Geplantes Kalkül

Es ist geradezu eine Gnade Gottes, dass die Judenfeinde uns von Generation zu Generation Dinge andichten und nach Fehlern bei uns suchen, die wir nicht haben ...

4 Min.

Rabbiner Jaron Engelmayer

gepostet auf 05.04.21

EINBLICK – Jizchak wusste sehr wohl, dass es Jakow war, den er segnete

Von Rabbiner Joseph Samuel Bloch – er war in den Jahren 1883 bis 1895 Mitglied des österreichischen Parlaments und ein eifriger Verteidiger jeder jüdischen Angelegenheit – rührt folgendes Wort her: »Es ist geradezu eine Gnade Gottes, dass die Judenfeinde uns von Generation zu Generation Dinge andichten und nach Fehlern bei uns suchen, die wir nicht haben, sodass wir gegen diese Verdächtigungen unsere Stimme mutig erheben können. Übel wäre es aber, wenn unsere Feinde von unseren wahren Fehlern eine Ahnung hätten … Ja, es ist ein Glück für uns, dass sich unsere Feinde auf Lüge und Verleumdung verlegt haben!«
 
Diesen Fehler hat schon zu Zeiten Alexander des Großen ein Ägypter begangen. Der trat vor den großen Eroberer und Feldherrn mit folgender Forderung hin: »Die Israeliten haben uns Ägypter ausgenommen und geplündert, bevor sie aus Ägypten zogen. Also haben wir Anrecht darauf, das Beutegut zurückzuerhalten!« Alexander ließ einen jüdischen Gelehrten rufen und konfrontierte ihn mit der Forderung. Dieser blieb seelenruhig und entgegnete: »Ganz recht, diesen Betrag schulden wir den Ägyptern. Wir haben jedoch eine Gegenschuld einzufordern: Zuvor leisteten während über einhundert Jahren 600.000 jüdische Sklaven ohne Entgelt Fronarbeit, die noch zu erstatten wäre.« Dem stimmte Alexander zu, und noch während der Betrag errechnet wurde und ins Astronomische stieg, suchte der Ägypter mit seinem Anliegen das Weite.
 
VORSICHT
 
Doch nicht immer ist es so einfach, mit Anschuldigungen gegenüber dem jüdischen Volk umzugehen. In der Tora begegnen wir einer schwierigen Geschichte mit noch schwierigeren Konsequenzen: Unser Vorvater Jizchak wird alt und möchte seinen vermeintlichen Erstgeborenen Esau vor seinem Tode segnen.
 
Doch Jizchaks Frau Riwka und sein zweiter Sohn Jakow täuschen ihn in seiner Blindheit, lassen ihn den Jüngeren segnen und bringen Esau um seinen Segen.
 
Antisemiten haben diese Schilderung als willkommene Gelegenheit gesehen, Israel (so der zweite Name Jakows) als Lügner und Schwindler zu entlarven. Die Frage, warum ein Volk sich in seiner eigenen Chronik und Geschichtsschreibung ausgerechnet in der kritischen Entstehungsphase durch Zugabe eines Betrugs seiner eigenen Legitimation entledigen sollte, bleibt offen. Dann gibt es die Auslegung der Apologeten und modernen Kommentatoren wie Mosche David Cassuto, Martin Buber und Nechama Leibowitz: Die Tora schildert zwar das Ereignis, kritisiert aber zugleich Riwkas und Jakows verhalten. Doch auch dieser Zugang wirft unübersehbare Fragen auf: Ausgerechnet der Betrogene, Jizchak, verleiht dem »gestohlenen« Segen Gültigkeit. Kaum dass er des Betrugs gewahr wurde, spricht er die Worte: »So möge er denn gesegnet sein!« (27,33). Aber nicht nur Jizchak, Gott Selbst scheint den Segen, und somit Jakows Handeln, zu bestätigen! Er erscheint Jakow während der unmittelbar darauf folgenden Flucht, erneuert den Segen und verspricht ihm Schutz (28, 13-15).
 
