelübde gehört hat. Auch kann jemand geloben, an einen bestimmten Ort zu fahren oder von einer bestimmten Frucht nicht zu essen. Von solchen Gelübden kann man nur durch ein Gericht entbunden werden.

 

Erstaunlicherweise erlaubt die Tora aber dem Mann, ein Gelübde, das seine Frau abgelegt hat, für nichtig zu erklären. Deutet dies etwa darauf hin, dass das Wort einer Frau weniger schwer wiegt als das Wort eines Mannes? Ist es angemessen und würdig, den Mann – dem Augenschein nach – über die Frau zu stellen? Die Frau hat schließlich aus eigenem Willen und eigener Kraft ein Gelübde abgelegt. Warum darf es der Mann für nichtig erklären?

 

VERPFLICHTUNG

 

Das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau ist sehr kompliziert. Einerseits handelt es sich um zwei verschiedene, völlig separate Menschen. Andererseits sind sie die gegenseitige Verpflichtung eingegangen, zusammenzuleben. Das Eheleben wurde jedoch nicht eingerichtet, um die individuelle Persönlichkeit der Partner aufzuheben – im Gegenteil: Die Partnerschaft dient dazu, dass die beiden Partner einander ergänzen. Beide wirken am Aufbau des gemeinsamen neuen Lebens mit, dem Familienleben.

 

Wenn die Partnerin ein Gelübde ablegt, das nur ihren persönlichen Bereich betrifft, hat der Mann keine Möglichkeit, es zu annullieren. Die Mischna berichtet von zwei Arten von Gelübden, die der Mann auflösen darf. Nach der Meinung der Weisen »darf er jene Gelübde für ungültig erklären, welche die Seele quälen: Ob ich bade oder nicht bade, ob ich mich ziere oder nicht« (Nederim 79).

 

Die Schönheit und Reinheit der Frau sind demnach nicht ihre persönliche Angelegenheit. Sie betreffen das Eheleben. Es könnte sein, dass eine Frau auf ihren Mann zornig ist und ihn bestraft, sodass ihm das Zusammensein mit ihr unangenehm ist. Ein Zürnen dieser Art kommt nicht selten vor. An dieser Stelle jedoch sagt die Tora: Ein allzu leicht gesprochenes Wort kann dem Eheleben schaden. Deshalb obliegt dem Mann die Aufgabe, ein von seiner Frau ausgesprochenes Gelübde dieser Art sofort aufzuheben.

 

Rabbi Jossi erweitert die Diskussion auf das Gebiet des Wohlbefindens der Frau. Eine Frau, die sich das Gelübde aufgelegt hat, kein Obst mehr zu essen, schadet ihrer Gesundheit – ihr Mann kann das Gelübde deshalb aufheben. Bezieht sich das Gelübde jedoch nur auf eine bestimmte Herkunft von Früchten, aber Früchte anderer Herkunft isst sie, dann ist der Mann verpflichtet, ihr diejenigen Früchte zu bringen, an denen sie interessiert ist.

 

UNTERHALT

 

Der Mann darf keine Gelübde ablegen, die das Eheleben stören könnten. Er ist durch die Ketuba gegenüber seiner Frau zu Unterhalt, Kleidung, Ernährung und zum ehelichen Akt verpflichtet. Er hat keine Möglichkeit, ein Gelübde abzulegen, das ihm dies verbietet. Falls er zu seiner Frau sagt, dass ihm der Geschlechtsverkehr verboten sei, dann sind das leere Worte, denn er ist ihr zugesprochen für den Rest seines Lebens (Rambam, Nederim 12,9).

 

Wir sehen: Die Tora unterscheidet Persönliches vom Familienleben. Alle Belange aus der persönlichen Sphäre der Frau, ihre Entfaltung, Ausbildung, Karriere und alle übrigen Bereiche stehen ihrem Willen völlig frei. Doch gilt dies nicht für all das, was dem Eheleben Schaden zufügen kann. Denn die Tora sagt ganz klar: Das Familienleben ist von erhöhter Wichtigkeit.

 

Der Autor ist Rabbiner in der Jüdischen Gemeinde zu Dortmund und Mitglied in der ORD.
 

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