Was wollte der Rabbi?

Nicht wenige Autoren neigen dazu, die Wirkung und die Lebensdauer ihrer geliebten Werke zu überschätzen - das ist allzumenschlich und nicht überraschend...

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

Was wollte Rabbiner S.R. Hirsch?

Nicht wenige Autoren neigen dazu, die Wirkung und die Lebensdauer ihrer geliebten Werke zu überschätzen – das ist allzumenschlich und nicht überraschend. Bei Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808- 1888) liegt der Fall genau umgekehrt; dieser Regenerator des traditionellen Judentums in Deutschland hat sich gegen Ende seines Lebens pessimistisch über die Zukunft seiner eigenen Schriften geäußert: "Viele werden sich an meinen Namen erinnern, aber niemand wird meine Bücher lesen." Tatsache ist, dass viele seiner Veröffentlichungen im 21. Jahrhundert immer noch studiert und diskutiert werden, so u.a. seine Kommentare zum Pentateuch und zu den Psalmen. Über den Mann, der nie einen akademischen Titel erworben hat, werden Doktorarbeiten verfasst. Das hier vorzustellende Buch von Roland Tasch beruht auf seiner Dissertation, die unter der Begleitung von Prof. Christoph Schulte geschrieben und am 21.Mai 2010 an der Universität Potsdam verteidigt wurde.

 

In der Einleitung referiert Tasch eine Reihe von Studien über Hirsch. Diese Darstellung der Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Forscher in der Bewertung der Leistungen von Hirsch ganz unterschiedliche Urteile gefällt haben. Tasch erklärt, er habe sich vorgenommen, zwei Fragen zu klären: "Was sind die modernen geistesgeschichtlichen und historischen Einflüsse auf Hirsch und wie haben sie sich in seinem Werk niedergeschlagen?" Gegliedert hat er  seine Arbeit in einen historisch- biographischen und einen werkanalytischen Teil (beide Teile umfassen jeweils 5 Kapitel).

Tasch beschreibt Hirschs Lebensweg sehr anschaulich. Er amtierte als Gemeinderabbiner in Oldenburg, in Emden, in Nikolsburg und 37 Jahre lang in Frankfurt am Main; der Autor erklärt die Gründe für den jeweiligen Ortswechsel. Die verschiedenen ideologischen Kämpfe, in die der gesetzestreue Rabbiner hier und da verwickelt war, werden deutlich gemacht. Tasch hat beeindruckend viel Material gesichtet; er geht auf zahlreiche Einzelfragen ein und verliert dabei nie die große Linie aus den Augen. Bei der Menge der vorliegenden Literatur über Hirsch kann man natürlich nicht erwarten, dass sämtliche Arbeiten berücksichtigt werden. Verwunderlich ist es aber doch, dass Tasch Rabbiner E.M.Klugmans umfangreiche englische Hirsch-Biographie (New York 1996) nicht erwähnt; die Beschäftigung mit Klugmans Werk hätte ihn vor Ungenauigkeiten bewahren können. So spricht Tasch davon, dass Hirsch immer der väterlichen Verantwortung gegenüber seinen 9 Kindern nachgekommen sei; bei Klugman sind die Namen von 10 Kindern aufgelistet.

Vor 20 Jahren hat Klugman religionsgesetzliche Gutachten (Responsa) und Briefe von Rabbiner Hirsch unter dem Titel "Shemesh Marpe" veröffentlicht. Dieses hebräische Werk scheint Tasch unbekannt zu sein. Anscheinend beherrscht der Autor  die hebräische Sprache nicht; diese Vermutung legen etliche Transkriptionsfehler nahe, die hier nicht aufgelistet werden sollen. In seiner Besprechung des Problems der Trauungen, die Hirsch in der Synagoge und nicht draussen unter freiem Himmel vollzog, erwähnt Tasch die Argumente eines liberalen Rabbiners für diese Praxis und merkt an: "Es ist anzunehmen, dass sich Hirsch ähnlicher Argumente bediente." In Wirklichkeit sind wir nicht auf Vermutungen angewiesen: Hirsch hat in seiner Nikolsburger Zeit zwei Responsa zu diesem Thema verfasst (nachzulesen in "Shemesh Marpe" ,Nr.79 und Nr. 80).

Im werkanalytischen Teil referiert Tasch die Ansichten von Hirsch zu folgenden Themenkomplexen: Symbolische Hermeneutik; der Einzelne und das Volk; Kalenderbetrachtungen; der Gottesstaat. Immer wieder vergleicht er Hirschs Lehren mit den Auffassungen christlicher Denker, so z.B. mit Kierkegaard. Er gelangt zu dem überzeugenden Schluss, dass man bei Hirsch weitgehende Folgerungen hinsichtlich einer einseitigen geistigen Abhängigkeit nicht ziehen darf: "Er ist weder der Hegelianer, als den ihn Leo Trepp gerne sehen möchte, noch der Kantianer, wie er von Marvin Fox dargestellt wird, sondern bemüht sich vielmehr, gemeinsam mit seiner Generation, die idealistischen und romantischen Systeme zu einer Symbiose zu führen. Diese Symbiose liegt für ihn im Judentum." Tasch meint, dass Hirsch viel stärker im deutschen Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet ist als er selber wahrhaben wollte.

Die zentrale These der Arbeit von Tasch besagt: "Hirsch betritt mit dem  >Festkreis<  philosophisches Neuland. Das will sagen: in dem Begriff >Festkreis < bringt Hirsch etwas zum Ausdruck, das noch nicht auf eine wissenschaftliche Tradition zurückgreifen kann. Zwar thematisierten seinerzeit auch christliche Forscher die religiösen Feste, aber das alles ist nichts gegen S.R.Hirsch, dessen wuchtige Gedankenwelt den in den Kreislauf des Jahres eingeschriebenen Festkalender zum Beitrag des Judentums an der Entwicklung der Kultur des Menschengeschlechts macht." Die Behauptung, dass Hirsch philosophisches Neuland betreten habe, erscheint mir fragwürdig. Gewollt hat Hirsch dies sicher nicht; ihm ging es stets nur darum, die Lebendigkeit des gesetzestreuen Judentums zu sichern. Das beweisen viele Stellen, die Tasch anführt. Ohne Zweifel ist es ein Verdienst seiner Dissertation, dass sie die Leser anregt, sich mit heute kaum noch bekannten Schriften von Hirsch (z.B. mit seiner Abhandlung "Grundlinien einer jüdischen Symbolik") erneut zu beschäftigen.

Roland Tasch, Samson Raphael Hirsch. Jüdische Erfahrungswelten im historischen Kontext. Studia Judaica Forschungen zur Wissenschaft des Judentums, Band 59. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2011. 488 Seiten

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