ANSPRUCH
 
Die klassische Auslegung der Geschichte geht einen dritten Weg. Nach dieser Auffassung, vertreten unter anderem von Talmud, Raschi und Ramban, stand der Segen Esau gar nicht zu. Den rechtmäßigen Anspruch darauf hatte Jakow, der sich das Erstgeburtsrecht von seinem Bruder erwarb, da dieser es verschmähte. Esau täuschte seinen Vater so weit, dass dieser ihn über Jahrzehnte hinweg für den würdigen Empfänger des Segens hielt. Doch war Jizchak tatsächlich so naiv, Esau für denjenigen zu halten, der den Segen verdiente? Hat ihm wirklich über einen so langen Zeitraum der Durchblick gefehlt, der Überblick über seine kleine Familie?
 
Rabbi Elijahu Dessler gibt zu bedenken, dass wir die wirkliche Geschichte der Tora vielleicht ganz anders zu lesen haben: Gott gab Abraham mehrere Male einen besonderen Segen: Das Versprechen, ein zahlreiches Volk zu werden, und den Besitz des Landes Kanaan, später Israel. Dieser Segen ist das besondere Erbe, womit Abraham seine Nachkommen segnen sollte. Im Kampf um den Segen Jizchaks zwischen Jakow und Esau in unserem Wochenabschnitt scheint es um diesen speziellen Segen zu gehen, das besondere Erbe Abrahams. Denn mit der Zeit wurde den Nachkommen klar, dass nur einer Abrahams Haus weiterführen und dessen geistiges Haupterbe übernehmen würde.
 
Sehen wir uns aber Jizchaks Segen etwas näher an, entdecken wir, dass nichts von Abrahams Segen darin enthalten ist. Jizchak spricht von fruchtbaren Ernten und von der Herrschaft über andere, doch erwähnt er weder die Nachkommenschaft noch das Land Kanaan. Es handelt sich also bei Jizchaks Segen gar nicht um den Segen Abrahams. Wenige Verse später jedoch ist von diesem durchaus und sogar ausdrücklich die Rede. Als Jakow vor seinem Bruder Esau flieht, segnet ihn Jizchak in vollem Bewusstsein, dass Jakow vor ihm steht: »Und Gott, der Allmächtige, segne dich, und … du sollst zu einem zahlreichen Volke werden. Und Er gebe dir den Segen Abrahams, dir und deinen Nachkommen, das Land zu erben, welches Gott Abraham gegeben hat« (28, 3-4).
 
VORBESTIMMUNG
 

Die Folgen dieser Erkenntnis sind bedeutungsvoll für das Verständnis der ganzen Begebenheit. Was so aussieht, als sei Jizchak getäuscht und geblendet worden, entpuppt sich in Wirklichkeit als geplantes Kalkül seinerseits. Jizchak kannte seine Söhne gut, und er wusste sehr wohl, welcher von ihnen der geeignete war, um die göttliche Bestimmung fortzusetzen. Von Anfang an wollte er Jakow das geistige Vermächtnis Abrahams übergeben, wie er es schließlich in vollem Bewusstsein auch tat.
 
Der Segen, den er für Esau bereithielt, war ein rein materieller. Esau sollte mit diesem Segen Unterstützung erhalten, damit er seine schlechte Seite überwinden könne und den guten Funken in seiner Seele zu einem Feuer entfache. Jizchaks Ziel war es, eine Aufgabenteilung zwischen seinen Söhnen zu bewirken: Jakow sollte das geistige Vermächtnis hüten, während Esau ihn materiell stützen würde. Doch auch dieser Funke war in Esaus Seele bereits erloschen, und der Segen in seinen Händen hätte katastrophale Auswirkungen gehabt. Diese Tatsache erkannte Jizchak sofort, als er sich bewusst wurde, dass auch dieser Segen Jakow erreicht hatte, und er bestätigte den Segen.

Spätestens mit dieser Zustimmung wurde der Segen rechtsgültig, und das jüdische Volk konnte beruhigt seiner Geburt entgegengehen, so wie es vom Himmel beschlossen war.
 
Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln und Mitglied in der ORD.
 

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