Hat Israel eine heilende Kraft?

Die Tora erzählt die Geschichte von dem vom Aussatz befallenen Na'aman, den der Prophet Elischa zur Heilung siebenmal im in Israel fließenden Fluss Jordan untertauchen ließ.

7 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

In der Haftara zum Wochenabschnitt "Tasria" wird die Geschichte von dem vom Aussatz befallenen Na'aman erzählt, den der Prophet Elischa zur Heilung siebenmal im in Israel fließenden Fluss Jordan untertauchen ließ.

 

Na'amans Heilung vom Aussatz im Jordan

 

In der Haftara zum Wochenabschnitt "Tasria" wird die Geschichte von dem vom Aussatz befallenen Na'aman erzählt, den der Prophet Elischa zur Heilung siebenmal im Jordan untertauchen ließ (Kö. II, 5.Kap.). Ist das nicht merkwürdig, wo wir doch im Wochenabschnitt gelernt haben, dass der Kohen [Priester] den Aussatz begutachten muss, und dass ferner der Reinigungsprozess des Aussätzigen die Behandlung mit Zedernholz, Ysop, karmesinfarbener Wolle und noch eine ganze Reihe komplizierter Einzelheiten erfordert? Und hier taucht Na'aman nur unter und ist schon rein! In Wirklichkeit stellt sich die Frage gar nicht erst, denn schon in der Mischna [vom Aussatz, 3,1] und in der Halacha [Maimonides, Gesetze von der Aussatzunreinheit, 9,1] heißt es, dass ein aussätziger Nichtjude nicht als unrein gilt. Hieraus entnehmen die Bibelkommentatoren wie z.B. Rabbiner Samson [ben] Raphael Hirsch, dass es sich bei dem Aussatz, von dem hier die Rede ist, nicht um eine ansteckende Krankheit im medizinischen Sinne handelt – denn was würde es dann für einen Unterschied machen, ob ein Jude oder ein Nichtjude davon befallen wird?! Diese Interpretation lässt sich auch aus der folgenden Mischna [vom Aussatz, 3,2] beweisen: "Wenn sich an einem Hochzeiter ein Aussatzmal zeigt, so gewähre man ihm die sieben Tage des Gastmahles; dies gilt für ihn selbst, für sein Haus und für sein Gewand. Desgleichen gewähre man einem am Feste alle Tage des Festes". Vielmehr ist die Aussatzunreinheit eine spirituelle Angelegenheit, die einen Nichtjuden gar nicht betrifft, was auch von anderen Unreinheiten gilt, wie z.B. die in der Tora genannte Menstruations- und die Ausflussunreinheit, ebenso die von einer [jüdischen] Leiche verursachte Raumunreinheit [wörtlich: "Bezeltungs-U."] gemäß der Ansicht der Mehrheit der Gesetzesautoritäten. Gegen die Behauptung, dies sei doch ein Beweis für einen höheren Status des Nichtjuden gegenüber dem Juden, denn Ersterer wird nicht von diesen Unreinheiten befallen, ist zu erwidern: Im Gegenteil! Auf ähnliche Behauptungen der Sadduzäer [eine vom orthodoxen Judentum abtrünnige Sekte, die nur die schriftliche Tora anerkennen wollte] zur Mischna von der Händeunreinheit [4,6] erhielten sie die Antwort: "Da sprach Rabbi Jochanan ben Sakkai: Sie [die Sadduzäer] stimmen ja zu, dass die Knochen eines Esels rein seien, während die Knochen des Hohepriesters Jochanan unrein sind [und sie würden ja selber nicht behaupten wollen, ein Esel gelte mehr als ein Hohepriester. Vielmehr gilt allgemein:] Auf ihrer Verehrung beruht auch ihre Unreinheit".

 

Gerade wegen der Bevorzugung, die den Israeliten zuteilwird, da sie "Kinder des Ewigen" genannt werden [Mischna "Sprüche der Väter" 3,14] – im Gegensatz zu den Nichtjuden, die "nur" den Status des "Ebenbildes G~ttes" besitzen [ebda.] – sind sie empfänglich für diese besondere Aussatzunreinheit, deren Feststellung in den Händen des mit besonderer Heiligkeit gekrönten Priesters liegt. Und damit hat ein Nichtjude gar nichts zu tun, und er braucht dies auch nicht.

