Anmerkungen zu Schir HaSchirim

In manchen Ausgaben der Pessach-Haggada findet man am Ende das Hohelied (Schir HaSchirim = Lied der Lieder) abgedruckt.

4 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Verschiedene Lesarten sind zu beachten

In manchen Ausgaben der Pessach-Haggada findet man am Ende das Hohelied (Schir HaSchirim = Lied der Lieder) abgedruckt. Diese Hinzufügung hat schon ihre Richtigkeit; denn es gibt einen uralten Brauch, nach dem Seder Schir HaSchirim zu rezitieren. In askenasischen Gemeinden pflegt man das Lied der Lieder am Schabbat von Pessach öffentlich vorzulesen, und zwar vor der Tora-Lesung.

Warum haben unsere Weisen Schir HaSchirim Pessach zugeordnet? In der Literatur findet man auf diese Frage mehrere Antworten, die alle richtig sein können. Pessach wird stets im Frühjahr begangen, und im Hohelied wird diese Jahreszeit beschrieben: "Denn siehe, der Winter ist vorüber, der Regen enteilt, ist dahin. Die Blüten lassen sich sehen am Boden, die Zeit des Sanges ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Land. Die Feige würzt ihre Fruchtkeime und die Weinreben blühen, duften " (Kap. 2, 11-13). Ein anderer Grund für die Zuordnung: Unsere Weisen haben in Schir HaSchirim eine Allegorie gesehen, welche die unendliche Liebe zwischen dem Volk Israel und dem Heiligen, gelobt sei Er, darstellt. Der Auszug aus Ägypten, dessen wir am Pessach durch das gebotene Tun und Lassen gedenken, begründet und demonstriert die einmalige Liebesbeziehung zwischen Gott und Seinem Volk, die im Lied der Lieder zur Sprache kommt.

Sogar wer nicht auf eine Übersetzung des Originaltextes angewiesen ist, wird es nicht leicht finden, die Gliederung und den Sinn von Schir HaSchirim zu verstehen. Ohne einen guten Kommentar zu diesem biblischen Buch übersieht der Leser viele Dinge und geht leicht in die Irre. Eliahu Kitov bemerkt in seinem vorzüglichen Buch "Das jüdische Jahr": "Nicht jedem Menschen, und auch nicht zu jeder Zeit, ist es möglich, die wirkliche Bedeutung in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen. Wenn man die Worte dieser Parabel zu wörtlich und zu weltbezogen auffasst, könnte der erhabene Sinn und die symbolische Bedeutung verloren gehen."

Als sehr nützlich habe ich die Betrachtungen über Schir HaSchirim  erfahren, die der Bibelwissenschaftler Dr. Gabriel Cohn in seinem hebräischen Buch über die Fünf Megillot veröffentlicht hat ( 2. Auflage Jerusalem 2008). Ich empfehle dieses Werk, denn es hilft dem Leser, den Zusammenhang zwischen den zwei voneinander unterscheidbaren Bedeutungsschichten zu begreifen. Cohn analysiert den Aufbau des Textes, behandelt eine Reihe von Spezialfragen und ermöglicht durch wertvolle Literaturhinweise eine weitere Vertiefung.

Bemerkenswert ist, dass unsere klassischen Bibelausleger Raschi, Raschbam und Abraham Ibn Ezra, die in ihren Kommentaren erklärtermaßen den Literalsinn (hebr.: Peschat) bevorzugen, Schir HaSchirim allegorisch erläutert haben. Sie wandeln in den Spuren des Midraschs, der im 7. Jahrhundert im Lande Israel redigiert wurde.

Wer Beispiele aus den Midraschim studieren möchte, der ist gut beraten, wenn er zum Wajikra-Band im Bestseller "Tora Temima" von Rabbiner Baruch HaLevi Epstein (1860-1941) greift. Im Jahre 2012 ist dieses Werk in einer leserfreundlichen, punktierten Ausgabe neu herausgegeben worden. Epstein zitiert Midrasch-Stellen zu jedem Vers und erläutert sie. Es wäre natürlich reizvoll, hier einige überraschende Auslegungen anzuführen; dies würde aber den gegebenen Rahmen sprengen.

An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, auf ein ähnlich aufgebautes Werk aus unseren Tagen hinzuweisen, das ebenfalls rabbinische Auslegungen zu Schir HaSchirim anführt und erläutert: " Hatora Hatemima" von Rabbiner Jechiel M. Stern (Jerusalem 5770). Man beachte den kleinen Unterschied zwischen den zuletzt genannten Titeln (Ha Ha!).

