Ursache und Wirkung

Manchmal finden wir uns an einem Punkt, an dem wir nicht sein wollen und wissen gar nicht, wie wir da hin gekommen sind. Wie hätten wir den Prozess rechtzeitig stoppen können?

4 Min.

Rabbiner Shalom Arush

gepostet auf 15.03.21

Der Gefange E. sitzt jahrelang im Gefängnis, nachdem er Mord in mehreren Fällen, und dutzende Fälle von Diebstahl und Betrug gestanden hat. Von frühester Jugend war er ein Verbrecher. Er war nicht wirklich "aus der Spur" gekommen, er hatte einfach seine eigene Spur in der die allgemeinen Gesetze nicht galten. Und jetzt hatte E. die Früchte seiner Taten geerntet und sitzt seine Strafe ab.

Er sitzt in seiner Zellt und denkt nach. Was er denkt? "Warum sitze ich eigentlich hier? Wie bin ich hierhier gekommen? Warum sitze ich hinter Schloss und Riegel, statt draußen in der Freiheit herum zu laufen?"

Wie bitte? Hat er etwas schon vergessen, was er an unsagbaren Dingen verbrochen hat? Und nicht nur er, auch die Mitgefangen, die Wärter, Polizei und Staatsanwalt, sogar der Richeter: Keiner hat eine überzeugende Antwort für E., warum er ist, wo er ist.

Dann kommt die Überraschung: Der Präsident des obersten Gerichtshofs schickt E. eine Nachricht ins Gefängis und gibt ihm die Antwort: "Du sitzt im Gefängnis, weil du bei Rot über die Straße gegangen bist…" Aber was soll das für eine Antwort sein – jahrelang Gefängnis für bei Rot über die Straße?!

 

Warum ist das Land verloren?

Was das Seltsamste ist – die gleiche Frage und Antwort taucht auch in der Gemara auf. Der Prophet Jermijahu schreibt: "Wer ist weise, dass er dies versteht, was der Mund HaShems mir gesagt hat: Warum ist das Land verloren und zur Wüste geworden?" (Jermijahu 9, 11). Wer kann die Frage des Propheten beantworten – Warum ist das Land verloren? Die Gemara führt weiter aus: diese Frage wurde den Weisen und Propheten gestellt, und keiner konnte sie beantworten, bis der Heilige selbst, gepriesen sei er, sie beantwortete.

Die Kommentatoren sind hier verwirrt. Die ganze Torah ist voll von Erklärungen, was Am Israel geschen wird, wenn sie nicht auf HaShem hören, in den Abschnitten des Shma und in vielen anderen Abschnitten. Und die Propheten beschreiben genau, was Am Israel falsch gemacht hat in den Generationen vor der Zerstörung des Tempels: Avoda sara, Unzucht, Mord, Ausbeutung und Diebstahl – und jetzt weiß plötzlich keiner, warum die lang angekündigte Konsequenz eingetreten ist?!

Es gibt hier mehrere Fragen. Die erste: was soll die Frage überhaupt, jedes Kind weiß, warum die Zerstörung gekommen ist? Die zweite: Wenn die Antwort so einfach ist, warum konnten die Weisen und die Propheten dann nicht antworten? Die dritte: Warum fragt die Gemara, warum das Land verloren ist – was passiert ist, kann man nicht mehr ändern, was sollen unsere Weisen uns lehren, wenn sie nochmal nachfragen?

Und die Antwort, die die Gemara gibt, wirft eine vierte Frage auf. Die Antwort auf die Frage Jermijahus gibt der Heilige, gepriesen sei er, im nächsten Vers selbst: "Weil sie meine Torah verlassen haben, die ich ihnen gegeben habe, und auf meine Stimme nicht gehört haben, und ihr nicht gefolgt sind". Hier ist zumindest schon mal unklar, was dieser Vers sagt, was wir nicht sowieso schon wussten. Und die Gemara ergänzt zu dieser Antwort HaShems etwas, was völlig unlogisch erscheint: "Weil sie nicht zuerst die Torah gesegnet haben." Was soll das denn heißen?

