Der Holocaust

Für jemanden, der nicht an den Schöpfer der Welt als Lenker aller Geschichte glaubt, stellt der Holocaust kein besonderes Glaubensproblem dar.

14 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 17.03.21

Zum besseren Verständnis wurde dem Text eine Liste der Namen und Begriffe angefügt. Einträge sind mit "*" gekennzeichnet. 
 

"DER HOLOCAUST"

1. "Erwäget die Jahre der Geschlechter" (*Dt.32,7)

Für jemanden, der nicht an den Schöpfer der Welt als Lenker aller Geschichte glaubt, stellt der Holocaust kein besonderes Glaubensproblem dar. Den Tod der sechs Millionen Juden wird er als faktisch-historischen Ablauf erklären: gegen diese Juden wurde gewaltsam vorgegangen, was deren Tod nach sich zog. Wer jedoch an den Herrn der Welt glaubt, den Herrn allen Weltgeschehens, sieht sich hier mit einem erstrangigen Glaubensproblem konfrontiert. Warum nur verhinderte Gott diese Massenvernichtung nicht, warum griff er nicht ein und hielt die Mörder von ihrem grausamen Treiben ab?!

Vor jedem Versuch einer – wenn auch unzulänglichen – Erklärung dieser Erscheinung sollte man sich Folgendes ins Gedächtnis rufen: „Denn nicht meine Gedanken sind eure Gedanken, und nicht eure Wege meine Wege…“ (*Jes.55,8)

Wir können nicht auf den Grund der Dinge vorstoßen, nicht den Ratschluss des Ewigen erfassen (siehe *Jirm.23,18), obwohl uns geboten ist, Geschichte zu lernen und zu versuchen, sie zu verstehen. „Gedenke der Tage der Urzeit, erwäget die Jahre vergangener Geschlechter..“ (Dt.32,7). Fast alle Propheten Israels wiesen uns an, den Geschehnissen der Zeit zu folgen und zu beachten, wie Gottes Hand den Ablauf der Geschichte lenkt, und warnten das Volk vor drohender Katastrophe.

Manchmal fällt es außerordentlich schwer, die Geschichte und die sich in ihr offenbarende Hand Gottes zu verstehen. Der Schrecken des Holocaust stellt in unserer Epoche jedoch nicht die einzige Katastrophe dar, die über die Menschheitsgeschlechter hereinbrach. Die Bibel erwähnt noch andere Vorfälle und Warnungen vor großen und schweren Bedrängnissen, die im Laufe der Zeit akut werden können.

Die Sintflut vernichtete praktisch die gesamte Menschheit,  ausgenommen Noachs Familie mit den in der Arche befindlichen Tieren.

Über den Auszug aus Ägypten heißt es: „…und gerüstet ["chamuschim"] kamen die Kinder Israel herauf aus dem Lande Ägypten“ (*Ex.13,18). Die talmudischen Weisen erklären den Ausdruck "Chamuschim" als "ein Fünftel"; vier Fünftel starben während der Plage der Finsternis in Ägypten, weil sie nicht mit ausziehen wollten (*Raschi ebda.).

Nach dem Vorfall um das goldene Kalb sprach Gott zu Mosche: „Und nun, lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und ich sie vernichte“ (Ex.32,10), und nur Mosche inständiges Bitten konnte das harte Urteil abwenden (ebda.11).

Auch in den sog. „Kapiteln der Zurechtweisung“ vernehmen wir eine außerordentlich strenge Sprache hinsichtlich der von uns zu erwartenden Strafungen: „…und ihr werdet nicht standhalten vor euern Feinden…und ihr werdet umkommen unter den Völkern; und verzehren wird euch das Land eurer Feinde“ (*Lev.26,37-38). Ebenso: „…bis du vertilgt bist…es wird nur eine kleine Zahl von euch übrigbleiben…“ (Dt.28,51-62).

Es ist also durchaus eine Situation vorstellbar, in der der Herr der Welt einen Teil des jüdischen Volkes bis auf einen kleinen Rest vernichtet. Im Wochenabschnitt Ha'asinu, der die Geschichte des Volkes Israel in Kurzfassung enthält, heißt es: „…meine Pfeile gegen sie verbrauchen“ (Dt.32,23), „Beschlossen war es, ich vernichte sie ("af'ej'hem"), und tilge aus der Menschheit ihr Gedächtnis…“ (ebda.26).

