Trauer um das eigene Kind

Nicht wenige Leute scheuen den Besuch in einem Trauerhaus. Warum diese Scheu? Weil man bei solchen Gelegenheiten oft sehr nachdenklich wird.

4 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 04.04.21

Nicht wenige Leute scheuen den Besuch in einem Trauerhaus. Warum diese Scheu? Weil man bei solchen Gelegenheiten oft sehr nachdenklich wird und weil es in der Tat keine leichte Aufgabe ist, passende Worte des Trostes zu finden. Angesichts dieses Sachverhaltes können wir den folgenden Bibelvers gut verstehen: "Besser ist zu gehen ins Haus der Trauer als zu gehen ins Haus des Mahles; dieweil jenes aller Menschen Ende, und der Lebende sichs zu Herzen nehmen mag" (Kohelet 7,2).

Der Umgang mit Trauernden erfordert eine besondere Empathie. Es gibt nützliche Bücher, die auflisten, was Besucher sagen können und vor allem, was sie besser nicht zur Sprache bringen sollten. Die Besonderheiten des jeweiligen Falles sind natürlich zu berücksichtigen. Zwei große Gruppen von Trauernden sind zu unterscheiden. In der Regel sterben die Eltern vor ihren Kindern; das bringt der natürliche Lauf der Dinge mit sich. Aber es gibt nicht wenige Ausnahmen von dieser Regel. Man denke z.B. an junge Soldaten, die im Krieg gefallen sind, oder an Unfälle der verschiedensten Art. Unter solchen Umständen fällt der früheren Generation die Aufgabe zu, ihre Nachkommen zu betrauern.

In der Bibel finden wir mehrere Eltern, die um Kinder getrauert haben. Die Familie von Adam und Eva ist das erste Beispiel; die ersten Menschen verloren ihren Sohn Abel durch einen Mord! Jehuda, der vierte Sohn von Leah und Jakob, verlor hintereinander zwei seiner Söhne, Er und Onan. Aharon HaKohens Söhne, Nadaw und Awihu, starben gleichzeitig. Die Tora erwähnt, dass der Vater nach dem schrecklichen Ereignis schwieg; in vorbildlicher Weise ergab Aharon sich in das gerechte Urteil, das der Ewige über seine Söhne verhängt hatte. Auch König David verlor, wie im biblischen Buch Samuel nachzulesen ist, mehrere Kinder; sein Sohn Abschalom hatte eine Rebellion gegen seinen Vater, den König, angezettelt, und doch hat David Abschaloms Tod bitter beklagt.

Wer in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis den Trauerprozess um ein Kind beobachten konnte, weiss um die besonderen Schwierigkeiten bei der Bewältigung dieser Aufgabe; sie belastet das Familienleben oft eine sehr lange Zeit. In diesem Artikel soll auf einen außergewöhnlichen Fall hingewiesen werden, bei dem der Prozess der Trauer um einen Sohn nun schon mehr als 60 Jahre dauert.

Der auch in den deutschsprachigen Ländern bekannte amerikanisch-jüdische Schriftsteller Herman Wouk (Jahrgang 1915) hat seinen erstgeborenen Sohn Abe (1946-1951) im mexikanischen Cuernavaca verloren; der aufgeweckte Knabe ist im Swimmingpool ertrunken. Es ist anzunehmen, dass der observante Autor eines Buches über das Judentum ("Er ist mein Gott") die jüdischen Trauerriten eingehalten hat. Die Eheleute Wouk haben im Jahre 1954 eine wohltätige Stiftung zur Erinnerung an ihren Sohn Abe errichtet, die, wenn man den Angaben im Internet trauen darf, noch heute vielen Menschen hilft.

