Die Entdeckung der Umkehr

Jehuda ist der erste Mensch in der Tora, der seinen Fehler erkennt und offen zugibt...

4 Min.

Chajm Guski

gepostet auf 04.04.21

Jehuda ist der erste Mensch in der Tora, der seinen Fehler erkennt und offen zugibt

 

Rolle rückwärts in der Luft: Aber danach steht man wieder mit beiden Beinen auf festem Grund – und kann neu anfangen.

 

In unserem Wochenabschnitt lesen wir die Geschichte von einem Mann und einer Frau, die im mehrfachen Wortsinn ganz unten angekommen sind. Es ist aber auch eine Geschichte davon, wie sich diese zwei Menschen als große Helden erweisen. Die Rede ist von Jehuda und Tamar.

In vielerlei Hinsicht irritiert uns diese Geschichte. Ja, vielleicht soll sie irritieren. Sie unterbricht die Handlung einer größeren Erzählung. War gerade noch die Rede von Josef, so rückt der Fokus plötzlich auf andere Protagonisten. Für Kritiker ist diese Stelle ein Beweis dafür, dass die Tora von Redaktoren zusammengestellt und diese Geschichte hier irgendwie eingeschoben wurde. Deshalb wirkt sie deplatziert. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sie an sehr passender Stelle steht – oder eingefügt wurde.

KARAWANE 

 

In unserem Wochenabschnitt beschließen Jakows ältere Söhne, zu denen auch Jehuda gehört, ihren Bruder Josef zu töten. Nach Reuwens Einwand tun sie das jedoch nicht. Sie ziehen Josef aus, werfen ihn in eine Grube, und als eine Karawane vorbeizieht, kommt Jehuda auf die Idee, Josef zu verkaufen.

Um sein Verschwinden zu erklären, schlachten sie einen Ziegenbock und tauchen Josefs Kleidung in das Blut. Mit den blutigen Fetzen gehen sie zu ihrem Vater Jakow und bitten ihn, die Kleidung zu identifizieren. Sie tun dies mit den Worten »Haker na – erkenne doch, ob es der Rock deines Sohnes ist« (1. Buch Mose 37,32). Und der Vater erkannte, dass es die Kleidung seines Sohnes war. 

Trotz der Knappheit, in der uns der Text begegnet, muss der Leser an dieser Stelle innehalten und kann vielleicht nachempfinden, wie es Jakow ergangen sein mag, als er die Nachricht vom Tod seines Kindes erhielt. Er entzieht sich seinen Söhnen und lässt sich nicht trösten: »Ich werde hinabsteigen zu meinem Sohn in die Gruft« (37,35).

An diesem grausamen Schmerz trägt auch Jehuda Schuld. Ausschließlich ihm wendet sich die Tora jetzt für ein paar Zeilen zu. Im Text heißt es: »Jehuda stieg hinab von seinen Brüdern und schlug seine Zelte auf bei einem Mann aus Adulam« (38,1). Die Kommentatoren fast jeder Generation haben das so verstanden, dass er nicht nur geografisch »hinab zog«, sondern vor allem auch moralisch.

Das beweist der nächste Satz, denn Jehuda heiratet dort eine Kenaaniterin. Das beschreibt recht passend den moralischen Niedergang. Mit seiner Frau Schua hat er drei Söhne: Er, Onan und Schelah. Es scheinen einige Jahre zu vergehen, dann erreicht Er das Alter, um zu heiraten, und nimmt Tamar zur Frau. Doch der Verbindung wird kein langes Glück gegönnt, und Er stirbt. Tamar wird zu einer kinderlosen Witwe, und Jehuda erleidet nun genau den Schmerz, den er seinem Vater zugefügt hat.

LEVIRATSEHE

 

In der Gesellschaft, in der Tamar und Er lebten, scheint es eine Form der Leviratsehe gegeben zu haben. Sie sah offenbar vor, dass der Schwager die Witwe heiraten muss und anstelle seines Bruders ein Kind zeugt. Onan möchte aber bekanntlich das Kind nicht zeugen und stirbt. Wieder muss Jehuda den Tod eines Sohnes erleben. Anscheinend erkennt er die tragische Dynamik und verweigert der kinderlosen Witwe indirekt, auch seinen dritten Sohn zu heiraten. Das macht Tamar zu einer gesellschaftlichen Verliererin: Weil sie ihrem Schwager Schelah zusteht, kann sie keinen anderen Mann heiraten.