Der Bibelkommentator *Sforno erklärt das Wort "af'ej'hem" nach seinen Wortstamm von "Peah", Eckenlass [die für die Armen bei der Ernte stehen zu lassende Feldecke], das heißt, Gott lässt von uns eine "Feldecke" stehen, und den Rest vernichtet er (wovon er Abstand nehmen möge): „So wie Ich es am Ende der Tage tun werde, nachdem sie ihre Vollkommenheit weder beim Erhalt der Tora noch im Lande Israel noch im Exil erlangten, nach dem Spruch: denn auf dem Berge Zion und in Jerusalem wird Rettung sein, wie der Ewige gesprochen hat, und unter den Übriggebliebenen, die der Ewige beruft.“ (*Joel 3,5)

So schrieb *HaRav Zwi Jehuda HaKohen Kuk: „ … die absonderlichsten unserer Strafungen, die nicht einmal in der Tora aufgeführt werden, da es für sie weder einen menschlichen noch einen göttlichen Ausdruck gibt, die unvorstellbar und ohne Beispiel in allen unseren Exilen sind, in die es uns verschlagen hat – bis hin zur endgültigen Offenbarung der spirituellen Unreinheit der boshaften Völker in ihrer monumentalen kulturellen Verkommenheit“.

Wir kommen also zu dem Schluss, dass die göttliche Realität selbst die erschütterndsten Dinge umfassen kann. Dies lehrt uns auch der abschließende Teil des Buches Ijow ("Hiob"). Hiob musste bekanntlich sehr leiden, und am Ende offenbarte sich ihm Gott als Urheber des ihm Widerfahrenen (Ijow Kap.40+41). Wie Hiob erfährt, dass Gott selbst dies alles veranlasst hat, ist er beruhigt. Weshalb Gott ihn hat leiden lassen ist eine weitere beschäftigungswürdige Frage, wiewohl deren Antwort durchaus unser Erfassungsvermögen übersteigen könnte.
 

2. Der das Unheil schafft

Die Frage, die sich auf individueller Ebene hinsichtlich Hiob stellt, findet verstärkten Ausdruck im Hinblick auf den Holocaust. Weswegen geschah er, wie ist er zu erklären? – Diese Frage führt zu einer noch fundamentaleren: Was ist die Aufgabe des Bösen in der Welt? Es gibt zwei Auffassungen über das Wesen des Bösen. Die eine sieht das Böse als Zufälligkeit und Unordnung, die der Welt anhaften; die zweite erläutert, wie das Böse Bedeutung und Zweck haben kann, die durchaus dem Verständnis zugänglich sind.

*Rabbiner A.J.Kuk erklärt das in der Welt erscheinende Böse für nicht zufällig. Das Böse in allen seinen Erscheinungsformen, sowohl das moralisch Böse als auch dasjenige im Sinne von Leiden, hat eine tief gehende Bedeutung, eine göttliche Zielrichtung. Das Böse setzt das Gute frei. „Die tiefere Ursache des Guten ist es, die auch die tiefere Ursache des Bösen begründet, was wiederum zu einer Vertiefung des Guten gerade auch durch das Böse führt, um dann seine ganze Vollkommenheit und um so höhere Vollständigkeit seiner Güte zu erlangen“ (Orot Hakodesch 475).

Das Schlechte hat eine Aufgabe in der Welt, wenn auch nur eine vorübergehende, nämlich das Gute in seiner vollen Größe und Bedeutung zum Erscheinen zu bringen, und es wird der Tag kommen, da das Schlechte aufhören wird zu existieren, weil es überflüssig geworden ist.

Das Böse erscheint nicht zufällig. „Die Existenz des weltumfassenden Bösen, sowohl des allgemeinen als auch des individuellen … wenn wir es in seinen Grundzügen und in seinen Details erforschen, entdecken wir darin organische Ordnung und Struktur, und es ist unmöglich, dies dem Zufall zuzuschreiben“ (ebda.479). Das Schlechte ist göttliche Schöpfung und nicht Zufall, daher heißt es: „ … der Frieden stiftet und Unheil schafft …“ (Jes.45,7). Der Herr der Welt hat uns gewarnt: „Und wenn ihr Mir dennoch nicht gehorcht und Mir entgegentretet, so werde Ich euch im Grimm entgegentreten“ (Lev.26,27+28). Lehrt uns der Herr der Welt also, dass wenn die bisherigen Übel uns nicht zur Vernunft brachten, es die größeren noch kommenden tun werden, was er in seiner Gnade verhüten möge.
 