 

Auf jeden Fall sollte man doch im Hinblick auf den Ausspruch der talmudischen Weisen: "Keine Leiden ohne Schuld" (Schabbat 55a) fragen, was Na'aman wohl verbrochen haben mag. Er wird in der Bibel nur sehr knapp geschildert: "Und der Mann war ein Kriegsheld, [aber] aussätzig" (Könige II, 5,1). Die Weisen lehrten diesen Vers folgendermaßen: Er war aussätzig, weil er ein Kriegsheld war, weil er sich auch selbst für einen Kriegshelden hielt und weil er damit angab. "Er bildete sich etwas darauf ein, Kriegsheld zu sein, und darum wurde er aussätzig" (Midrasch Bamidbar rabba, 7,5). Der Talmud führt sieben Sünden auf, die Aussatz bewirken, darunter auch den Hochmut (Arachin 15b). Zwar wird der Aussatz gewöhnlich als Strafe für die üble (Nach-)Rede angesehen, jedoch merkte schon der Autor des "Sefer HaChinuch" an [das alle 613 Ge- und Verbote der Tora in leicht verständlicher Weise erklärt], dass diese in den meisten Fällen der Grund für den Aussatz sei (Mitzwa 169). In Wirklichkeit sind diese beiden Dinge eng miteinander verbunden, wie im Vorwort zum Buche "Chafetz Chajim" steht [das speziell die Gesetze von der Vermeidung der üblen Nachrede behandelt]; wer üble Nachrede verbreitet, übertritt in den meisten Fällen dabei auch das Verbot der Hochmut. Da er nämlich über seinen Nächsten und dessen angebliche Schwächen herzieht, hält er sich selber wahrscheinlich für etwas Besseres. Wenn er wirklich mit seinen eigenen Schwächen vertraut wäre, würde er eher den Mund halten und nicht großartig daherreden.

 

Welche Heldentat nun hatte Na'aman vollbracht? "Denn durch ihn gab der Ewige Sieg dem Aram" (Könige II, ebda.). Wie geschah das? Unseren talmudischen Weisen zufolge spannte er seinen Bogen aufs Geratewohl – und traf Israels König Achaw. Dies war also eine himmlische Fügung! Trotzdem fühlte er sich seither dem Volke Israel überlegen. Diesen Hochmut bekommen wir in unserem Kapitel zu spüren, wo "Aram auszog in Streifscharen und aus dem Lande Israel ein kleines Mädchen gefangen führte, und sie war vor dem Weibe Na'amans" (Kö.II, 5,2). Dazu erklärt der Midrasch: Er wurde für seinen Hochmut bestraft und weil er den wahren Wert der israelitischen Nation missachtete, was darin gipfelte, indem er ein kleines Mädchen aus Israel seiner Frau als Dienstmagd gab. Am Ende des Midrasch heißt es: "So wirst du es auch in der kommenden Zukunft finden, mit so einer Plage wird der Ewige alle Völker heimsuchen … es modert jeglichem das Fleisch usw. (Secharja 14,12), und wodurch? Weil sie sich über Israel erhaben fühlten, wie es [weiter im Vers] heißt: die wider Jerusalem zu Felde gezogen sind", die wagten, Jerusalem für sich zu beanspruchen und uns zu entreißen.

 

Der Prophet Elischa erhellt Na'aman die Sachlage, und weist ihm seinen angemessenen Platz zu. Zuallererst befiehlt Elischa: "Komme er doch zu mir, und erfahre, dass ein Prophet ist in Israel" (Kö.II, 5,8). Na'aman kommt und wartet vor Elischas Haustür (ebda. 9). Sicher erwartet er eine großartige Ehrerbietung. Welch ein Irrtum! "Und Elischa sandte einen Boten an ihn und ließ ihm sagen: Geh und bade…" (ebda. 10). Nun wird Na'aman aber böse, "und sprach: Siehe, ich habe gedacht, zu mir wird er herauskommen, und hintreten, und anrufen den Namen des Ewigen seines G~ttes" (ebda. 11). Soll er sich nur aufregen! Das kann Elischa nicht erschüttern, und er kommt nicht heraus. Wenn Na'aman nicht hören will, dann höre er eben nicht.

 

Der Prophet Elischa lässt ihn ausgerechnet im Jordan und nicht im Jarmuk oder im Jarkon baden, weil der Jordan nicht den anderen Flüssen des Landes Israel gleicht, wie es im Talmud heißt: "der Jordan, der anders als alle anderen Flüsse ist" (Schabbat 60b). Durch den aktuellen Verlauf des Jordan werden unterschiedliche Stufen der Heiligkeit der Gebiete Israels definiert wie auch Eigentumsverhältnisse bestimmt. "Und ebenso wenn der Jordan etwas von einem genommen und einem anderen gegeben hat, so ist, was er genommen hat, genommen, und was er gegeben hat, gegeben" (Baba Mezia 22a). Der Talmud jeruschalmi erläutert diese Regel bezüglich der vom Lande Israel abhängigen Gebote [wie z.B. die Verzehntung der Früchte], wobei der Jordan durch die Verlagerung seines Flussbettes und der daraus folgenden Änderung seines Verlaufes neue Gebiete der Heiligkeit des Landes zuführen oder auch ihr entziehen kann (Talmud jeruschalmi, Challa 4,4).

