Studium – Volk des Buches

Das Lernen der Tora ist nicht nur eine religiöse Pflicht – es stärkt auch den Charakter.

4 Min.

Rabbiner Avichai Apel

gepostet auf 17.03.21

Das Lernen der Tora ist nicht nur eine religiöse Pflicht – es stärkt auch den Charakter

 

Was ist so besonders an der Tora? Sie ist von einer sehr mystischen Aura umgeben. Sie ist kein gewöhnliches Lesebuch. Selbst das einmalige Lesen der Tora beeindruckt stark und lässt viele offene Fragen und ungelöste Rätsel zurück. Sie erweckt den starken Bedarf, nicht nur gelesen, sondern studiert zu werden, um das hinter diesen Worten Verhüllte und Verdeckte zu entziffern und zu versuchen, die Botschaft zu verstehen, die uns der Allmächtige durch seine Schriften in jedem Segment schenken will.

 

ANGEBOT

 

Als der Allmächtige den Menschen die Tora geben wollte, erzählt der Midrasch, dass er sich an diverse Völker wandte und ihnen die Tora anbot. Jedes Volk, das von ihm angesprochen wurde, fragte, welchen Inhalt die Tora habe, um abzuwägen, ob es sich lohnt. Einem Volk wurde gesagt, in der Tora stehe: »Du sollst nicht stehlen.« Daraufhin erwiderten die Angehörigen jener Nation, ihr Leben stütze sich darauf, dass einer vom anderen stehle, weshalb sie die Offerte ablehnten.

 

Ein weiteres Volk fragte nach dem Inhalt der Tora, worauf der Allmächtige erwiderte, in der Tora stehe »Du sollst nicht morden.« Sie antworteten ihm, ihr ganzes Leben beruhe auf dem Schwert. Als sich der Allmächtige an das jüdische Volk wandte und fragte, ob es an der Tora interessiert sei, fragte es nicht, was der Inhalt der Tora sei, sondern antwortete ihm unmittelbar: »Wir werden tun wie geredet.«

 

»Volk des Buches« lautet eine besondere Bezeichnung, die dem jüdischen Volk zugeschrieben wird. Ein Volk, das es liebt, zu lernen und zu wissen, und dem es gelingt, davon im Alltag zu profitieren. Seit der frühesten Zeit befasst sich das jüdische Volk mit dem Studium der Tora. Kinder im Alter von drei Jahren besuchten jeden Tag den Cheder, wo sie das Lesen lernten, um mit dem Studium der heiligen Tora zu beginnen, wenn sie noch ein freies Herz und einen klaren Kopf haben. Lange Stunden am Tag werden dem Studium gewidmet – mit dem Wunsch, zu lernen und die Worte der Tora zu kennen.

 

Die Tora hat zahlreiche Teile. Ihr praktischer Teil wird als Halacha definiert und definiert für uns, wie wir im Alltag die 613 Mizwot zu halten und was wir zu vermeiden haben. Der historische Teil befasst sich mit der Vergangenheit des jüdischen Volks. Dieser Teil enthält die Geschichten der Generationen, angefangen von der Erschaffung der Welt, fährt mit der Zeit der Erzväter, dem Auszug aus Ägypten, der Ansiedlung im Land Israel, dem Exil, der Erlösung und vielem mehr fort. Der dritte Teil wird Divrei Aggadot genannt. Dieser Teil befasst sich mit Lehren und Moral, der Philosophie und der inneren Seite der Tora.

 

SPEZIALISTENTUM

 

Wer Wissenschaft studiert, weiß, dass es eine Aufteilung in Fächer gibt, in Teile und Abgrenzungen zwischen den Gebieten. Diese Aufteilung kann sogar dazu führen, dass der Studierende eines Fachs beinahe auf ein anderes Gebiet verzichten kann. Meistens ist es so, dass nur derjenige, der sich auf dieses oder jenes Gebiet spezialisieren möchte, sich dafür interessiert und sich die Mühe machen wird, sein Teilgebiet zu verstehen.

 

Ganz anders steht es mit der Tora, die wir in einer anderen Atmosphäre lernen. Der Tannai Jehuda ben Tima, ein Weiser der Mischna, hat die Reihenfolge des Lernens des Menschen gemäß dessen geistiger und mentaler Entwicklung definiert. Dabei hat er festgelegt, dass der Fünfjährige die fünf Bücher Mose gelesen und gelernt haben muss: »Ben Chamesch Lemikra«, während ein Zehnjähriger bereits die Mischna lernt und die Mischnajot auswendig kennt. Der 13-Jährige erreicht das Alter der Mizwot, und der 15-Jährige kennt die Gemara (den Babylonischen Talmud) und befasst sich mit der Analyse der verschiedenen Kommentare.