3. Aufbau und Zerstörung

Der Holocaust kann also kein zufälliges Ereignis gewesen sein, denn noch in derselben Generation, im selben historischen Zeitabschnitt, erstand aus furchtbarer Zerstörung wundersamer Aufbau: die Einsammlung der Verstreuten und Gründung des Staates Israel. Die Verbindung zwischen den Ereignissen kann keine zufällige sein, denn der Herr der Welt ist es, der den Ablauf der Geschichte voranbringt.

Der Talmud berichtet uns von den Schülern Rabbi Eliesers, die von ihm wissen wollten, wie man sich vor den „Leiden der messianischen Zeit“ schützen könne; Raschi erklärt dort den Begriff „Leiden“: Ängste und Qualen aufgrund der Macht der Völker in seiner [d.h. der messianischen] Zeit (Sanhedrin 98b).

Von Rabbi Israel Schapiro wird folgende Begebenheit erzählt: Als man ihn und seine Anhänger ins KZ einlieferte, fragten diese: „Was sagt unser Lehrer nun?!“ Worauf er antwortete: „Höret, Brüder und Schwestern, Volk Gottes, es kommt uns nicht zu, die Werke des Heiligen in Zweifel zu ziehen. Und wenn gerade uns bestimmt ist, hier und jetzt die 'Leiden des messianischen Zeitalters' am eigenen Leibe zu spüren, in diesem Abschnitt des Erlösungsprozesses in den Brennpunkt zu rücken, so seien wir glücklich, dieses Anrechtes teilhaftig zu werden. Und was unsere Weisen sagten 'Mag er kommen, ich aber will ihn nicht sehen' – bezieht sich auf die Stufe vorher, wir aber, die wir diesen Rang erreicht haben, müssen uns freuen darüber, dass unsere Asche, wie die der 'roten Kuh', das ganze Volk Israel reinigen wird.“

Ein Außenstehender darf natürlich so etwas nicht sagen; wer aber zu jener Stunde dort anwesend war, hat das Recht, sich so auszudrücken.

Die Verbindung zwischen Vernichtung und Errettung der Nation erscheint in vielen *Midraschim unserer talmudischen Weisen. 

„Gleichnis vom Vater, unterwegs mit seinem Sohn; müde werdend, fragt der Sohn den Vater: 'Wann endlich erreichen wir die Stadt?' Worauf dieser antwortet: 'Dies soll dir zum Zeichen sein: Wenn du den Friedhof siehst, ist es nicht mehr weit.' So sagte Gott zu Israel: 'Wenn ihr seht, dass euch die Leiden überwältigen – in jener Stunde werdet ihr erlöst'“(Midrasch Tehilim "Schochar Tov" 20,4).

„Wie wenn jemand, der einem Löwen entflieht, von einem Bären gestellt wird und, wenn er nach Hause gelangt ist und sich mit der Hand gegen die Wand stemmt, von einer Schlange gebissen wird (*Amos 5,19)“– spricht von den Tagen, da das Volk Israel keine Zuflucht und keinen Ausweg vor den Nichtjuden finden wird.

Ferner sagte Rabbi Jochanan: „Wenn du ein Zeitalter siehst, über das die Leiden sich wie ein Strom ergießen, so hoffe auf ihn, denn es heißt: 'denn der Bedränger bricht wie ein Strom herein, den der Hauch des Herrn anstürmt (Jes.59,19)', und darauf folgt: 'und es wird für Zion der Erlöser kommen (ebda.20)'.“ (Sanhedrin 98a)

Allgemein gilt festzuhalten: Zur Zeit des Anbeginns unserer Erlösung wird uns auch die furchtbarste Zerstörung heimsuchen.
 

4. Göttliche Operation

Das jüdische Volk steckte mit Leib und Seele im Exil ("Galut"), und bis auf den heutigen Tag tut es sich schwer, sich von ihm zu lösen. Selbst die Großen des Volkes gewöhnten sich so sehr daran, dass, als der große Augenblick kam, dem Exil ein für allemal den Rücken zu kehren, Gott selbst auf äußerst gewaltsame Weise diesen operativen Eingriff vornehmen musste. Doch anders konnten die Fesseln nicht gelöst werden. Der Holocaust galt nicht als Strafe. Wir können und dürfen auch nicht die Strafwürdigkeit von Menschen untersuchen und zu ergründen versuchen, die ihr Leben in Heiligung des göttlichen Namens hergaben. Vielmehr müssen wir den Holocaust als historischen Prozess auffassen und die Fakten analysieren.

