Der Kampf um Israel

Worum ging es in diesen Kämpfen - um Geld? Erdöl? Gekränktes Ehrgefühl? Oder hatten diese Konflikte eine tiefere ideologische Ursache? ...

5 Min.

Rabbiner Elischa Aviner

gepostet auf 15.03.21

Zu Beginn der Menschheitsgeschichte wurde der Kampf um Israel paarweise ausgefochten – Kain gegen Hewel (Abel), Jizchak gegen Jischma'el, Jakov gegen Eßaw ("Esau"). Worum ging es in diesen Kämpfen – um Geld? Erdöl? Gekränktes Ehrgefühl? Oder vielleicht handelte es sich um Familienstreitereien wie so viele andere auch, die leider auf tragische Weise endeten? Oder hatten diese Konflikte eine tiefere ideologische Ursache?

 

Unsere Weisen gingen davon aus, dass der Streit nicht um Nebensächlichkeiten geführt wurde, sondern um etwas Wesentliches, nämlich ums Ganze.

 

Welches "Ganze"? Rabbi Jehuda Halevi [Denker und Dichter, geb. in Spanien ca. 4843 (1083)], Autor des "Kusari", beschäftigte sich mit dieser Frage an zwei Stellen. Im ersten Abschnitt seines Buches: Kusari (§95) erläuterte er, dass Kain und Hewel um das Erbe der "göttlichen Wesentlichkeit" fochten. Hewel erbte von seinem Vater [Adam] die spezifische göttliche Wesentlichkeit, "und nachdem Kain seinen Bruder aus Missgunst auf diese erhabene Stellung umgebracht hatte, wurde Adam Schet an Stelle Hewels gegeben. Schet glich Adam; darum wurde nun er zur Verkörperung des Wesens der Menschheit, zur neuen Zentralfigur, und Adams übrige Söhne galten lediglich als füllendes Beiwerk…"

 

Der Ausdruck "göttliche Wesentlichkeit" gehört zu der besonderen Terminologie, derer sich Rabbi Jehuda Halevi zu bedienen pflegte. Wie dem auch sei, wollen wir doch wenigstens versuchen zu verstehen, was es denn mit dieser "göttlichen Wesentlichkeit" aufsich hat, die offensichtlich ihren Trägern die Eigenschaft der Zentralität innerhalb der Menschheit verschafft (wie der Kern im Verhältnis zur Schale). Es ist dies die Gabe, mit Gott in Verbindung zu treten, die göttliche Offenbarung in der realen Welt zu absorbieren und der übrigen Menschheit zu vermitteln.

 

Derjenige, der die "göttliche Wesentlichkeit" in sich trägt, ist geeignet, die Menschheit zu leiten. Keine gewalttätige Leitung, keine Diktatur, nicht einmal politische Herrschaft, sondern spirituelle Führung – genauer gesagt: spirituelle Anleitung durch Vorgabe wünschenswerter geistiger Ziele und Bestimmung der Ideale und des moralischen Strebens; so wie ein Leuchtfeuer, das den rechten Weg weist.

 

Die "göttliche Wesentlichkeit", die zu Beginn der Menschheitsgeschichte noch auf Einzelnen ruhte, fand ihren endgültigen Aufenthalt im Kreise der Söhne Jakovs – "von jener Stunde an ruhte die göttliche Wesentlichkeit, die bis dahin nur in Einzelpersonen anzutreffen war, auf der Gemeinschaft [des gesamten jüdischen Volkes] (Kusari, ebda.)".

 

Damit war der Streit um dessen Erbe jedoch nicht beendet, im Gegenteil. Bis auf den heutigen Tag beneiden uns viele Ströme und Völker der Erde um die uns innewohnende göttliche Wesentlichkeit. Da gibt es jene, die diese Begierde nur im Herzen tragen; und es gibt jene, die ihr Bestreben lautstark zum Ausdruck bringen und verkünden, dass Gott uns verstoßen und sich ein anderes Volk erwählt habe. Schließlich gibt es noch jene, die dieser Begierde Taten nach dem Vorbilde Kains folgen lassen, dessen brennende Eifersucht ihn zu Mord und Zerstörung trieben.

 

Im zweiten Durchgang der Auseinandersetzung Rabbi Jehuda Halevis im "Kusari" mit den Konflikten zwischen Kain und Hewel sowie den übrigen Paaren ordnete er diesen völlig andere Beweggründe zu, vielleicht etwas überraschende. Gegenstand des Kampfes war demnach der Erbanspruch auf das Land Israel.

 

So schrieb er im zweiten Abschnitt des Buches (§14):"Um dieses Land entbrannte der Streit und die Eifersucht, zuerst zwischen Hewel und Kain, die klären wollten, wer die Nachfolge Adams als Kernpunkt der Menschheit anzutreten auserwählt sei, und damit auch der rechtmäßige Erbe des Landes wäre… Und um dieses Land eiferten Jizchak und Jischma'el… Und um dieses Land eiferten Jakov und Eßaw in der Angelegenheit des Erstgeborenenrechtes und des [väterlichen] Segens, und am Ende wurde Eßaw trotz seiner Macht zu Gunsten des schwächeren Jakov hintenangestellt."

