Die Sudeten von Palästina (3)

Die Tschechoslowakei befand sich, wie Israel, in einer strategisch zentralen Position. Bismarck bemerkte einmal, dass wer immer über Böhmen herrschte, über ganz Europa herrschte...

5 Min.

Dr. Steven Plaut

gepostet auf 05.04.21

Die Tschechoslowakei befand sich, wie Israel, in einer strategisch zentralen Position.

Bismarck bemerkte einmal, dass wer immer über Böhmen herrschte, über ganz Europa  herrschte (was sich die kommunistischen Herren Osteuropas nach dem zweiten Weltkrieg  zu Herzen nahmen). Der moderne tschechische Nationalismus trat in der zweiten Hälfte  des 19. Jahrhunderts hervor, etwa zur selben Zeit wie der Zionismus. Mit dem  Zusammenbruch des Habsburger Reiches erlangte der tschechische Nationalismus die  Selbstbestimmung, ebenso wie die Schaffung des Staates Israel direkt aus dem Zusammenbruch des türkischen Reiches resultierte.

Während des ersten Weltkrieges warben tschechische Spitzenpolitiker in den europäischen Hauptstädten für ihre Unabhängigkeit, zu genau der gleichen Zeit, als Chajim Weizmann und andere Führungspersönlichkeiten der zionistischen Bewegung um Unterstützung und Anerkennung rangen. Während des Krieges beteiligten sich die Tschechen an Widerstand und Spionage gegen die Mittelmächte, gleichzeitig mit dem zionistischen NILI-Spionage-Ring, der die Briten unterstützte.
                                     
Die Tschechoslowakei, so wie sie aus dem ersten Weltkrieg hervorging, bestand aus einer heterogenen, bunten Bevölkerungsmischung, wie das Habsburger Reich selbst.

Insbesondere waren etwa 23% der Staatsbürger ethnische Deutsche (nicht weit vom Anteil der Araber an der israelischen Bevölkerung), die sich auf die westlichen Gebiete  konzentrierten, die als Sudetenland bekannt waren. Die meisten Sudetendeutschen waren zu allem entschlossene Gegner einer Eingliederung in einen tschechoslowakischen Staat.

Am 21. Oktober 1918 kamen deutsche Abgesandte aus allen Teilen des früheren österreichischen Kaiserreiches zusammen und beschlossen die Forderung nach nationaler "Selbstbestimmung" für die Deutschen der Tschechoslowakei unter Benutzung des Wilson'schen Begriffes, der erst kürzlich Eingang ins internationale Lexikon gefunden hatte.

Im folgenden Jahr starteten die Sudetendeutschen eine Welle gewalttätiger Demonstrationen und Terrorismus im Widerstand gegen die Einbeziehung ihrer Länder in  den tschechischen Staat. Tausende Sudetendeutsche flohen aus dem neuen Staat in die Nachbarstaaten Deutschland und Österreich.

Die neue Regierung der Tschechoslowakei sah sich – wie Israel 1948 – einer gemischten Bevölkerung gegenüber, die eine große Minderheit von zweifelhafter Loyalität zum Staate  enthielt – die sich offen mit großen Bevölkerungsanteilen in Nachbarländern identifizierte  und den neuen Staat prinzipiell ablehnte. Beide Staaten versuchten, das Problem mit  derselben Strategie zu lösen: die feindlich gesonnene Minderheit durch wirtschaftliche  Integration, Toleranz, Freiheit und liberale Sozialreformen für sich zu gewinnen. Der  erste Präsident der Tschechoslowakei war Tomás Garrigue Masaryk, wie David Ben-Gurion ein mächtiger, willensstarker, charismatischer und progressiver Politiker. Masaryk präsentierte genau wie Ben-Gurion ein umfassendes Programm der sozialen, wirtschaftlichen und sprachlichen Gleichheit aller nationalen Gruppen des neuen Staates. Beide Männer sahen in der Integration ihrer jeweiligen Minderheiten sogar die letztendliche Bewährungsprobe ihrer fortschrittlichen Grundsätze. Sowohl die Tschechoslowakei der 20er als auch Israel der 50er Jahre entwickelten schnell eine stabile parlamentarische Demokratie mit Schutz aller Freiheiten, wie man es von modernen westlichen Staaten her kennt. In beiden Staaten nahmen eine Vielzahl politischer Parteien an den Wahlen teil und erzielten Sitze im Parlament. In beiden Staaten entstanden Regierungskoalitionen nach einer Reihe von zwischenparteilichen Kuhhändeln. Wie die israelischen Araber hatten die Sudetendeutschen Stimmrecht und wurden ins Parlament gewählt. In beiden Staaten entwickelte sich eine Art Dezentralisation, wonach es den Minderheiten gestattet war, ihre eigenen Schulen in ihrer eigenen Sprache zu betreiben und ihre lokalen Angelegenheiten selbst zu verwalten. Beide Länder garantierten religiösen Pluralismus und Toleranz. Deutsch war offizielle Staatssprache in den deutschen Gebieten der Tschechoslowakei, so wie Arabisch schon immer eine der anerkannten Staatssprachen Israels war. Alles in allem genossen die Sudetendeutschen eine bessere Behandlung als irgendeine andere nationale Minderheit in Europa, so wie die Araber in Israel (selbst die in den "besetzten Gebieten") Freiheit und Toleranz wie keine andere Minderheit im nahöstlichen Raume genießen.