Das jüdische Volk liebte das Exil und verband sich mit ihm, wie jener Sklave, der verkündete: "Ich liebe meinen Herrn"(Ex.21,5) – dann ist es nicht mehr möglich, ihn loszulösen. Die göttliche Operation sollte dem Volk den Teppich des Exils unter den Füßen wegziehen, und der Schrecken des Exils hatte zum Ziel, das Volk zu erschüttern und aufzurütteln, das Exil zu verlassen und nach Israel zurückzukehren. Viele der größten Weisen des jüdischen Volkes erklärten die Entsetzen des Exils als Zeichen für das Volk, das Exil zu verlassen.

Rabbi Issachar Teichthal, ein Schüler des Rabbi von Munkatsch, einem der extremsten Gegner des Zionismus, war selbst anfangs gegen den Zionismus, änderte aber später seine Ansicht. Er bescheinigte dem Exil solange eine Existenzgrundlage, wie wir kein Zeichen vom Himmel haben, es zu verlassen, wenn aber ein Zeichen wie dieser furchtbare Holocaust erscheine, gelte es, sofort nach Israel aufzubrechen.

In seinem Buch erklärte er, dass dies auch die Ansicht des *Gaon *Rabbiner Jonatan Eybeschütz war: "wenn in der Zukunft die 'Zeit der Liebe [Gottes zu Israel; *Jech.16,8]' anbricht, wird die Regierung die Juden bedrückende Gesetze erlassen, und dann werden ihre Herzen zur Rückkehr nach Israel erwachen; und jene Zeit wird eine Zeit des Leidens sein für Jakov, und Gott wird sein Flehen erhören und sich seiner erbarmen (Jes.49-51)". [Rabbi Teichthal schrieb sein Buch "Em Habanim Smechah" in einem Versteck in Ungarn, wurde jedoch mit der restlichen ungarischen Judenheit deportiert und kam auf dem Transport um].

Unter den größten Weisen des jüdischen Volkes gab es auch jene, die ausdrücklich verboten, zur Zeit judenfeindlicher Gesetzgebung im Exil zu verbleiben. *Rabbi Mosche ben Maimon ("Maimonides") sagte in seiner Schrift über "die Heiligung des göttlichen Namens" an die nordafrikanische Judenheit, dass jeder Ort, wo gegen sie Gesetze erlassen werden, sofort zu verlassen wäre, "aber bezüglich jener, die sich einreden, dass sie an ihrem Platze auszuharren hätten bis der Messias vom westlichen Lande herkomme und dann alle miteinander nach Jerusalem zögen – weiß ich wirklich nicht, wie die Vernichtung von ihnen abgewendet werden kann, vielmehr versündigen sie sich, und sie veranlassen andere zu sündigen".

*Rabbiner Levi ben Gerschon ("Gersonides") setzte sich mit der Tatsache auseinander, dass unser Vorvater Awraham das Land wegen der Hungersnot verließ, trotz des göttlichen Befehles, sich im Lande Kana'an aufzuhalten, da er von selbst verstand, dass nun dies der göttliche Wille sei. Daraus folgerte Gersonides, dass es sicher nicht Gottes Wille sei, sich weiter in fremdem Land aufzuhalten, wenn sich dort die judenfeindlichen Aktivitäten häufen – vielmehr sollte man es schleunigst verlassen.

