Warten auf Gottes Eingriff

Im Siddur "Awodat Israel", der 1868 in Deutschland veröffentlicht wurde, ist verzeichnet, dass man am 10. Tewet Psalm 74 zu sagen pflegt.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Bemerkungen zu Psalm 74

Im Siddur "Awodat Israel", der 1868 in Deutschland veröffentlicht wurde, ist verzeichnet, dass man am 10. Tewet Psalm 74 zu sagen pflegt. Warum diesem Fasttag gerade dieses Kapitel zugeordnet wurde, liegt auf der Hand. Am 10. des Monats Tewet begann der babylonische König Nebukadnezar die Belagerung der Stadt Jerusalem, die dann mit dem Churban, mit der Zerstörung des Heiligtums endete. Von ebendieser Katastrophe ist in unserem Psalm die Rede: " Sie steckten in Brand Dein Heiligtum, entweihten zu Boden die Stätte Deines Namens " (Vers 7 ). Zwar heißt es im Vers 9: " Es ist kein Prophet mehr da ", und nach der Zerstörung des 1. Tempels gab es durchaus noch Propheten. Wie Amos Chacham erklärt, darf man die Aussage nicht dahingehend interpretieren, dass der Psalmist von einer späteren Epoche spricht, als keine Propheten mehr wirkten; der Psalmist beklagt lediglich die Tatsache, dass kein Prophet da ist, der um Erbarmen bittet und die verhängnisvolle Zerstörung abzuwenden vermag.
 

Man hat Psalm 74  als ein Klagelied bezeichnet. Diese Einordnung ist ohne Zweifel richtig, aber man sollte gleich hinzufügen, dass wir in diesem Kapitel sowohl eine Hymne als auch ein Bittgebet erkennen können.  Zwischen den verschiedenen Teilen ( Klage, Lob und Bitte ) besteht ein Sinnzusammenhang, den der Leser nicht übersehen darf. Rabbiner S. R. Hirsch leitet seinen Kommentar zu unserem Psalm wie folgt ein: "Dieser Psalm lehrt, aus der Betrachtung des vollendeten Churban- und Galut-Zustandes selbst die Zuversicht in die einstige Erlösung zu schöpfen. Er findet in der Einbuße, welche die zu erzielende Gotteserkenntnis im Kreis der Völker durch die völlige Zertrümmerung des Gottesheiligtums und der völligen Niederwerfung des Gottesvolkes erleidet, Grund zur Hoffnung auf ein endliches Ende dieser trostlosen Zustände. Diese Hoffnung spricht sich in an Gott gerichteten Vorstellungen aus."

Die Klage des Psalmisten bezieht sich einerseits auf die Schandtaten der Feinde: "Laut brüllten Deine Widersacher im Tempel Deiner Stiftung"  (Vers 4). Beklagt wird aber auch Gottes Zurückhaltung in der katastrophalen Situation: "Bis wann denn, Gott, soll der Dränger schmähen? Soll denn ewig der Feind Deinen Namen höhnen? Warum ziehst Du Deine Hand und Deine Rechte zurück? Heraus (mit ihr) aus Deinem Busen, vertilge!" ( Verse 10 und 11).

Kontrastiert wird die beklagte Passivität Gottes mit seinen hilfreichen Handlungen in der Vergangenheit : "Gott ist doch mein König vom Anfange, er schafft Hilfe inmitten des Landes. Du hast zerstückt mit Deiner Macht das Meer, zerschmettert die Köpfe der Drachen auf dem Wasser. Du hast zerschlagen die Köpfe des Livjatan, gibst ihn zur Speise dem Volke, den Wüstenbewohnern. Du hast gespalten Quell und Bach, hast ausgetrocknet ewig flutende Ströme"( Verse 12 bis 15).

Wie ein logischer Schluss ergibt sich aus den Klagelied- und Lob- Passagen die folgende Bitte: Möge Gott in der jetzigen Not wie früher hilfreich in die Geschichte Israels eingreifen." Erwäge dies! Gott hat der Feind geschmäht, und ein entarteter Menschenkreis Deinen Namen gehöhnt. Überlasse nicht dem Raubgetier die Seele Deiner Turteltaube, das Leben Deiner Armen vergiss nicht auf immer. Schaue auf den Bund: denn voll sind die Winkel des Landes von Wohnungen der Gewalt" (Verse 18 bis 20 ). Hier wird Gott gewissermaßen ermahnt, Seine Pflichten als Bündnispartner Israels wahrzunehmen.

Der Psalmist unterstreicht die Tatsache, dass der erbetene Eingriff nicht nur um Israels willen erfolgen soll: "Erhebe Dich Gott, streite Deinen Streit! Gedenke Deiner Verhöhnungen von dem Niederträchtigen den ganzen Tag. Vergiss nicht! Es ist die Stimme Deiner Dränger! Es ist das Toben Deiner Empörer, das unablässig aufsteigt" ( Verse 22 und 23 ). Rabbiner Hirsch kommentiert: "Der Hass und die Anfeindung, die uns treffen, sind doch auf uns nur gerichtet, weil wir die Deinen sind. Dir gilt ihre Feindschaft, Dich, das Bewusstsein von Deiner Waldung, Deinen Willen, Deinen Pflichtforderungen, dessen Träger wir sind, und das ihrem Willkürleben im Weg ist, wollen sie in uns vernichten. Es ist Deine Sache, die Erreichung Deines Menschheitsziels, die in uns bedroht ist. Für die Rettung Deiner Sache wollest Du Dich erheben."
 

An die Ereignisse vor und nach der Tempelzerstörung erinnern uns jedes Jahr gleich mehrere Fasttage. Die Botschaft von Psalm 74, der am 10. Tewet zu rezitieren ist, hat, wie ein Blick in Nachrichtensendungen unserer Tage zeigt, an Aktualität nichts verloren.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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