Persönlichkeit

Was macht einen guten Anführer aus? Diese Frage scheint viele zu bewegen. Sucht man z.B. bei Amazon nach Büchern zum Thema »Leadership«, dann kommen 17.072 Ergebnisse!

4 Min.

Rabbiner David Geballe

gepostet auf 05.04.21

Wahre Größe, Mosche verzichtete auf Ruhm und Ehre, um das Volk Israel zu retten
 

Was macht einen guten Anführer aus? Diese Frage scheint viele zu bewegen. Sucht man zum Beispiel bei Amazon nach Büchern zum Thema »Leadership« oder »Führung«, dann kommen 17.072 Ergebnisse! Schaut man sich in überregionalen Zeitungen Stellenanzeigen an, entdeckt man unter den Anforderungen für fast jeden Job »guter Führungsstil« oder auf Neudeutsch: »gute Leadership«.

 

Wer bei Wikipedia den Begriff »Leadership« sucht, findet folgende Definition: Es ist ein »Prozess des sozialen Einflusses, in dem eine Person die Hilfe und Unterstützung von anderen für die Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe nutzt«. Was ist die jüdische Sichtweise darauf, was finden wir dazu in der Tora?

 

Der Abschnitt der vergangenen Woche, Tezawe, hat eine Besonderheit: Es ist die einzige Parascha seit der Geburt Mosches, in der er selbst nicht erwähnt wird. Der Baal Haturim, einer der größten Rabbiner des Mittelalters (1269–1343), sieht den Grund hierfür im Wochenabschnitt Ki Tissa.

 

ÜBERLEBEN

 

Mosche ist schon seit 40 Tagen auf dem Berg Sinai, um von G’tt die Tora zu erhalten. »Da sprach der Ewige zu Mosche: Geh, steig hinab, denn ausgeartet ist dein Volk … Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und sich davor niedergeworfen« (2. Buch Mose 32, 7–8). G’tt droht damit, das gesamte jüdische Volk zu vernichten. Da betet Mosche sofort für das Volk und dessen Überleben. Etwas später sagt er den bekannten Satz: »Mögest Du ihre Sünde doch verzeihen! Wenn aber nicht, so lösche mich aus aus Deinem Buch, das Du geschrieben hast« (32,32).

 

Obwohl G’tt in Seiner Güte dem jüdischem Volk verziehen hat, ist doch der Fluch zum Teil wahr geworden. Dies folgt dem Diktum des Talmuds: Der Fluch eines Weisen, obwohl mit Vorbehalten ausgesprochen, wird trotzdem zum Teil wahr. So können wir verstehen, warum Mosche im Wochenabschnitt Tezawe nicht erwähnt wird.

 

JAHRZEIT

 

Wir finden in Bezug auf Tezawe noch etwas anderes Ungewöhnliches. Diese Parascha wird immer in der Woche gelesen, in die Mosches Todestag (und auch sein Geburtstag), der 7. Adar, fällt. Es ist Brauch, an jedem Todestag (Jahrzeit) über den Verstorbenen und seine guten Taten zu sprechen. Wie kommt es dann, dass gerade in diese Woche immer die Parascha fällt, in der Mosche nicht erwähnt wird?

 

Tatsächlich ist das Auslassen seines Namens nicht etwa eine Strafe. Im Gegenteil, es ist das größte Lob, das man Mosche machen kann. Es ist ein Beweis seiner Aufopferung und seines guten Charakters. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass er bereit war, auf all seinen Ruhm und seine Ehre zu verzichten, um das jüdische Volk zu retten.

 

HINGABE

 

Wir finden in der Geschichte vom Goldenen Kalb noch ein weiteres Beispiel für Mosches Hingabe an das Volk Israel. Daraus können wir lernen, was es heißt, Anführer zu sein. Die Israeliten erschufen das Goldene Kalb, weil sie annahmen, Mosche sei tot. Sie hatten Angst, dass sie ab jetzt führerlos sind und ohne einen Mittler zu G’tt leben müssen. Bisher hatten sie immer durch Mosche mit G’tt kommuniziert, vor allem in schwierigen Situationen wie am Schilfmeer oder als sie in der Wüste kein Wasser hatten. Fälschlicherweise gingen sie davon aus, dass sie nicht selbst mit G’tt kommunizieren können, oder zumindest nicht so gut wie Mosche. Also entschlossen sie sich, etwas zu erschaffen, das Mosches Rolle einnehmen sollte.

 

Warum aber dachten sie, dass Mosche tot sei? Wie kamen sie zu diesem falschen Schluss? Mosche war am 7. Siwan auf den Sinai gestiegen und hatte dem Volk zuvor gesagt, dass er 40 Tage dort verbringen und dann am Morgen zurückkehren werde. Sie dachten, dass der Tag seines Aufstieges als erster Tag zu zählen sei und Mosche also am 16. Tamus wiederkäme.

 

Gemeint hatte Mosche aber, dass er 40 volle Tage auf dem Berg verbringen wird und somit am Morgen des 17. Tamus zurückkommt. Am Mittag des 16. Tamus fing das Volk an, sich Sorgen zu machen, am Abend begannen sie mit den Vorbereitungen für das Goldene Kalb. Und am nächsten Morgen erfährt Mosche von G’tt, dass sie ein Goldenes Kalb anbeten.

 

Wie wird sich Mosche in diesem Moment gefühlt haben? Was würden wir an seiner Stelle tun, wenn wir 40 Tage und Nächte ohne Essen und Trinken auf dem Berg Sinai verbracht hätten, um die Tora zu erhalten – eine Zeit der völligen Selbstaufgabe –, und auf einmal sehen, wie das Volk fröhlich um das Goldene Kalb tanzt und jubelt?

 

Im Deutschen gibt es dazu einen passenden Ausdruck: »Der Leichnam ist noch nicht einmal kalt.« Und das Volk tanzt? Diese Art von Undankbarkeit ist unglaublich und fast noch schlimmer als die Tat des Götzendienstes.

 

Was wird Mosche da durch den Kopf gegangen sein? Wie wird er sich gefühlt haben? Als der Ewige zu Mosche sagte, dass Er das Volk ausmerzen und ihn, Mosche, zu einer neuen Nation machen will, hätte die Antwort eigentlich lauten sollen: »G’tt, Du hast recht. Das sind undankbare Menschen. Sie haben noch nicht einmal den Anstand, wenigstens für eine kurze Zeit um mich zu trauern. Sie sollten alle sterben!« Doch das tat Mosche nicht. Vielmehr flehte er für sie um Vergebung und stellte G’tt sogar ein Ultimatum! Das jüdische Volk ist sein Volk, und er fühlt sich für sie verantwortlich, fast wie ein Vater.

 

So gilt Mosche uns als ewiges Beispiel. Er zeigt, welche Charaktereigenschaften ein wahrer Anführer in sich vereinigen soll: Nicht nur auf das eigene Wohl und den eigenen Ruhm soll er erpicht sein, sondern sich um das Wohl der Menschen kümmern, für die er Verantwortung trägt. Das ist ein wahrer Anführer.

 

Wenn das nur die Autoren der 17.072 Bücher wüssten …

 

Der Autor ist Rabbiner in Fürth und Mitglied der ORD.

Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Danke fuer Ihre Antwort!

Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.

Fuegen Sie einen Kommentar hinzu.