Weder Maimonides noch Gersonides verlangten ausdrücklich die Einwanderung nach Israel, sondern legten ihren Hauptaugenmerk auf das Verlassen des Exils. Der *"Chatam Sofer" jedoch betonte, dass die Leiden des Exils kommen, um uns zur Rückkehr nach Zion zu erwecken: "Die Speerspitze der Leiden des Exils ist darauf gerichtet, uns ins Land Israel zu bringen". Andere geben noch weiterreichende Erklärungen. *Rabbiner Jakov Emden schrieb im Vorwort seiner Gebetbuchausgabe: "Glaubt nicht, euch im Ausland festsetzen zu müssen…dies ist die Sünde unserer Väter… wenn wir uns einbilden, dass es uns im Ausland wohlergeht, dass wir einen Ersatz für Israel und Jerusalem gefunden haben, kommt das ganze Unheil über uns". Das feste Sitzen im Exil selbst verursacht die Leiden des jüdischen Volkes. *Rabbiner Jehuda Alkalai sagte: "Weil wir Juden nicht zur Rückkehr in unser Land, zum Erbteil unserer Väter strebten, begannen die feindlichen Gesetzgebungen, die Vertreibungen und die Pogrome, weil diese Angelegenheit von unserer Umkehr abhängt – der Umkehr ins Land Israel". *Rabbiner Jesaja Halevi Horovitz ("HaScheLoH") zog furchtbare und beängstigende Schlüsse: "bekanntlich enthielten die Taten unseres Vaters Awraham Hinweise auf die Zukunft des jüdischen Volkes und er erfüllte bereits alle Toragebote , die schriftlichen wie die rabbanitischen; vielleicht hielt er verschärfend wie dieMeinung, nach der es verboten sei, nach Israel einzuwandern – und wurdedarum in den Feuerofen geworfen [Midrasch], um ihm anzudeuten, wegen der Lebensgefahr hier [im Auslande] nach Israel hinaufzuziehen, und man vertraue nicht auf Wunder, und alles Hinweis auf die Zukunft; die Taten der Väter sind Vorzeichen für die Söhne".

Noch vor dem Holocaust riefen große Rabbiner zur Übersiedlung nach Israel und zum Verlassen des Exils auf. *Rabbiner Elijahu von Wilna sprach von vier Wegen, auf denen die Erlösung kommen könne: 1.) Bußfertige Umkehr zu Gott, 2.) Rückkehr nach Zion und Aufbau des Landes, 3.) ein Herrscher, dessen Anordnungen die des Haman an Härte übertreffen werden; oder auf eine vierte, nicht bekannte Weise.

Er befürwortete die zweite Möglichkeit, und zwar so schnell wie möglich, bevor es zu spät sei, denn dies sei der am Leichtesten zu realisierende Weg für das jüdische Volk. Der Gaon trieb seine Schüler an nach Israel zu ziehen, um so die endgültige Erlösung schneller herbeizuführen. So wird von ihm erzählt: "Fast jeden Tag sprach unser Lehrer zu uns in Erregung und mit bebender Stimme, dass nur in Zion und Jerusalem Zuflucht sein werde, und nicht den letzten Zeitpunkt zu verpassen…wieder und wieder in heiliger Vorahnung und mit Tränen in den Augen" ("Hatekufa Hagedola").

*Rabbiner Meir Simcha aus Dvinsk ("Or Sameach") sagte: "…und wenn der Israelit etwa glaubt, dass Berlin Jerusalem sei…dann werde ein Sturmwind kommen und solange wüten, bis er ihn aus seiner Verwurzelung herausgerissen hat".

*Rabbiner Naftali Zvi Jehuda Berlin ("HaNeziv") aus Woloschin erinnerte an die Juden in Ägypten, die das Land liebten und es nicht verlassen wollten. Alle jene starben in Ägypten, was uns zu denken geben sollte; so können auch alle jene bestraft werden, die sich heute weigern, das Exil zu verlassen,  weil sie das Land ihres Exils lieben.

*Rabbiner Israel Meir Hakohen ("HaChafez Chaim") sagte im Jahre 5683 (1923), zehn Jahre vor der "Machtergreifung", dass uns als einzige Zufluchtstätte das Land Israel bleiben wird, wie es heißt: "Aber auf dem Berge Zion ist Zufluchtstätte, denn er ist heilig" (*Ovadia 1,17), und daher war er sich bezüglich der Rettung unseres Landes so sicher. Unser Lehrer HaRav Kuk sel. wandte sich nicht selten mit großen Aufrufen an das jüdische Volk : "Kommt nach *Erez Israel, geschätzte Brüder, kommt nach Erez Israel, rettet die Seele eurer Geschlechter, die Seele unseres ganzen Volkes".
 