Die Tschechoslowakei wurde, wie Israel, von Sozialdemokraten regiert, die sich zu einem Kurs der sozialen Reformen und der Gleichheit verpflichteten. Beide Länder  verabschiedeten legislative Programme, die zu den fortschrittlichsten der Welt zählten. In beiden Ländern erblühten Aktivitäten und Macht der Gewerkschaften. In beiden Ländern experimentierte man verbreitet mit kooperativer Landwirtschaft. Beide Länder überflügelten schnell ihre Nachbarn in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung, Erziehung und Lebensstandard.

Sowohl die Sudetendeutschen als auch die palästinensischen Araber sahen sich auf einmal im Zentrum internationaler Konflikte und steigender Spannungen. In beiden Fällen  entwickelten sich die Konflikte nach verstärkter Radikalisierung der nationalistischen Bewegungen in Nachbarländern, wo revolutionäre und fremdenfeindliche Führer die Macht ergriffen hatten. Der Sudetenkonflikt entzündete sich an großdeutscher Ideologie und imperialistischen Ambitionen des Dritten Reiches, so wie der Palästinenserkonflikt von panarabischen uns panislamischen Bewegungen des Nahen Ostens erfunden wurde.

Bei den Sudetendeutschen und den palästinensischen Arabern wurde friedliches Nebeneinander von wachsender Polarisierung und Extremismus abgelöst. Die deutschen Beschwerden über Diskriminierung und schlechte Behandlung durch die Tschechen mehrten sich proportional zum Ansteigen der internationalen Spannungen, ähnlich dem Anwachsen palästinensischer Proteste einige Jahrzehnte später. In beiden Fällen änderte sich das Wahlverhalten auf dem Höhepunkt der Frustration. Während des ersten Jahrzehnts tschechoslowakischer Unabhängigkeit stimmten die meisten Sudetendeutschen eher für gemäßigte Parteien, so wie die israelischen Araber zunächst für die zionistischen Parteien stimmten. In den 30er Jahren jedoch wechselten die sudetendeutschen Wähler zu  nationalistischen Parteien mit totalitären Ideologien über, genau wie die israelischen Araber.

Insbesondere stieg sprunghaft die sudetendeutsche Anhängerschaft des Nazi-Ablegers, der sogenannten Sudetendeutschen Partei (SdP). Die SdP erhielt 1935 über 60% der deutsch-tschechoslowakischen Stimmen (mehr als die Nazis in Deutschland erhielten), und 1938 über 85%. Nach dem gleichen Muster übertrugen die arabischen Wähler in Israel ihre Loyalität mit großer Mehrheit der antizionistischen, kommunistischen Chadasch-Partei, die sich niemals vom Stalinismus distanzierte, und der PLO. Totalitarismus ist praktisch die einzige politische Gesinnung unter den Palästinensern innerhalb der Autonomie-Gebiete.

Weder die Klagen der Sudetendeutschen noch der palästinensischen Araber waren gänzlich unbegründet. In beiden Fällen war die Minderheit im öffentlichen Dienst und in den Streitkräften unterrepräsentiert, zum Teil aus Sicherheitsbefürchtungen. Beide Gruppen erfuhren sicherheitsbedingte Beschränkungen, besonders in Zeiten von äußerer Bedrohung und Spannungen.

