Sprung über den Schatten

Die Tora zeigt: Prüfungen geben dem Menschen Gelegenheit, über sich selbst hinauszuwachsen ...

3 Min.

Rabbiner Jaron Engelmayer

gepostet auf 05.04.21

DIE TORA ZEIGT: PRÜFUNGEN GEBEN DEM MENSCHEN GELEGENHEIT, ÜBER SICH SELBST HINAUSZUWACHSEN
 
Wann haben diese Prüfungen endlich ein Ende! Wer in der Schule ist, denkt, mit dem Abitur sei es vorbei mit Klausuren. Im Studium wird auf das Schlussexamen hin gehofft. Doch spätestens mit der Ankunft im Alltag der Arbeitswelt und der Verantwortung für eine Familie stellt man fest: Prüfungen sind ein nicht weichender Teil unseres Lebens. Würde es sie nicht geben, wäre das Leben vermutlich eintönig und langweilig. Herausforderungen sind da, um gemeistert zu werden, Probleme existieren, um gelöst zu werden – dies hat ein Arbeitnehmer bestimmt schon gelegentlich von seinem Arbeitgeber zu hören bekommen.
 
Der Vater aller Geprüften war Awraham: „Durch zehn Prüfungen wurde unser Vater Awraham geprüft, und er bestand alle, um zu zeigen, wie groß seine (Gottes-)Liebe war“, berichtet die Mischna in den Sprüchen der Väter (5,4). Dass Awraham von Gott geprüft wurde, ist ein Umstand, den die Tora ausdrücklich nennt. Den göttlichen Befehl an Awraham, seinen geliebten Sohn Jitzchak zu opfern, leitet die Tora mit den Worten ein: „Und es geschah nach diesen Begebenheiten, und Gott prüfte Awraham.“

Wenn ein Lehrer seine Schüler prüft, möchte er herausfinden, ob sie der Prüfung gewachsen sind und sie bestehen werden. Wozu jedoch war es notwendig, dass Gott Awraham prüft? Kennt Gott die Hingabe des Prüflings etwa noch nicht, dass sie getestet werden muss? Weiß Er, der Allwissende, denn nicht schon, ob der zu Prüfende die Prüfung bestehen wird? Worin liegt also der Sinn einer solchen Prüfung?

Ramban (Rabbi Mosche ben Nachman) erklärt den Zweck solcher Prüfungen als die Verwirklichung von Potenzial. Im Gegensatz zu Potenzial, das nutzlos im Verborgenen schlummert, haben Taten Gewicht und können die Welt verändern. Prüfungen kommen insbesondere dem Geprüften zugute, der durch sie die Möglichkeit erhält, sein Potenzial umzusetzen und zu verwirklichen. Gott lässt überdies einem Gerechten Herausforderungen zukommen, denen er gewachsen ist und die er meistern kann. Außerdem gilt es, die Wirkung auf das Umfeld zu berücksichtigen. Der Gerechte trägt das Potenzial in sich, und Gott weiß, dass er im Falle einer Prüfung bestehen würde. Doch die Umwelt weiß es nicht. Um auch diese Wirkung zu zeitigen, ist es notwendig, dass jeder sehen und erkennen kann, welche Kräfte in einem Menschen stecken können! Erst durch die Anwendung dieser Kräfte anhand einer Prüfung können diese erkannt werden und somit einen Einfluss auf andere Menschen ausüben.

Zehn Prüfungen hatte Awraham zu bestehen. Jedoch werden diese in der Erzählung der Tora nicht aufgelistet oder etwa nummeriert. Dies führt dazu, dass sich die Kommentatoren darüber uneinig sind, welche Begebenheiten im Leben Awrahams zu diesen zehn Prüfungen zu zählen sind. Als letzte und schwerste Prüfung erachten viele Kommentatoren den schon oben erwähnten göttlichen Befehl an Awraham, seinen Sohn Jizchak zu opfern. Dieser Meinung schließen sich unter anderen Rabbi Ovadja Mibartenura und der Rambam (Rabbi Mosche ben Maimon) an und berufen sich dabei auf die frühere Quelle Avot de-Rabbi Nathan.

Eine andere, recht erstaunliche Meinung vertritt jedoch Rabbeinu Jona aus Gerona. Er ist der Ansicht, dass die (Beinahe-) Opferung Jitzchaks nicht die letzte, sondern die vorletzte Prüfung Awrahams gewesen sei. Der Kauf der Höhle zu Machpela, von dem wir zu Beginn unseres Wochenabschnittes lesen, sei die letzte der zehn Prüfungen gewesen. Diese Interpretation ist insofern erstaunlich, als wir logischerweise davon ausgehen können, dass jede Prüfung größer und schwerer als die vorangehende gewesen sein muss. (Es hätte keinen Sinn, einem fortgeschrittenen Schüler der fünften Klasse eine leichtere Prüfung zu geben als einem Schüler der dritten Klasse.) Ist es denn denkbar, dass der bloße Kauf einer Höhle für einen vermögenden Mann wie Awraham eine größere Herausforderung darstellte als die Opferung des geliebten Sohnes?

Tatsächlich, so ist es! Mit folgender Begründung:

Als Awraham den Befehl Gottes erhielt, seinen Sohn zu opfern, wusste er um die Größe der Stunde und deren Bedeutung für die gesamte Menschheit. Er, der von Gott auserwählte, erhielt vom Allmächtigen selbst den Auftrag, seine Liebe zu Gott mit vollkommener Hingabe unter Beweis zu stellen. Ein Mensch ist imstande, über sich hinauszuwachsen und Unvorstellbares bis zur vollkommenen Hingabe zu leisten, wenn die Bedeutung der Stunde es von ihm verlangt! Solche Hingabe zeugt tatsächlich von Größe.

Wahre Größe aber zeigt sich – danach! Was geschieht nach dem Erreichen des Höhepunkts? Wie verhält sich der Geprüfte, wenn er in den Alltag zurückkehrt? Wie geht er da mit all den kleinen Herausforderungen um? Ist er auch dort imstande, über sich selbst hinauszuwachsen und ein wahres Vorbild zu sein?

Auf Awraham traf dies zu. Er verstand es, selbst in alltäglichen Stresssituationen ein wahres Vorbild in seinem Verhalten zu sein. Auch als seine geliebte Frau Sara unerwartet starb und er, um sie zu begraben, für den Erwerb eines kleinen Stückes Land einen langwierigen und zermürbenden Handel mit Efron und den Hetitern eingehen musste (obwohl ihm von Gott das ganze Land vielfach versprochen wurde!), verlor Awraham weder die Nerven noch seine Höflichkeit und seine herzensgute Art, mit den Leuten umzugehen. Wer nicht nur in den großen Momenten, sondern auch und vor allem in den alltäglichen Herausforderungen ein solches Verhalten zeigt, kann uns wahrhaft als ewiges Vorbild in unseren eigenen tagtäglichen Prüfungen dienen.
 
Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln und Mitglied in der ORD.

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