5. Zusammenfassung

Das real existierende Böse unterliegt keiner Willkür, sondern hat eine Aufgabe. Der Herr der Welt ist dafür verantwortlich: "..der Frieden stiftet und Unheil schafft…"(Jes.45,7). Auch über das Schlechte sprechen wir einen Segensspruch: "Gelobt, der in Wahrheit richtet". Ohne den schmerzlichen göttlichen operativen Eingriff wären wir nicht dahin gelangt, wo wir uns heute befinden. Und doch, nach alledem, bleibt diese furchtbare Angelegenheit ein uns entrücktes göttliches Geheimnis. 
 

NAMEN UND BEGRIFFE:

In alphabetischer Reihenfolge:

  • Amos = Prophetenbuch Amos
  •  Chatam Sofer = Rabbiner Moses Sofer (Schreiber), Gründer der Pressburger Jeschiwa, einer der scharfsinnigsten Talmudisten der neueren Zeit, lebte vor ca. 200 Jahren 
  • Dt. = Deuteronomium, 5. Buch Mosche (Moses) 
  • Erez Israel = biblische Bezeichnung für das heilige Land 
  • Ex. = Exodus, 2. Buch Mosche 
  • Gaon = ursprünglich Titel der größten Rabbiner vor ca.1300 Jahren, später Bezeichnung für Rabbiner von genialer Weisheit, heutzutage eher ein Ehrentitel 
  • Gen. = Genesis, 1. Buch Mosche 
  • HaRav A.J.Kuk = Rabbiner Awraham Jizchak HaKohen Kuk, erster Oberrabbiner Israels, Gründer der Zentralen Welt-Jeschiwa, Vater von *HaRav Zwi Jehuda HaKohen Kuk, verstorben 5695 (1935) 
  • HaRav Zwi Jehuda HaKohen Kuk = Leiter der Zentralen Welt- Jeschiwa, Jerusalem bis zu seinem Tode im Jahre 5742 (1982) 
  • Jech. = Prophetenbuch Jecheskel (Ezechiel) 
  • Jes. = Prophetenbuch Jeschajahu (Jesaia) 
  • Jirm. = Prophetenbuch Jirmijahu (Jeremia) 
  • Joel = Prophetenbuch Joel 
  • Lev. = Leviticus, 3. Buch Mosche 
  • Ra'avad = Rabbi Awraham ben David aus Posquieres, Zeitgenosse des Maimonides, verfasste Glossen zu dessem Werk "Mischne Tora"; ansonsten u.a. als erstrangiger Talmudkommentator bekannt 
  • Raschi = Rabbi Schlomo ben Jizchak, größter Bibel- und Talmudkommentator, lebte vor ca. 900 Jahren in Süddeutschland und Nordfrankreich 
  • Midrasch = Gleichnis, in dem die talmudischen Weisen in Formeiner Erzählung spirituelle, philosophische und auch praktische Inhalte übermitteln 
  • Ovadia = Prophetenbuch Ovadia 
  • Rabbiner Elijahu von Wilna = größte Autorität des europäischen Judentums, lebte vor etwa 250 Jahren in Wilna; "der Gaon von  Wilna" 
  • Rabbi Israel Meir Hakohen ("HaChafez Chaim") = einer der größten Gelehrten der neueren Zeit, besonders bekannt als Verfasser der Werke "Chafez Chaim" über das Vermeiden übler Nachrede nach den Geboten der Tora, und "Mischna Brura", einer Zusammenfassung der wichtigsten Erläuterungen zu einem Teil der heute zur Anwendung kommenden Gebote 
  • Rabbiner Jakov Emden = Rabbiner in Altona, bekannter Talmudist zur Zeit Rabbiner Eybeschütz' 
  • Rabbiner Jehuda Alkalai = Rabbiner in Semlin, Vorkämpfer der Zionsidee, gest. 1878 in Jerusalem 
  • Rabbiner Jesaja Halevi Horovitz ("HaScheLoH") = talmudische Autorität und Kabbalist, wirkte in mehreren jüdischen Zentren Europas, bis er 1621 nach Palästina auswanderte und in Safed 1625 starb 
  • Rabbiner Jonatan Eybeschütz = ab 1750 Oberrabbiner der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek, berühmter Talmudist und Kabbalist 
  • Rabbiner Levi ben Gerschon ("Gersonides") = hervorragender Bibelerklärer, Philosoph, Mathematiker und Astronom, lebte vor ca. 700 Jahren in Südfrankreich 
  • Rabbiner Meir Simcha aus Dvinsk = Verfasser des Kommentars "Or Sameach" zu Maimonides' "Mischne Tora" vor ca. 100 Jahren 
  • Rabbiner Mosche ben Maimon ("Maimonides") = größter nach – talmudischer Rabbiner, u.a. Kodifizierer sämtlicher jüdischer Gesetze im Werke "Mischne Tora", lebte vor ca. 800 Jahren 
  • Rabbiner Naftali Zvi Jehuda Berlin ("HaNeziv") = hervorragender Talmudgelehrter, Haupt der Woloschiner Jeschiwa, Verfasser besonders scharfsinniger Kommentare zu biblischen Texten, starb vor etwa 100 Jahren in Warschau 
  • Sforno = Rabbiner Ovadia ben Jakov, berühmter Bibelkommentator, lebte vor ca. 500 Jahren in Italien