 

Der Beginn eines Prozesses

All das legt Rabbiner Nathan von Breslev im Buch Likutei Halachot dar, und er erklärt: Wir sehen, wie es in der Realität ablaüft mit Menschen, die vom Weg abkommen. In aller Regel stehen sie nicht plötzlich eines Morgens auf und werfen alles hin. Sie machen einen stufenweisen Prozess durch, sei er lang oder kurz. Es beginnt mit ein wenig Verachtung für eine kleine Mitzvah, einer Veränderung in der Art des Sprechens, in der Kleidung. Jemand findet schlechte Freunde, surft auf gefährlichen Websites, und erst danach bricht er Shabat oder begeht andere schlimmere Vergehen. Genauso ist es auch mit dem Abstieg ins Verbrechen, das passiert nicht plötzlich eines Tages, das ist ein Prozess.

Die Frage der Gemara ist also nicht, warum Am Israel bestraft wurde, sondern: wie begann dieser Prozess des Abstiegs? Was ist der Auslöser, der den Schneeball zum Abhang rollt, wo er zur Lawine wird? Und nicht nur um den Auslöser geht es, sondern was ist die Wurzel des Problems, die die den ganzen Abstieg begleitet, die ein Anhalten und Tshuva verhindert? Wie kann es sein, dass die Generationen des ersten Tempels, Priester, Propheten, Könige, dass diese Gesellschaft solch schlimme Vergehen begeht? Diese Frage nach der Wurzel können die Weisen und Propheten nicht beantworten, nur der das Verborgene kennt, kann sie beantworten.

Diese Frage ist dann sehr relevant für uns heute. Denn ein Abrutschen in Sünde, ein spiritueller Abstieg, das gibt es bis heute. Und wir müssen uns davor in acht nehmen, genauso wie alle Generationen vor uns. Wenn wir wissen, was die Wurzel des Problems ist, dann können wir es Aufhalten, bevor die Situation außer Kontrolle gerät und nicht mehr korrigiert werden kann.

Und außerdem – wenn wir den Grund für die Zerstörung der Tempel und das Exil kennen, dann haben wir auch die Möglichkeit, diese Situation von Grund auf zu korrigieren und das Exil zu beenden!

 

Was ist also die Antwort?

Wie müssen wir also die Antwort des Heiligen, gepriesen sei er, verstehen: "Weil sie nicht zuerst die Torah gesegnet haben"? Rabbiner Nathan erklärt: Die Herzen Israels brennen für HaShem und auch nachdem sie getan haben, was sie getan haben, stand ihnen immer ein Weg offen, umzukehren und zu korrigieren. Aber sie hatten ein tiefes inneres Problem: ein Mangel an Wertschätzung. Sie haben die Torah nicht gesegnet, sie haben nicht wertgeschätzt was für ein einmaliges, kostbares Geschenk HaShem ihnen anvertraut hat. Und wenn ein Mensch keine Wertschätzung für die Dinge aufbringt, die er hat, dann steigt er ab in die tiefsten Abgründe und kann daraus nicht aufsteigen.

Aber eine sehr gute und erhabende Charaktereigenschaft ist es, wenn ein Mensch zu schätzen weiß, was er hat, und sich an seinem Teil freut. Wer diese Eigenschaft hat, kann nach jedem Hinfallen wieder aufstehen.

Rabbiner Nathan schreibt es so: "weil sie ihre Herzen nicht dazu hingegeben haben, sich über die Torah zu freuen, und HaShem zu segnen und zu preisen und ihm zu danken, in jedem Moment, für seine wunderbare und übergroße Güte, die er an uns getan hat, dass er uns auserwählt hat von allen Völkern… Jeder, auch wenn er gefallen ist, und sich entfernt hat, gerade dann, muss er es sich zur Gewohnheit machen, zu danken und zu preisen, für die vielleicht ganz wenigen guten Dinge, die es in ihm noch gibt. Und auf diese Weise wird er aus aller Bedrängnis fliehen und sich dem Ewigen, gepriesen sei er, nähern können."

Das heißt, dass durch die Freude und die Wertschätzung von allem, was ein Mensch hat, dieser Weg ist der empfehlenswerte und das ist die Basis und Wurzel für alles Vorwärtskommen und Aufsteigen im Leben. Und wenn diese Dinge fehlen, dann steigt ein Mensch ab, spirituell und materiell.

Der Chidusch, die große Neuerung, die Rabbiner Nathan hier bringt, ist, dass dies nicht nur der Schlüssel für spirituelle Rettung und Aufstieg ist, sondern aus aller Bedrängnis befreit.

Möge es uns vergönnt sein, dem Schöpfer der Welt immer zu danken, und jede gute Sache wertzuschätzen!

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