Mit den Augen des Anderen

Wie wir sehen werden, sind die männlichen und die weiblichen Aufgaben im Judentum genau beschrieben.

4 Min.

Claudia Römer

gepostet auf 05.04.21

Wie wir sehen werden, sind die männlichen und die weiblichen Aufgaben im Judentum genau beschrieben. Auch außerhalb des Judentums waren immer wieder deutliche Aufgabenbereiche zu erkennen. Dies heißt nun aber nicht, Frauen stünden im Abseits und würden auf ihre biologische Fähigkeit, Kinder zu gebären, reduziert. Im Gegenteil sind Frauen in der jüdischen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Motor, der das Schtetl am Laufen hält. Sie stehen wochentags auf dem Markt, kümmern sich um Kinder, Mann und Haus, sie helfen als gute Ehefrau ihrem Gatten, seine Verpflichtungen erfüllen zu können. Sie ist verantwortlich für die Einhaltung der häuslichen Rituale. Selbst wenn der Mann die Zeremonie abhält, ist sie dafür verantwortlich, dass das Glas Wein, der Laib Brot, das Messer, das Handtuch und alles, was sonst noch benötigt wird, bereit steht und somit greifbar ist. Sie ist diejenige, die den weitaus verantwortungsvolleren Part des ehelichen Lebens übernimmt. Je mehr der Mann – ihr Mann – dem Idealbild des Gelehrten entspricht, umso notwendiger ist die Frau die Ausführende und Vermittlerin zwischen seinem Elfenbeinturm des Lernenden und dem Getümmel des täglichen Lebens.
 
Um hierhin zu gelangen, d.h. um einen Haushalt führen zu können, musste ein Mädchen von klein auf von ihrer Mutter lernen. Ihre schulische Laufbahn war kurz, sie lernt im Mädchen-Chejder jiddisch lesen und schreiben, etwas hebräisch lesen, um die  Gebete verfolgen oder nachlesen zu können. Ihre Schulstunden sind auch reduziert, da sie der Mutter helfen soll und sich um die jüngeren Geschwister kümmern muss.
 
Bis hier sind Parallelen zum nicht jüdischen Leben der Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert in Mitteleuropa offensichtlich. Auch hier genossen die Mädchen, die nicht als Adelige oder in Kaufmanns-Familien groß wurden, nur bedingte schulische Ausbildungen. Auch hier reichte es mit den 4 Grundrechenarten, etwas Lesen, Schreiben, damit ein Mädchen später in ihrem Leben als Ehefrau und Mutter ihre Aufgaben erfüllen konnte.
 
Die Unterschiede liegen in dem konträren Verständnis von Bildung, also von Gelehrsamkeit. Für Juden ist es eine Mizwa, die man mit Freude ausführt und – ohne sich seiner Bildung zu brüsten – mit anderen weniger gelehrten Mitjuden teilt. Für Nichtjuden ist es ein Luxus, den man sich leisten kann, bedingt durch wirtschaftlichen Erfolg.
 
Analphabetismus ist im Schtetl so gut wie unbekannt. »In Dörfern, in denen nur ein einziger Bauer lesen kann, findet man kaum einen Juden, der nicht lesen kann.« Sogar ein sonst nicht weiter ausgebildeter Mann ist in der Lage, die Gebete in seinem Gebetsbuch zu entziffern, denn Gelehrsamkeit gibt Prestige und Respekt und erhöht den sozialen Status im Schtetl. Denn Bildung ist das einzig mobile Gut, mit dem man überall wieder von neuem beginnen kann, und das Schtetl musste jederzeit auf eine Verschlechterung seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Lage vorbereitet sein.
 
Aus diesem hohen Stellenwert von Bildung erschließt sich dem Betrachter,  dass ein nicht talmudisches Studium Mädchen viel leichter zugänglich war als ihren Brüdern. Während der Sohn einer angesehenen Familie  den Chejder besuchte, hatte seine Schwester die Möglichkeit, Musik und Sprachen zu erlernen, und sie war auch später freier, um  ins Theater zu gehen und Konzerte zu besuchen. Mädchen gelang es früher als den Knaben, die höhere Schule zu besuchen, denn der höhere Bildungsstandart eines Mädchens erhöhte sowohl ihren Wert als Braut, als auch ihre Chancen, einen gebildeten Ehemann zu bekommen.
 
