Politik und Judentum (1)

Themen, über die man Bescheid wissen sollte: Judentum und die Herrschaft der Geradheit, die Politik und Schlechtigkeit, die politische Enthaltsamkeit …

4 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

1. Politische Enthaltsamkeit
 
Wie stehen sich die Welt der Politik und die Welt der Religion gegenüber – widersprechen sie sich oder gibt es Berührungspunkte, und wenn ja, welche? Wie wirkt sich diese Spannung auf das Verhältnis des religiösen Menschen zur Welt der Politik aus? Nehmen wir drei mögliche Antworten in näheren Augenschein:

Der religiöse Mensch hat sowohl die Möglichkeit als auch die Fähigkeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Dem religiösen Menschen ist es strengstens verboten, sich mit Politik zu befassen. 

Dem religiösen Menschen ist es eine Pflicht und göttliches Gebot, sich am politischen Geschehen zu beteiligen.

Welches ist nun die richtige Möglichkeit?

Zweitausend Jahre lang beschäftigten wir uns nicht mit Politik. Nicht, weil wir nicht wollten, sondern weil wir nicht konnten. Das jüdische Volk, staatenlos, war zwangsweise von der Teilnahme am politischen Tagesgeschehen ausgeschlossen.

Zwar fühlten sich Individuum und Volk als in einer Zwangslage befindlich, doch aus göttlicher Sicht lag gar kein Zwang vor, sondern zielgerichteter Wille. Wem es gelänge, Gottes Willen zu verstehen, würde auch in seinem Bewusstsein das Joch des Zwanges durch inneren Willen ersetzen.

Rabbiner A. J. Kuk (Rabbiner Awraham Jizchak HaKohen Kuk, erster Oberrabbiner Israels, Gründer der Zentralen Welt Jeschiwa, verstorben 5695 [1935]) brachte diesen Umstand mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Wir verließen die Weltpolitik aufgrund des Zwanges, der inneren Willen in sich trägt“.

Der „Jerusalemer“ Talmud (der im Lande Israel redigierte Kommentar zur  Mischna, älter und kürzer als der babylonische Talmud) – bringt dazu ein Beispiel (Traktat Sanhedrin, 7. Abschnitt, Hal. 2) bezüglich des durch die römischen Herrscher erlassenen Verbotes, in den jüdischen Gerichtshöfen die Todesstrafe zu verhängen, welche durch das jüdische Gesetz in verschiedenen Fällen vorgeschrieben ist.

Rabbi Schimon Bar- Jochai (war ein Schüler des Rabbi Akiva, lebte vor ca. 1800 Jahren, hielt sich 13 Jahre vor den Römern in einer Höhle  verborgen, legendärer Verfasser des Sohar, dem Hauptwerk der Kabbala) fand an diesem Verbot auch eine gute Seite: das Verhängen der Todesstrafe beinhalte schon in normalen Zeiten solch eine enorme, schwer zu tragende Verantwortung, um die man nur wegen des ausdrücklichen biblischen Gebotes nicht herumkomme, dass man die derzeitige Zwangslage als Zeichen göttlichen Willens interpretieren könne, uns wegen der Schwächung unserer Weisheit dieser Verantwortung zu entheben. 
 
2. Politik und Schlechtigkeit

Ferner sagte Rav Kuk: "bis dass eine glücklichere Zeit anbricht, in der es möglich sein wird, Herrschaft ohne Schlechtigkeit und ohne Barbarei auszuüben – das ist die Zeit, die wir erhoffen“(Orot, Hamilchama, §3). Solange sowohl die Außen- als auch die Innenpolitik zwangsläufig moralische Verdorbenheit implizieren, beschäftigen wir uns besser nicht mit ihr. Der Herr der Welt macht es uns erst gar nicht möglich. Wenn aber die Zeit reif ist, verschwindet diese Zurückhaltung von ganz alleine, was ausschließlich vom Stand unserer Moralität und Spiritualität abhängt. 

Im Laufe der Generationen wird die Welt für Geistiges empfänglicher, empfindsamer, und in ihr Israel als Herz der Welt, bis diese Zeit beginnt. Daher heißt es weiter: „die Hinauszögerung erfolgt zwangsläufig – die Endzeit lässt sich nicht gewaltsam herbeiführen, man kann die Vorbedingungen nicht übergehen – „… da unsere Seele an den furchtbaren Vergehen der Staatsführung in schlechter Zeit krankt.

In der Geschichte des jüdischen Volkes vom Eintritt ins Land bis zur Zerstörung des Tempels war die Regierungsführung alles andere als zufriedenstellend, von wenigen guten Perioden abgesehen. Die Propheten mussten die Herrschenden fortwährend ermahnen. 

Jeschajahu protestierte: „Deine Fürsten Unbändige und Diebsgesellen, allzumal Bestechung liebend und jagend nach Bezahlung; der Waise sprechen sie kein Recht, und der Streit der Witwe kommt nicht zu ihnen“ (1,23).

Das davidische und salomonische Königtum entsprach zwar dem idealen Format, die spirituelle Begabung der Massen jedoch war weit von dieser Stufe entfernt (Orot, Mahalach Ha'ideot, S.106). 
 