Doch Tamar will diese Situation auflösen. Und so wird sie zur Akteurin: Sie verkleidet sich als Prostituierte, setzt sich an eine Stelle, an der Jehuda vorbeikommen muss, und weil ihr Schwiegervater offenbar moralisch nicht sonderlich gefestigt ist, geht er auf das Angebot am Wegesrand ein. Als Bezahlung für die »Dienste« Tamars, die er natürlich nicht als seine Schwiegertochter erkennt, vereinbaren sie einen Ziegenbock.

Da er diesen nicht dabei hat, überlässt er Tamar einen Siegelring und zwei weitere Gegenstände. Er verspricht, sie am nächsten Tag gegen den Bock einzutauschen. Doch am Folgetag findet er an jenem Ort keine Prostituierte mehr.

SCHWANGERSCHAFT

 

Nach einigen Monaten ist nicht zu übersehen, dass Tamar schwanger ist. Als das Jehuda berichtet wird, befiehlt er, sie zu verbrennen, denn sie hatte eine außereheliche Beziehung. Doch bevor sie verbrannt werden soll, übergibt sie Jehuda den Siegelring und teilt ihm mit, dass sie mit jenem Mann geschlafen hat, dem der Ring gehört. Dabei benutzt sie Worte, die Jehuda und seine Brüder zu Jakow gesprochen hatten: »Haker na – erkenne doch, wem gehört dieser Siegelring?« (38,25). Das ist der entscheidende Wendepunkt der Geschichte. Der Augenblick, in dem Josefs Schicksal, der Schmerz des Vaters und die aktuellen Ereignisse zusammenlaufen: Tamar erinnert Jehuda an die Geschichte mit Josef.

Jehuda antwortet: »Sie ist gerechter als ich« (38,26). Mit diesen Worten ist er der erste Mensch in der Tora, der seinen Fehler erkannt hat und offen zugibt. Jehuda hat sich damit auf den Weg aus seinem moralischen Niedergang gemacht, auf den Weg der Teschuwa, der Umkehr. Das ist der erste Schritt, den Maimonides, der Rambam (1135–1204), in seinen Hilchot Teschuwa (1,1) beschreibt: »Man erkennt seine schlechten Taten und bereut sie.«

Vielleicht hatte es dazu erst der konkreten Erinnerung an die Geschichte mit Josef bedurft. Und tatsächlich ändert Jehuda sein Leben und kehrt zurück zu seiner Familie. Denn wenn die Söhne Jakows in Kapitel 42 nach Ägypten gehen und Benjamin zu Hause lassen, ist die Rede von zehn Söhnen. Jehuda wird also bei ihnen sein. 

In Kapitel 44 bietet sich Jehuda dann im Austausch für Benjamin an. Er möchte statt seiner in ägyptische Gefangenschaft gehen. Jehuda ist ein anderer Mensch geworden. Er ist nicht mehr der, der Josef in die Grube stieß und dann nach Adulam zog.

Jehuda hat Großes geleistet. Der Talmud sagt, dass selbst die größten Zaddikim nicht an der Stelle stehen können, die jemand einnimmt, der Teschuwa gemacht hat (Berachot 34b).
 

Und Tamar? Tamar hat ihr Leben wissentlich aufs Spiel gesetzt, um Jehuda auf die richtige Bahn zu bringen und sich selbst aus ihrer schwierigen Lage zu befreien. Insbesondere dadurch, dass sie Jehuda nicht öffentlich zur Rede stellte und ihn dadurch beschämte. Der Talmud sagt, es sei besser, sich selbst in einen Feuerofen zu werfen, als den Nächsten öffentlich zu beschämen. Dem kommt Tamar nach und wird damit zu einer Heldin.
 

Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Mehr über den Autor finden Sie hier.

INHALT
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

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