In diese durchstrukturierte Welt des Schtetls bricht im 19. Jahrhundert der Chassidismus als eine Revolution von unten  ein. Sie begann als eine »Revolte der Ungelehrten« gegen die Macht der Rabbiner. Ihr erster Führer war Israel Baal Schem Tov, der Meister des Guten Namens, auch unter dem Akronym »Bescht« gekannt. Er begann seine Tätigkeit als Vertreter der einfachen Handwerker und des Arbeitsvolks mit geringer Bildung. Er lehnte die Ansicht der Rabbiner ab, dass nur Gelehrsamkeit die Tore des Himmels öffnet. Der Baal Schem Tov betonte hingegen, dass die Annäherung an Gott durch individuelle Gebete, gefühlsstarke Liebe zu Ihm, durch gute Werke, die nicht im Studium entstehen, gepaart mit Demut gegenüber Gott zu erlangen sei.

Zu Beginn standen die Chassiden auf der untersten Stufe der Schtetl-Hierarchie. Dies kann man einer Äußerung entnehmen, die dem Baal Schem Tov zugeschrieben wird:» Juden sind wie eine Weinrebe; die Trauben sind die Gelehrten und die Blätter das einfache Volk. Die Blätter eines Rebstocks haben zwei wichtige Funktionen; sie sind erforderlich für das Wachstum der Rebe, und sie haben die Aufgabe, die Trauben zu schützen. Deshalb sind sie von großer Wichtigkeit, denn die Macht des Beschützers ist größer als die des Beschützten«.
 
Sie mussten mit erheblichem Widerstand zurecht kommen, besonders seitens der Rabbiner und der Oberschicht der Schtetl-Gesellschaft. Trotz ihrer anfänglichen Isolation, bilden die Chassiden  eine der  grundlegenden Strömungen der Verbindung eines Juden zu Gott. Der Chassid betont die Barmherzigkeit Gottes, die Hoffnung auf seine Gnade und sein Verständnis. Der Gelehrte betonte  das Element der göttlichen Gerechtigkeit und die Aufgabe eines jeden Juden, seine Pflichten zu kennen und auszuführen. Diese beiden Prinzipien ergänzen sich und kommen aus der gleichen Tradition.
 
Nach einer ersten Phase der extremen Anti-Gelehrsamkeit begannen  die Chassidim in ihre Ideologie die alten Traditionen des Buchwissens und der Bewunderung des gelehrten Strebens einzuschließen. Der  alte Respekt gegenüber Büchern und ihren Inhalten hatte wieder Geltung. Einige Jahrzehnte später – mit dem Bekanntwerden der Lehren des Rabbi Nachmann – zieht eine weitere Erneuerung in die Welt des osteuropäischen Schtetl ein: Bildung wird auch in weniger betuchten Kreisen für Männer UND Frauen überaus wichtig. Rabbi Nachman forderte seine Schüler auf, ihre Frauen mit einzubeziehen, was nur durch  fundierte Kenntnisse möglich wurde. Dies war der wirklich revolutionäre Aspekt, nicht nur für die Welt des Schtetls, sondern weit darüber hinaus und deutet auf Weitblick bzw. Erneuerung, ohne mit der Tradition zu brechen, sondern dieser zu ihrer Vervollständigung zu verhelfen.
 
Man sollte nicht vergessen, dass wir von den weniger betuchten Schichten sprechen. Im nicht-jüdischen Umfeld  werden Mädchen und damit auch die späteren Ehefrauen noch einige Jahrzehnte weiter „nur“ als das dekorative Beiwerk ihres Gatten betrachtet, denen Bildung  nur zur Schmückung ihres Mannes zugedacht wurde.

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