3. Herrschaft der Geradheit
 
Rabbiner Kuk bestimmte, dass der rechte Zeitpunkt gekommen war. „Und sieheda, die Zeit ist gekommen, zum Greifen nahe, die Welt wird von einem neuen Gefühl durchströmt, wir können uns schon vorbereiten, es wird uns schon möglich sein, unsere Herrschaft auf den Fundamenten des Guten, der Weisheit, der Aufrichtigkeit und der klaren, göttlichen Erleuchtung zu errichten“ (Orot, Hamilchama, §3). Die Welt befindet sich zwar noch in der Vorbereitungsphase, wir aber, das Volk Israel, seien schon bereit, eine Regierung in Geradheit zu führen. In Kürze sollten daher die himmlischen Beschränkungen verschwinden, die Zwangslage endigen und das Gebot zur Errichtung eines Staatswesens wiederaufleben.

Die Möglichkeit der Gründung eines Staates hängt vom Vorhandensein einer bestimmten moralischen Eignung ab. „Es ist nicht angebracht für Jakov, in einer blutrünstigen Zeit, in einer Zeit, die nach verbrecherischer Begabung verlangt, sich mit Politik zu befassen“

Wenn die Alternative darin besteht, Schurke zu sein, sollte man lieber die Hände von der Politik lassen. Mit Gottes Hilfe jedoch hat eine Wandlung stattgefunden, und ein neuer Geist seelischer Stärke belebt unser Land.

Eine Periode, die uns zwangsweise an politischer Betätigung hindert, kann man wohl schlecht als ideal bezeichnen. Doch diese bittere Medizin heilt uns von schwerer Krankheit. Das Problem liegt nicht in der Beschäftigung mit Politik, sondern die Politik selbst birgt den Makel, der uns die Beschäftigung mit ihr unmöglich macht.

In diesem Zusammenhang wählte Rabbi Schimon Bar-Jochai eine scharfe Ausdrucksweise; als er Bauern bei der Arbeit sah, schimpfte er: „Sie lassen das ewige Leben und befassen sich mit dem vergänglichen Leben“ (Schabbat 33b). Was ist denn schon dabei? Hat die Tora etwa das Befassen mit dem "vergänglichen Leben" verboten? Im Gegenteil; wenn es aber von Verdorbenheit und Perversion beherrscht wird, muss man sich davon zurückziehen. Rabbi Schimon Bar-Jochai behauptete nicht, dass das Bauen von Brücken prinzipiell eine Tora feindliche Aktivität darstelle, dass Badeanstalten grundsätzlich schlecht seien und er der Reinlichkeit keine Bedeutung beimesse. Auch behauptete er nicht, dass Märkte unnötig und das Essen überflüssig seien und man sich ausschließlich mit der Lehre zu befassen habe. Vielmehr wollte er sagen: Alles, was sie [die Römer] errichtet haben, geschah nur in ihrem eigenen Interesse. Sie haben Märkte eingerichtet, um da Prostituierte hinzusetzen, Bäder errichtet zu ihrem Behagen, Brücken gebaut, um Zoll zu erheben“ (Schabbat 33b). Seine Opposition war also keine prinzipielle, sondern galt nur Absicht und Wegen, wie diese an sich nützlichen Dinge gebraucht wurden (Ejn A'ja zu Schabbat 33b). Und ebenso verhält es sich mit der Politik, die sich in pervertiertem Zustand präsentiert, denn im Prinzip hat sie durchaus ihre Existenzberechtigung.
Der Begriff „Politik“ stammt vom griechischen „polis“ (Stadt). In der Vergangenheit konzentrierte sich das gesellschaftliche Leben auf die zumeist befestigten Städte und ihr Umfeld. Auch der Begriff „Medina“ (im Umgangshebräisch „Staat“), wie er zum Beispiel in der Bibel im Buche Esther erscheint (1,16), hat dort eher die Bedeutung „befestigte Stadt“. Wie gesagt waren wir zwangsweise an „politischer“ Betätigung gehindert – ihrem Wesen nach aber gehört sie zu den göttlichen Geboten und lebt gegenwärtig wieder auf.

Heute bezeichnet man mit der Innen- und Außenpolitik das Regeln wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beziehungen, die „Bestandteil der Lehre selbst“ (Orot, Orot Hetchija §27) ist, da von ihr das Leben des jüdischen Volkes in seinem Lande abhängt – ebenfalls ein göttliches Gebot. Folglich gehören die Gründung und das Betreiben eines Staatswesens in allen seinen Einzelheiten, in Gradheit, gleichfalls zu diesem Gebot.

Dieser Artikel ist in der Monatsschrift „Iture Kohanim“ der Jeschiwa Ateret Kohanim, Jerusalem – Ausgabe-Nr. 70 Tevet 5751 erschienen. Der Autor ist der Leiter der Jeschiwa und Oberrabbiner von Bet El. Übersetzung: Rafael Plaut, Chefredakteur der Webseite: KIMIZION

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