 

Was Na'aman nicht verstand, verstanden die Stämme Israels um so besser, als sie befürchteten, ihre Ansiedlung östlich des Jordans würde als Abtrünnigkeit vom G~tt Israels ausgelegt werden, und daher bauten sie einen Altar "am Jordan" (Jehoschua 22,10). Sie sagten dazu: "Künftig werden eure Kinder zu unseren Kindern also sprechen: was habt ihr mit dem Ewigen dem G~tt Israels zu schaffen? Der Ewige hat ja eine Grenze gesetzt zwischen uns und euch, Söhne Re'uwen und Söhne Gad, den Jordan; ihr habt keinen Teil an dem Ewigen" (ebda., 24-25).

 

Oberflächlich betrachtet hat Na'aman natürlich Recht: Der Jordan sieht genauso aus wie Amanah und Parpar. Allerdings besitzt er darüber hinaus verborgene Eigenschaften, die die talmudischen Weisen in einem seltsamen Midrasch schildern, einem "geografischen Midrasch" über den Jordan: "Der Jordan entspringt aus der Höhle von Pamias und mündet in das Meer von Sibki und in das Meer von Tiberias. Dann schlängelt er sich fort und gelangt in das große Meer, und schlängelt sich weiter fort und gelangt in den Rachen des Leviathan" (Baba Batra 74b). Eine ganz außerordentliche Reise von der Höhle Pamias bis in den Rachen des Leviathan! Diese Dinge müssen natürlich erklärt werden. So erfahren wir vom MaHaRaL ["Der Hohe Rabbi Löw" aus Prag, Löwe Jehuda ben Bezalel, lebte vor etwa 400 Jahren]: Der Jordan entspringt an einem verborgenen Orte, der Höhle Pamias. Das deutet auf einen erhabenen Rang hin, denn alles Erhabene hat seinen Ursprung im Verborgenen". Demnach hat der Jordan von Anfang an etwas mit einem erhabenen, verborgenen Grundsatz zu tun. "Und er gelangt in den Rachen des Leviathan, auch sein Ende ist mit einer höchsten göttlichen und verborgenen Stufe verbunden". Auch an seinem Ende hat der Jordan etwas von der realen Heiligkeit der vor uns liegenden Zukunft.

 

"Genau deshalb beorderte der Prophet den Na'aman im Jordan einzutauchen, und gerade dort konnte er geheilt werden. Denn die Rangstufe des Offenbaren ist für die [spirituelle] Unreinheit empfänglich, und die Rangstufe des Verborgenen ist für die Unreinheit nicht empfänglich, so wie es heißt, dass die verborgenen Teile des Körpers nicht für diese Art der Unreinheit empfänglich sind". Soweit die Worte des MaHaRaL.

 

Die Unreinheit gehört zum Äußerlichen, und wer sich nur mit Äußerlichkeiten beschäftigt, hält fest an der Unreinheit. Im Inneren aber gibt es keine solche Unreinheit; wer sich also mit dem inneren Wesen der Dinge beschäftigt, von dem entfernt sich die Unreinheit.

 

Na'aman identifiziert sich mit dem Jordan sozusagen mit Haut und Haaren, er geht ganz hinein. Entsprechend erklärte der Autor des "Sefer HaChinuch" [s.o.] das Gebot vom Untertauchen: Der Mensch betrachte sich im Moment des Untertauchens als neugeboren, als ob er mit allen seinen Gliedern in der Ur-Welt aufgehe, die vor der Schöpfung aus Wasser bestand (Mitzwa 173). Na'aman taucht nun unter: "Da wurde sein Fleisch wieder wie das Fleisch eines jungen Knaben" (Kö.II, 5,14). Nicht nur sein Fleisch wird wieder wie das eines jungen Knaben, sondern sein ganzes Selbst wird neu geboren, und nach unseren Weisen wurde Na'aman Beisassproselyt (Gittin 57b), wie auch aus seinen Worten in unserem Kapitel [Kö.II, 5] hervorgeht. Darüber hinaus verglichen ihn die talmudischen Weisen mit Jitro, dem ersten Konvertiten, der sich der Nation anschloss, und erklärten ihn für bedeutender als Jitro (Mechilta Jitro 1.Kap.). Dieser sagte nämlich: "Nun erkenne ich, dass der Ewige größer ist als alle Götter" (Ex. 18,11), und Na'aman sagte: "Nun weiß ich, dass kein Gott auf der ganzen Erde ist außer in Israel" (Kö.II, 5,15). Nur im Volke Israel und nur im Lande Israel gibt es einen G~tt, was Na'aman dazu treibt, Elischa um die Erlaubnis anzuflehen, etwas von der Erde des Landes Israel als Geschenk nach Hause zu nehmen, "die Last eines Maultiergespannes" (ebda., 17), um in seinem Lande dem Ewigen einen Altar zu bauen und nur dem Ewigen zu dienen.

 

Möge es G~ttes Wille sein, dass alle Völker bald erkennen, dass es nur im Volke Israel und nur im Lande Israel einen G~tt gibt, "und alle Völker der Erde werden sehen, dass du nach dem Namen des Ewigen benannt bist" (Dt. 28,10).

 

Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Leiter der Jeschiwa "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Altstadt von Jerusalem – übersetzt von R. Plaut Chefredakteur von KimiZion

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