Auch der Halachist und Philosoph Moses Maimonides betont, dass Schir HaSchirim allegorisch zu interpretieren ist. Es lohnt sich, den ganzen Absatz aus seinem Kodex zu zitieren: " Die rechte Liebe besteht darin, dass man Gott so gewaltig groß und innig liebt, bis die Seele gleichsam in der Liebe zu Gott gebunden ist und immer von ihr erfüllt ist. So wie der Sinn des Liebeskranken durch die Liebe zu einer bestimmten Frau nicht frei ist, sondern sie immer in ihm lebt bei seinem Essen und Trinken, beim Sitzen und Stehen. Noch stärker soll die Liebe zu Gott im Herzen jener sein, die immer gleichsam von Ihm erfüllt sind, wie ja Gott es anbefohlen hat: " Mit ganzem Herzen und ganzer Seele" (Dewarim, Kap.6,5). Salomo drückte dies gleichnisweise so aus:" Denn krank an Liebe bin ich" ( Schir HaSchirim, Kap.5,8). Das ganze Hohelied ist eine Allegorie dieser Liebe" (Hilchot Teschuwa, Kap. 10,3).

Wie bereits gesagt, man sollte bei Schir HaSchirim zwei Lesarten berücksichtigen –  das macht die Lektüre mühsam, zugleich aber auch spannend. Eine Interpretation nach dem einfachen Wortsinn hat Rabbiner E.S. Hartom (1887-1965) vorgelegt. Hartom hat das Hohelied in 17 Lieder und einige Einzelstücke aufgeteilt. Seiner Ansicht nach handelt Schir HaSchirim von einem Bräutigam und einer Braut, die ihrer Sehnsucht nach Liebe und Nähe wortreich Ausdruck verleihen. Um auf die andere Interpretationsart hinzuweisen, referiert Hartom in seiner kurzen Einleitung Beispiele für die allegorische Auslegung ausgewählter Verse.

Um die These zu verdeutlichen, dass beim Studium von Schir HaSchirim verschiedene Lesarten zu entdecken sind, soll nun ein Ausdruck näher betrachtet werden, der im Hohelied nicht weniger als sieben Mal vorkommt: " Töchter Jeruschalaims " . Die Frage drängt sich auf: Wer sind die Töchter Jeruschalaims? Gabriel Cohn hat drei verschiedene Antworten nebeneinander gestellt; er zeigt, dass je nach Gesamtauffassung des Textes die Bedeutung der Töchter Jeruschalaims anders gesehen wird.

Raschi, der – wie schon oben erwähnt – Schir HaSchirim allegorisch auslegt, führt aus, die Töchter Jeruschalaims seien die Völker der Welt. Wenn nämlich die Geliebte im Hohelied das Volk Israel symbolisiert, so ist es durchaus angemessen, ihre Gesprächspartnerinnen als die übrigen Völker zu betrachten.

Ganz anders als Raschi deutet Rabbiner Malbim das Hohelied. Nach Malbim symbolisiert die Geliebte in Schir HaSchirim die Seele des Menschen, die sich immerfort nach einer Verbindung mit dem himmlischen Vater sehnt. Die Töchter Jeruschalaims interpretiert Malbim als die Kräfte des menschlichen Körpers. Diese wollen wissen: " Was ist dein Geliebter vor jeglichem Geliebten " (Kap. 5,9). Nach Ansicht von Malbim fragen sie, wodurch sich die geistige Liebe zu Gott von anderen Formen der Liebe abhebt.

Eine dritte Sichtweise haben sowohl Rabbiner Joseph Carlebach als auch Elieser Levinger vertreten. Ihrer Auffassung nach sind die Töchter Jeruschalaims die Gefährtinnen der Geliebten, die wohlwollend an ihrer Liebesgeschichte teilnehmen und den Lesern von Schir HaSchirim ermöglichen, die Gedanken der von Sehnsucht nach der Liebe ihres Freundes erfüllten Frau nachzuvollziehen. Damit keine Missverständnisse aufkommen, sei angemerkt, dass Carlebach Schir HaSchirim als Liebeslieder von Freund und Gefährtin interpretiert, die zugleich die Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Volk Israel symbolisieren.

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