Wann ist Zurechtweisen Pflicht?

Zum Wochenabschnitt Kedoschim (Wajikra 19,1 – 20,27) Bei zwei der 613 Mitzwot, die er in seinem Sefer HaMitzwot aufgelistet hat, verweist Maimonides auf folgenden Vers...

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Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

Zum Wochenabschnitt Kedoschim (Wajikra 19,1 – 20,27)

Bei zwei der 613 Mitzwot, die er in seinem Sefer HaMitzwot aufgelistet hat, verweist Maimonides auf folgenden Vers: „Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen, zurechtweisen sollst du deinen Nächsten, damit du nicht seinetwegen eine Sünde auf dich ladest“ (Wajikra 19, 17). „Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen“ ist Verbot Nr. 302; „zurechtweisen sollst du deinen Nächsten“ ist Gebot Nr. 205. Besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesen zwei Mitzwot? Rabbiner D. Hoffmann erklärt, das Zurechtweisen sei eine bestens geeignete Methode, um den Hass aus dem Herzen zu verbannen.
 
Nun drängt sich die Frage auf, ob jemand, der Groll gegen seinen Nächsten verspürt, unbedingt verpflichtet ist, den anderen zur Rede zu stellen. Im Kodex von Maimonides finden wir eine klare Antwort: „Wenn einem ein Unrecht zugefügt worden ist und man unterlässt es, den Betreffenden zurechtzuweisen, oder ihm überhaupt etwas zu sagen, – weil er ein zu ge­wöhnlicher Mensch oder zu unklar in seinem Denken und Fühlen ist, – im Herzen aber verzeiht man und trägt nichts nach, unterlässt jedes mahnende Wort, so bekundet man dadurch wahre Frömmigkeit. Die Tora will vor allem jede hässliche Gesinnung vermieden wissen“ (Hilchot Deot 6, 9).
 
Unter welchen Umständen muss man seinen Nächsten zur Rede stellen? Maimonides schreibt in seinem Kodex: „Wer sieht, dass jemand Unrecht tut oder sich auf falschem Wege befindet, für den ist es eine Pflicht, den betreffenden auf den rechten Weg zurückzuführen und ihn zu der Einsicht zu bringen, dass er durch seine schlechten Taten sich gegen sich selbst versündigt… Bei der Zurechtweisung – handle es sich um Dinge, die das Verhältnis zum Nebenmenschen oder das zu Gott angehen, – rede man ruhig in keinerlei verletzender Weise, und lasse es merken, dass man es nur zum Besten des Andern meint, um ihn seines Anteils an der zukünftigen Welt nicht verlustig gehen zu lassen. Wird die Ermahnung ange­nommen, so ist es gut, wenn nicht, so weise man ein zweites und drittes Mal zurecht. Man ist verpflichtet, Zurechtweisung solange fortzusetzen, bis der Betreffende einen schlägt oder ausdrücklich erklärt, er wolle sie nicht annehmen. Wer einem Unrecht Einhalt gebieten könnte und unterlässt es, macht sich mitschuldig, da er ihm ja hätte wehren können“ (Hilchot Deot 6,7).
 
Im Wochenabschnitt Chukat steht ein Satz, der einer Erklärung bedarf: „Aharon werde versammelt zu seinen Stämmen! Denn er soll nicht in das Land kommen, das ich den Kindern Israel gegeben, weil ihr gegen meinen Befehl widerspenstig gewesen seid beim Hader-Wasser“ (Bamidbar 20, 24). Nun heißt es einige Verse davor: „Da erhob Mosche seine Hand und schlug den Felsen mit seinem Stabe zwei Mal, und es kam viel Wasser heraus, dass die Gemeinde trank und ihr Vieh“  (Vers 11). Rabbiner J.H. Hertz kommentiert: „Moses vergaß sich, von seinem Zorn hingerissen, und anstatt – wie ihm befohlen war – zu dem Felsen zu sprechen, schlug er ihn zweimal. Hätte er nur zu dem Felsen gesprochen, so wäre das Wunder unleugbar und Gottes Name in den Augen der ungläubigen Menge geheiligt gewesen.“ Zu fragen ist: „Weil ihr gegen meinen Befehl widerspenstig gewesen seid beim Hader-Wasser“ – was für einen Vorwurf kann man Aharon machen? Rabbiner S.T. Stern erklärt, dass Aharon seinen Bruder Mosche hätte zurechtweisen müssen! Die Tatsache, dass man sich mitschuldig macht, wenn man schweigt statt ein kritisches Wort zu sagen, sollte uns nachdenklich stimmen.
 
Wer glaubt, dass die Mitzwa des Zurechtweisens leicht zu praktizieren sei, der irrt sich gewaltig. Es ist äußerst schwer, eine Zurechtweisung mit dem geforderten Takt zu erteilen. Schon im Talmud (Arachin 16b) wurde der Zweifel geäußert, ob jemand von den Zeitgenossen die Kunst des Zurechtweisens beherrsche. Offensichtlich kann diese Mitzwa nur unter bestimmten Bedingungen erfüllt werden. Es wurde bereits gesagt, dass Zurechtweisen eine brauchbare Methode ist, um Hass abzubauen. Aber ein Vers im Buch „Mischle“ warnt uns: „Mahn den Narren nicht, dass er dich nicht hasse“ (9, 8).
 
 Die Tora verlangt: „Zurechtweisen sollst du deinen Nächsten (hebr.: Amitecha)“. Rabbiner M.L. Malbim macht darauf aufmerksam, dass das Wort Amitecha von unseren Weisen wie folgt ausgelegt worden ist: der so wie du Tora und Mitzwot hält. Nach dieser Interpretation redet die Tora gar nicht von Leuten, die ohne Mitzwot leben wollen – ermahnen soll man nur Amitecha, einen Juden, der die Tora im Prinzip hält (siehe auch Tana Debej Elijahu, Ende Kap. 18, ins Englische übersetzt in: Rabbi M. Weinberger, Jewish Outreach, New York 1990, S. 20).
 
Besteht die Mitzwa der Zurechtweisung auch dann, wenn der Kritiker sicher ist, dass seine Ermahnung auf taube Ohren stoßen wird? In dieser Frage gibt es eine Meinungsverschiedenheit unter den Halachisten (siehe Rabbiner Y. Amitals Abhandlung in der Rabbi Mordechai Breuer Festschrift, Jerusalem 1992, und auch die Ausführungen von Rabbiner N. Lamm in seinem Werk „Halachot WeHalichot, Jerusalem 1990, S. 171ff). Die einen verstehen das Gebot des Zurechtweisens so, dass es nur dann ausgeübt werden soll, wenn ein positives Ergebnis nicht ausgeschlossen ist; die anderen Halachisten sind der Ansicht, dass auch ein sicher wirkungsloser Protest geboten ist. Nach der ersten Auffassung geht es der Tora bei der Mitzwa des Zurechtweisens hauptsächlich um die Verbesserung der Gesellschaft, nach der zweiten Ansicht auch um die moralische Integrität dessen, der Unrecht sieht.

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