In beiden Fällen war die Frage des Landbesitzes Auslöser extremer politischer Leidenschaften der Minderheit.

Sudetendeutscher Grundbesitz wurde zum Bau von Verteidigungsanlagen enteignet, da die Sudeten längs der deutschen Grenze lagen, von wo die zukünftige militärische Bedrohung zu erwarten war. Einiges arabisches Land in Israel und den "besetzten Gebieten" wurde gleicherweise enteignet. Bei der Schaffung der Tschechoslowakei besaßen die Deutschen einen überproportionalen Anteil am Boden, so wie die Araber Israels. Wenn also Privatbesitz enteignet werden musste, gehörte er demnach mit größerer Wahrscheinlichkeit der Minderheit. Sowohl das Dritte Reich als auch die arabischen Staaten benutzten die Enteignungen als Vorwand für ihre militärische Aggression. Sowohl Nazideutschland als auch die arabische Welt rechtfertigten ihre Aggression mit dem Argument, angeblich zur Verteidigung der Menschenrechte ihrer Brüder eingreifen zu müssen, während sie selber die Menschenrechte in ihren eigenen Staatsgebieten unterdrückten.

Die wachsende nationalistische Bewegung der Sudeten war antiliberal, antidemokratisch und autoritär, genau wie die Palästinenserorganisation. Die SdP wie die PLO  verabschiedeten niemals ein detailliertes politisches oder soziales Manifest jenseits der Forderung nach "Selbstbestimmung". Beide Organisationen benutzten Gewaltmittel zur Unterdrückung konkurrierender nationalistischer Parteien, und beide festigten ihre eigene  Position als einzige Sprecher ihrer jeweiligen Völker. Die SdP organisierte Sudetenflüchtlinge, die bei der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei nach Deutschland geflohen waren. Diese wurden in den Sudetendeutschen Heimatbund, eine paramilitärische Organisation, rekrutiert. Später bildete diese Gruppierung den Grundstock für das Sudetendeutsche Freikorps, eine terroristische Organisation, in die 34000 in Deutschland lebende Sudetendeutsche rekrutiert wurden. Diese Terroristen überfielen tschechische Grenzgebiete und vollführten Gräueltaten noch bis nach Abschluss des Münchner Abkommens.

Die Nazipartei war in der Tschechoslowakei offiziell verboten. Dennoch wurde die Pressefreiheit peinlichst eingehalten, selbst angesichts steigender Gewalt und Provokationen seitens der Sudetendeutschen. Die politischen Organisationen der Sudetendeutschen und ihre Presse solidarisierten sich unverhohlen mit der Nazipartei in Deutschland, so wie sich die israelisch-arabische Presse mit der PLO und Leuten wie Saddam Hussein identifiziert. Nach seiner Machtergreifung machte Hitler das Thema der nationalen Rechte der Sudetendeutschen zu seinem Hauptinstrument militärischer Aggression. Sein Interesse für "Selbstbestimmung" gründete sich ausschließlich auf seine Entschlossenheit, die Tschechoslowakei zu zerschmettern und zu annektieren. Die Nazipropaganda wurde auf Hochtouren gebracht und beschuldigte die tschechoslowakischen Behörden andauernder Menschenrechtsverletzungen der Sudetendeutschen. Nazigelder flossen in die Kassen der SdP. Deutschland warnte unheilsvoll vor der Existenz eingebildeter sowjetischer Flugplätze in der Tschechoslowakei, so wie die Araber eingebildete amerikanische Landebahnen 1967 in Israel "entdeckten". Deutschland nannte die Tschechoslowakei "eine Marionette sowjetischen Imperialismus'", so wie die Araber Israel als eine Marionette und Instrument des amerikanischen Imperialismus bezeichneten. Den wichtigsten Teil der Nazi-Propagandaattacke gegen die Tschechoslowakei bildete jedoch die Verurteilung unterstellter Folter und körperlicher Misshandlung von Sudetendeutschen durch die Tschechoslowakei. Und das von dem Volk, das bereits die Konzentrationslager baute.  
 
Dr. Steven Plaut lehrt Geschäftsführung und Wirtschaftslehre an der Universität Haifa, Israel. Übersetzung: Rafael Plaut, Chefredakteur von: Kimizion

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