Halacha der äthiopischen Juden

Ob es uns gefällt oder nicht: Durch die Zerstreuung der Juden haben sich im Laufe der Zeit verschiedene religiöse Traditionen herausgebildet.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

Ob es uns gefällt oder nicht: Durch die Zerstreuung der Juden haben sich im Laufe der Zeit  verschiedene religiöse Traditionen herausgebildet. Die seit Jahrhunderten bestehenden Unterschiede sind zu respektieren; jeder Versuch einer Gleichschaltung der verschiedenen Richtlinien wird vorhandene Konflikte weiter zuspitzen. Nur auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass es im Staat Israel sowohl einen aschkenasischen als auch einen sephardischen Oberrabbiner gibt.

Weit weniger bekannt ist der Oberrabbiner der dunkelhäutigen äthiopischen Juden in Israel, Rabbiner Joseph Hadana. Diese "Landsmannschaft", sie nennt sich Beta Israel, kann man in der Tat weder den aschkenasischen Juden noch den sephardischen Juden zuordnen. Juden kamen nach Äthiopien, bevor der Talmud, das Hauptwerk des rabbinischen Judentums, in Babylonien redigiert wurde, und ihre Nachkommen verloren den Kontakt zu allen übrigen jüdischen Gemeinschaften. So unglaublich wie es klingen mag: Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die äthiopischen Juden, dass es in anderen Teilen der Welt Menschen gibt, die ebenfalls nach den Gesetzen der  Tora leben.

Im Jahre 1973 entschied der damalige israelische Oberrabbiner Ovadia Yosef, dass die Mitglieder von Beta Israel als Juden anzuerkennen sind. Damals lebten in Israel nicht einmal 100 äthiopische Juden. In den folgenden Jahren sind mehr als 80 000 jüdische Einwanderer aus Äthiopien nach Israel gekommen. Durch natürlichen Wachstum zählt die dunkelhäutige "Gemeinde" heute mehr als 120 000 Seelen. Dass der Übergang von der afrikanischen Gesellschaft in die moderne Kultur Israels nicht problem- und reibungslos vor sich ging, liegt auf der Hand.

Wie lebten die Beta Israel in Äthiopien? Diese Frage hat zahlreiche Forscher beschäftigt. Sie ist deshalb nicht leicht zu beantworten, weil es nur sehr wenige schriftliche Aufzeichnungen darüber gibt. Religiöse Vorschriften und Bräuche spielten eine außerordentlich wichtige Rolle, aber sie wurden nicht – wie bei den europäischen Juden – in religionsgesetzlichen Werken festgehalten. Rabbiner Sharon Shalom, ein aus Äthiopien stammender und in Israel aufgewachsener Hochschullehrer und Gemeindeführer, hat nun eine Art "Schulchan Aruch" (Kodex der Religionsvorschriften) vorgelegt, der die Halacha der äthiopischen Juden ins Detail gehend darstellt. Shalom hat viele Kenner der Beta Israel-Halacha befragt und die gesammelten Informationen systematisch geordnet. Sein materialreiches Werk hat der Autor einigen Gelehrten vorgelegt; alle haben seine Arbeit gelobt. Wie in halachischen Publikationen üblich, zieren einige Empfehlungsschreiben Shaloms Buch.

Um die Besonderheiten der äthiopischen Religionspraxis zu verdeutlichen, kontrastiert Shalom das, was in Äthiopien als Halacha galt, mit dem, was im bekannten "Schulchan Aruch " kodifiziert ist. Die Differenzen sind erstaunlich groß! Hier seien lediglich wenige Beispiele angeführt. So begannen die äthiopischen Juden mit dem Omerzählen nach dem letzten Tag von Pessach und nicht, wie in der ganzen Welt üblich, nach dem ersten Tag; dadurch ergab sich, dass bei ihnen das Schawuot-Fest stets auf den 12. Siwan fiel ( bei allen anderen Juden wird es am 6.Siwan gefeiert). Fällt Jom Kippur auf Schabbat, so wird kein europäischer Jude an diesem Tag essen; in Äthiopien hingegen durfte niemand am Schabbat fasten. Bei uns fasten Knaben erst ab dem Alter von 13 Jahren; in Äthiopien wurden schon siebenjährige Kinder zum Fasten angehalten. Kiddusch wurde nur über Brot gemacht, da Wein stets strikt verboten war; wer Wein trank, wurde in Äthiopien fast als ein Götzendiener betrachtet.

Merkwürdig ist, dass es in Äthiopien nicht üblich war, am Neujahrsfest Schofar zu blasen – das Schofarblasen ist nämlich in der Tora (Leviticus 23,24 und Numeri 29,1) vorgeschrieben. Als einen der Gründe für die Nichteinhaltung des Gebotes nennt Shalom die Angst, dass die Nichtjuden Schofartöne als Signal für eine Rebellion interpretieren könnten.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Beta Israel ein Fest feiert, das erst in unseren Tagen den anderen jüdischen Gemeinschaften bekannt wird. Genau 50 Tage nach Jom Kippur (am 29. Cheschwan) begehen die äthiopischen Juden das Sigd-Fest. Wie Shalom ausführt, hat dieser Fast- und Feiertag mehrere Bedeutungen: es ist ein Tag der geistigen Erneuerung; an ihm wird des Bundes mit Gott gedacht und bestimmte Abschnitte aus der Bibel vorgelesen; gebetet wird um die Rückkehr der Juden nach Jerusalem. Mit recht stellt der Autor fest, dass die Werte, um die es am Sigd-Fest geht – Aussöhnung, Liebe und Bundestreue -, stets aktuell bleiben.

Dem Autor geht es darum, die Halacha von Beta Israel anderen Gruppierungen vorzustellen. Aber er hat in erster Linie an die eigenen Leute gedacht. Nach der Beschreibung der verschiedenen Positionen gibt Shalom Empfehlungen, wie man sich heute in Israel verhalten sollte. Mit großer Vorsicht behandelt er Probleme, die nicht leicht zu lösen sind. In vielen Fragen gibt der Verfasser zwei Empfehlungen: eine für die Alten und eine andere für die junge Generation. Über den einen oder den anderen Punkt lässt sich natürlich diskutieren. Dass Shalom  eine solide Diskussionsbasis geschaffen hat, ist sehr verdienstvoll.

Die Anpassung von Beta Israel an die Verhältnisse in der neuen Heimat ist ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Nicht wenige Jugendliche schwanken und suchen ihren Platz im Spektrum der religiösen und säkularen Gruppen. Shaloms Werk kann ihnen bei der Klärung lebenswichtiger Fragen gute Dienste leisten.

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