Jahrzehnte später hat Wouk eines seiner Hauptwerke, den Roman "War and Remembrance" (1978), Abe gewidmet. Aufmerksamen Lesern mag sich die Frage aufgedrängt haben: Warum hat Wouk gerade diesem Roman über den 2. Weltkrieg eine Erwähnung von Abe vorangestellt? Mehr als 30 Jahre später hat der Autor zumindest einen der Gründe für die rätselhaft scheinende Widmung verraten.

Im dieses Jahr veröffentlichten Memoirenwerk "Sailor and Fiddler. Reflections of a 100-Year-Old Author" (New York 2016) kommt Wouk erneut auf den verlorenen Sohn Abe zu sprechen: " Über diese Katastrophe, von der wir uns nie ganz erholt haben, schrieb ich nicht noch werde ich dies tun." Dieser schlichte Satz bedarf eines Kommentars. Wouk zeigt im gesegneten Alter von hundert Jahren in seinem erklärtermassen letzten Buch, wie seine eigenen Erfahrungen sowie das Leben seiner Familienangehörigen und Bekannten in verkappter Form Eingang in seine Bücher fanden. Im zitierten Satz deutet der Verfasser an, über den Tod des Sohnes hätte er ebenfalls eine Geschichte schreiben können, dies  aber unverdeckt nicht getan. Wouks Leser müssen diese Entscheidung akzeptieren. Wir wollen über die Gründe der untypischen Zurückhaltung nicht spekulieren. Auch ein offenherziger Schriftsteller darf bestimmte Erlebnisse und ihre Folgen für sich behalten. Dazu gehört im Falle Wouk die unabgeschlossene Trauer-Geschichte.

Im Epilog von "Sailor and Fiddler" kommt Wouk überraschenderweise ein weiteres Mal auf seinen 1951 verstorbenen Sohn zu sprechen: "Überall,wo ich in meinen Büchern über den Tod geschrieben habe, war es , in der einen oder anderen Weise, über Abe. Louis, der bedrohte Sohn von Natalie im Roman War and Remembrance ist beinahe ein Porträt von Abe; allerdings habe ich diesem kleinen Jungen gestattet zu überleben." Im Abe gewidmeten Erzählwerk aus dem Jahr 1978 hat der Vater das tragische Geschehen in Mexiko (1951) zumindest literarisch zu korrigieren versucht.

Schon aus Wouks Buch "The Lawgiver" (New York 2012) wissen wir, dass Wouks 2011 verstorbene Frau, Betty Sarah Wouk, neben ihrem Sohn Abe beerdigt wurde. Der Autor fügte damals hinzu: "Mein Platz an Abes Seite erwartet mich in Gottes guter Stunde." Genau diesen Wunsch wiederholt Wouk in seinem neuen Buch! Die wohldurchdachte Wahl der letzten Ruhestätte zeigt, dass erst mit seinem Tod der ungewöhnlich lange Trauerprozess enden wird.

Psychologen sprechen davon, dass nach jedem Todesfall die Angehörigen eine "Trauerarbeit" zu leisten haben. Wie lange dieser durchaus normale Prozess dauert, ist von kulturellen und individuellen Gegebenheiten abhängig. Es scheint so zu sein, dass Eltern meistens wesentlich länger um ein Kind trauern als ein Kind um seine Eltern. Der Unterschied in der Dauer der Trauer hängt mit der Stärke der Erwartungen und Hoffnungen zusammen, die der Tod zerstört hat. Manchmal sind auch alte Geschichten, die mit Schuldgefühlen verbunden sein können, zu bearbeiten. So fragen sich einige Eltern unaufhörlich: Was haben wir falsch gemacht? Hätten wir den Tod irgendwie verhindern können?

Aus praktischen Gründen ist es wichtig zu wissen, dass die Trauerarbeit nicht immer ein Jahr nach der Beerdigung bereits abgeschlossen ist. Auf die besonderen Empfindsamkeiten von Eltern, die ein Kind verloren haben, Rücksicht zu nehmen, ist ein Akt der Nächstenliebe, den die Tora von uns verlangt.

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