 

ANHANG

Menschliche Erwägungen und göttliche Erwägungen

*Rabbiner Zwi Jehuda HaKohen Kuk sel.: "Die wahrhaftige Weltanschauung und der wahrhaftige Glauben ("Emuna") beinhalten auch das Verständnis der Geschichte – 'Gedenke der Tage der Urzeit, erwäget die Jahre vergangener Geschlechter …' (*Dt. 32,7), das Verständnis der göttlichen Offenbarung auf allen Gebieten, Offenbarung Gottes in der Natur und Offenbarung Gottes in der Weltgeschichte, und das volle Vertrauen auf die göttliche Lenkung und die ihr zugrundeliegenden Überlegungen. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass '… nicht meine Gedanken eure Gedanken [sind], und nicht eure Wege meine Wege …' (*Jes. 55,8). Schwäche in Glauben und Weltanschauung bringt den Menschen zu einer Bewertung der göttlichen Lenkung nach den Maßstäben seiner – beschränkten – Auffassungsgabe, die nicht in die Tiefen der Lenkung der Herrschaft aller Welten einzudringen vermag".Unsere Gedankengänge sind menschliche Gedankengänge, auf die Gegenwart ausgerichtet, gegenüber den göttlichen Gedankengängen, die Generationen umfassen: Manche Dinge umspannen die Fundamente der Welt, und uns fehlt zu ihrem Verständnis die nötige Begabung, wir können uns dazu nicht äußern. Manchmal vergisst der Mensch, dass seine Existenz nicht nur von ihm abhängt, sondern in einen Generationen umfassenden Plan eingebunden ist, und unser Verständnis hängt davon ab, inwieweit wir uns auf die Ebene der universellen göttlichen Gedankengänge erheben können. Das ist gar nicht so leicht. Daher verloren manche Menschen nach der Schoa ihren Glauben, und wir können es ihnen nicht verübeln, wie unsere Weisen es ausdrückten, "dass ein Mensch [für Äußerungen] in seinem Schmerze nicht verantwortlich gemacht werden könne" (Traktat Baba Batra 16b), und man kann ein gewisses Verständnis für Taten zeigen, die ein Mensch in der Stunde seines Schmerzes ausführt, wiewohl es diese nicht rechtfertigen soll. Als Regel gilt: Der Herr der Welt ist nicht unseren Gedanken und Ansichten zu unterwerfen. (Rav Aviner, "Am KeLavi" II, Seite 164) Göttlicher Lohn und göttliche Strafe beschränken sich nicht auf die jeweilige Zeitperiode ihrer Urheber, ja nicht einmal auf diese Welt; sie können vielmehr auch in der zukünftigen Welt zum Ausgleich kommen, ebenso wie die Ursachen heutiger Geschehnisse Generationen zurückliegen können.

Die göttliche Gerechtigkeit lässt keine Tat unberücksichtigt, nicht ein freundliches Wort bleibt ohne himmlischen Lohn. Gott ist in der Ausführung seiner Pläne für die Welt, die er uns durch seine Propheten verkündet hat, nicht auf unser (Wohl-)Verhalten angewiesen; die freie Entscheidung des Einzelnen steht somit nicht im Widerspruch zur göttlichen Vorsehung, denn sie bewegt sich immer in den von Gott vorgegebenen Rahmenbedingungen. So kann der Mensch also niemals wissen, ob ihn ein bestimmtes Schicksal aufgrund eigener Taten oder aufgrund göttlicher Bestimmung trifft, jedoch kann er der ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit sicher sein. (nach "Da'at Tewunot", Rabbiner Mosche Chaim Luzatto)
 

Die "Schuldfrage"

In der Tora heißt es: "Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer um dein Dach und lasse keine Blutschuld auf dein Haus kommen, wenn jemand davon herabfiele [wörtlich: wenn der Fallende von ihm herabfiele]" (*Dt. 22,8). Wozu diese Verdopplung? Dazu bringt der *Raschikommentar die Erklärung des Sifre [*Midrasch zum 5. Buch Mosche]: "Er war wert herabzufallen; dennoch aber soll sein Tod nicht durch dich herbeigeführt werden; denn man führt etwas Gutes durch einen Reinen herbei und eine Strafe durch einen Schuldigen".