 

Dieses Studium trägt dazu bei, dass wir wissen, wie wir uns in dieser und jener Situation zu verhalten haben. Das heißt, dass es einen intuitiven Lernvorgang gibt, den der Mensch befolgen soll und der ihn auf das Studium der Tora an sich vorbereitet. Selbstverständlich können gescheite Studenten und große Rabbiner sich auch auf ein besonderes Gebiet spezialisieren, nachdem sie anfänglich jedes Gebiet gründlich gelernt haben.

 

Dennoch möchte der Wahrheit zuliebe gesagt werden, dass es weniger wichtig ist, mit welchem Gebiet der Mensch sich befasst, solange er seine größten Kräfte beim Studium einsetzt, um das Lernmaterial zu verstehen, darin fortzuschreiten und um vom Erlernten auf besondere Weise beeinflusst zu werden.

 

LIEBE

 

Die Mischna sagt: »Rabbi Meir sagte: Wer das Gesetz um des Gesetzes willen erforscht, der wird vieles erlangen, und nicht nur dies, sondern er ist würdig, dass nur seinetwegen die Welt besteht. Sein Name ist Freund und Geliebter, er liebt G’tt und die Menschen, und er erfreut G’tt und die Menschen. Die Liebe bekleidet ihn mit Sanftmut und G’ttesfurcht, und macht ihn tüchtig, gerecht und fromm sowie rechtschaffen und treu (Awot 1,6).

 

Das bedeutet, dass das Torastudium einen größeren Einfluss auf den Menschen hat, der sich nicht nur auf seine Intelligenz beschränkt. Das Lernen ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung (obwohl auch diese Herausforderung von großer Bedeutung ist), sondern selbst wenn der Torastudierende ein Niveau hat, von dem aus er sich nicht weiterentwickeln kann zu einem Gelehrten, wird dieser Lernende dennoch den Einfluss dieses Studiums im Verlauf seines Lebens genießen, und es wird seiner Lebensweise zugutekommen.

 

INDIVIDUUM

 

Das Torastudium beeinflusst den Charakter, nicht nur auf gewissen Gebieten der Persönlichkeit. Das Erforschen der Tora verbindet den individuellen Lernenden mit der Allgemeinheit, das Individuum mit dem Allmächtigen und verstärkt die Geistigkeit eines Menschen, indem es ihm hilft, seine Wege zu bessern.

 

Wenn der Mensch die Tora in der Synagoge liest, segnet er den Allmächtigen: »Gesegnet seist Du, Ewiger, G’tt, König der Welt, der Du uns aus allen Völkern erwählt und uns die Tora gegeben hast.« Das jüdische Volk wurde dadurch zum gewählten Volk auf Erden, dass es die Tora empfing und sie zu wahren hat.

 

Rabbi Saadja Gaon (882–942) schreibt in seinem Buch Emunot weDeot: »Unser Volk ist ein Volk nur aufgrund seiner Tora.« Die Tora vereint das jüdische Volk. Sie zeigt ihm eine Lebensweise, die den Menschen zu positiven Zielen führt. Wer die Tora lernt und auf ihrem Weg wandelt, wird dadurch beeinflusst, um rechtschaffener zu handeln.

 

Das Studium der Tora befasst sich mit der Besserung der Gedanken, mit der Korrektur des Handeln und des Körpers. Das Lernen der Tora wird den Menschen seiner Vollendung nähern. Der Ausgleich der verschiedenen Kräfte, die dem Menschen innewohnen, und deren Umsetzung in die Praxis in gebührendem Maß ermöglichen es ihm, sein Leben in einer guten Qualität zu leben. Deshalb fördert das Lernen der Tora, der Halacha, der Gemara oder der jüdischen Philosophie den jüdischen Menschen und bringt ihn zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit, die er in seinem Leben zu erreichen hat.

 

SCHATZ

 

Das jüdische Volk sagte prompt: »Wir werden tun wie geredet«, da es sofort verstand, dass in der Tora ein mächtiger, den Intellekt entwickelnder und die Moral erhebender Schatz versteckt ist, der jede Anstrengung wert ist, um sich damit zu befassen und somit das Beste aus dem Leben zu machen.

 

Der Autor ist Rabbiner in der Jüdischen Gemeinde zu Dortmund und Mitglied in der ORD.

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