 

Der Streit um das Land ist nicht allein im Sinne territorialer Ansprüche zu verstehen.

 

Rabbi Jehuda Halevi betonte, dass das Land seinem Herrn einen auserwählten, zentralen Rang innerhalb der Menschheit verschafft. Auch fand dieses Ringen noch kein Ende; heute wie ehedem sind die Blicke der Völker wie gebannt auf das Land Israel gerichtet, wie der Midrasch [Gleichnis der talmudischen Weisen] den Vers"und will dir geben ein begehrenswürdiges Land" (Jirmijahu 3,19) erklärt:"warum wird es begehrenswürdig genannt? Weil alle Könige es begehrten" (Schemot rabba, 32,2).

 

 

Zwei Seiten derselben Münze

 

Zwei unterschiedliche Erklärungen offerierte uns Rabbi Jehuda Halevi für den Kampf zwischen Kain und Hewel – das Ringen um die spirituelle Führung in der Welt und den Kampf um die Herrschaft im Lande Israel. Haben wir hier zwei einander widersprechende, austauschbare oder etwa sich gegenseitig ergänzende Erklärungen vor uns?

 

Aus dem Buche "Kusari" geht eindeutig hervor, dass die vorliegenden zwei Erklärungen ein und dieselbe Bedeutung haben, sozusagen zwei Seiten derselben Münze darstellen. Manchmal trägt der Konflikt die Züge des Spirituellen, der Ideologie, und manchmal offenbart er sich im Aufeinanderprallen der Ansprüche auf Gebiete des Landes Israel.

 

Selbst wenn es im Streit mit den Nationen um geistigen oder religiösen Einfluss geht, verbirgt sich dahinter immer auch ein Anspruch auf Herrschaft über das Land Israel, und ebenso, selbst wenn der Streit rein äußerlich um territoriale, politische, also scheinbar weltliche Aspekte geführt wird, ist er doch auf Höheres gerichtet – er ist nur die Spitze des Eisbergs im Ringen um die kulturelle Führung in der Welt.

 

Man braucht also über das weltliche Ringen um das Land Israel weiter keine Worte zu verlieren, denn der Konflikt lässt sich nicht in Quadratkilometern oder sonstigen quantitativen Größen ausdrücken. Jeder Berg und jedes Tal in diesem Lande symbolisieren einen spirituellen Festpunkt innerhalb der Menschheit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass letztendlich alles Streiten auf die Herrschaft über Jerusalem hinausläuft. Der Besitzer des Landes Israel verfügt automatisch über das spirituelle Erstgeborenenrecht.

 

"Israel" ist kein säkularer Begriff, und seine Geschichte lässt sich nicht mit weltlichen Maßstäben messen. Auch im Zeitalter der Atomsprengköpfe und des Ozonlochs gibt es nicht einen Menschen auf dem gesamten Erdball, der das Land Israel nur von seiner territorialen oder geografischen Seite sieht. Manchmal jedoch ist es vielen Politikern einfach angenehmer, die Dinge in politischem oder wirtschaftlichem Zusammenhang zu präsentieren; wer jedoch etwas tiefer in die Materie eindringt, erkennt, dass sie diesen Stil mit voller Absicht wählten, um die doppelte, innere Konfrontation zwischen den Völkern der Welt und Israel zu verwischen und zu verschleiern – die Konfrontation um das Erbe der "göttlichen Wesentlichkeit" und um das Erbrecht am Lande Israel.

 

Gegenüber dem Appetit, den die Völker der Welt für das Land Israel zeigen, müssen wir die Leidenschaft stärken, die unsere Väter für das Land empfanden, wie es im Midraschheißt: "Das begehrenswürdige Land – das die Väter der Weltgeschichte begehrten."

 

Awraham sehnte sich nach ihm, indem er sprach: 'Wodurch weiß ich, daß ich es erben werde'. Jizchak sehnte sich nach ihm, wie daraus ersichtlich ist, dass ihm gesagt wurde 'wohne in diesem Land'. Jakov sehnte sich nach ihm, wie es heißt: 'und ich kehrte in Frieden ins Vaterhaus zurück'" (Tanchuma Re'e,8).

 

 

Nachwort

 

Rabbi Jehuda Halevi, einer der größten jüdischen Weisen, der Zeitperiode der "Rischonim" Raschi, Maimonides und Nachmanides und ihnen gleichrangig vor ca. 800 Jahren zugehörig, verfasste den "Kusari" als sein Lebenswerk, in dem er die Fundamente des Judentums anhand des auf historischen Tatsachen beruhenden Gespräches zwischen einem Rabbiner und dem König der Chasaren erläuterte, welcher mit einem Teil seines Volkes zum Judentum übertrat.

 

 

Dieser Artikel ist in der Monatsschrift „Reschit“, Ausgabe Nr. 29 Schevat 5752 erschienen. Klicken Sie bitte hier, um die KIMIZION Seite zu besuchen. 

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