*Maimonides, Gesetze von der Umkehr [zu Gott, "HilchotTschuwa"], 6. Kapitel, Halacha 5: Wie ist nun zu verstehen, was David gesagt hat: "Gott ist gütig und gerade, er lehrt die Sünder den Weg, er führt die Bescheidenen zum Recht und er lehrt die Demütigen seinen Weg" (Psalm 25, 8-9)? Das will einmal besagen: er (Gott) schickt Propheten, die die Wege Gottes kundtun und die Menschen zur Tschuwa bringen sollen, und dann auch, dass er den Menschen die Fähigkeit gibt, zu lernen und Einsichten zu gewinnen. Denn es ist die Eigenschaft eines jeden Menschen, dass die Gewöhnung an Weisheit und Gerechtigkeit das Streben und die Sehnsucht nach ihnen erhöht. Das meinten die Weisen mit ihrem Ausspruch: "Wer rein [d.h. gut] werden will, dem hilft man" (Traktat Schabbat 104a), das heißt, er findet sich gewissermaßen unterstützt.

Gott hat scheinbar doch über die Ägypter vorherbestimmt, dass sie schlecht handeln werden, denn es heißt ja in der Tora: "Sie [die Ägypter] werden sie 400 Jahre quälen und knechten" (*Gen. 15,13). Ebenso hat er scheinbar über Israel verhängt, dass sie Götzen dienen müssen, denn so heißt es: "Dieses Volk wird aufstehen und den Göttern fremder Völker nachbuhlen" (*Dt. 31,16). Wie kann sie Gott dann bestrafen? Die Antwort: Gott hat ja über keinen bestimmten Einzelnen verhängt, Götzen zu dienen, jeder Einzelne von denen, die Götzen dienten, wenn er gewollt hätte, wäre frei gewesen, nicht zu dienen. Gott hat nur den Gang des allgemeinen Weltgeschehens kundgetan, so wie man etwa sagt, bei diesem Volk wird es Gute und Schlechte geben. Der Schlechte kann sich damit nicht entschuldigen, da Gott dem Mosche ja gesagt hat, es wird Schlechte in Israel geben, so sei es eben über ihn bestimmt, so zu sein. Das ist nur eine allgemeine Aussage, wie der Vers: "Die Armut wird auf Erden nicht aufhören" (*Dt. 15,11).Auch bei den Ägyptern hätte jeder Einzelne von denen, die Israel Schlechtes antaten, Willensfreiheit gehabt, es zu unterlassen, denn für keinen Einzelnen gab es eine Vorherbestimmung. Gott hat Awraham nur wissen lassen, dass seine Nachkommenschaft im fremden Lande bedrückt werden wird. 
Wir haben aber bereits [am Ende des 5. Kapitels] ausgeführt, dass die menschliche Vernunft nicht imstande ist zu begreifen, wie Gott die zukünftigen Dinge vorher weiß.

*RA'AVAD ebda.

… ebenso waren die Ägypter Boshafte und verdienten die [zehn] Plagen, und hätten sie gleich zu Anfang auf Mosche gehört und Israel fortgeschickt, wären sie nicht geschlagen und im Meer versenkt worden; die böse Absicht Pharaos und die Verächtlichmachung des Schöpfers vor den Augen seines Gesandten verursachten ihm dies. Und zweitens, der Schöpfer hatte nur vorhergesagt, dass sie sie quälen werden, sie aber legten ihnen Fronarbeit auf, töteten und ertränkten sie, wie es heißt: "… der ich wenig gezürnt, aber sie halfen dem Unheil nach" (Secharja 1,15); deshalb machten sie sich schuldig.
 

Übersetzung, Anmerkungen und Anhang: von Rafael Plaut, Chefredakteur von Kimizion.

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