Sich wie ein Engel fühlen

Die zehn Tage (Aseret Yame'i Teshuva) zwischen dem Neujahrsfest Rosh HaShana und dem Versöhnungstag Yom Kippur sind jedesmal sehr emotional.

6 Min.

Miriam Woelke

gepostet auf 06.04.21

Die zehn Tage (Aseret Yame'i Teshuva) zwischen dem Neujahrsfest Rosh HaShana und dem Versöhnungstag Yom Kippur sind jedes Mal sehr emotional. An Rosh HaShana werden wir für das Neue Jahr gerichtet und am Yom Kippur "unterschreibt" Gott Sein Urteil (um es einmal bildlich darzustellen).

Für die zehn Tage zwischen den beiden Feiertagen gilt allgemein die Regel, dass wir uns mit jeglichen Vergehen etwas zurückhalten sollten. Schließlich kann es ja durchaus sein, dass Gott unser individuelles Schicksal noch nicht entschieden hat und so wollen wir Ihm dieser Tage zeigen, dass wir doch eigentlich gar nicht so schlecht sind. Demzufolge könnte Er bis Yom Kippur Seine Meinung über uns ändern und uns für ein positives Jahr ins "Buch des Lebens" eintragen. Auch beten wir innerhalb dieser zehn Tage weiter die Selichot – Gebete, um Gott um Verzeihung zu bitten. 

Gestern Abend war ich an der Kotel (Klagemauer) und es war überwältigend, was sich dort tat. Die ganze Nacht hindurch kamen Tausende Menschen an die Kotel. Aus allen Landesteilen und von sämtlicher Herkunft: religiös oder nicht, Ashkenazim, Sepharden, Kleinkinder und sogar ganze Soldateneinheiten waren dort. Auf dem Vorplatz der Klagemauer war kaum noch ein Sitzplatz zu finden und Hunderte Menschen hatten sich auf dem Fußboden platziert. Was für ein Schauspiel. 

Den Feiertag Yom Kippur begehen wir jedes Jahr am 10. des jüdischen Monat Tischre. Der 10. Tischre war der Tag, an dem Moshe mit dem zweiten Paar Gesetzestafeln vom Berg Sinai in das israelitische Lager zurückkehrte. Gott hatte ihnen nach dem Vorfall mit dem Goldenen Kalb verziehen und Moshe, nachdem er die ersten Gesetzestafeln zerbrach, ein zweites Paar gegeben. In den Thoraparashot (Thoralesungen) "Acharei Mot" sowie in "Pinchas" trägt Gott uns auf, diesem Tag auch weiterhin zu gedenken und ihn zu feiern. Somit ist der Yom Kippur ein biblisch – vorgeschriebener Feiertag. 

Während an Rosh HaShana Juden und Nichtjuden gerichtet werden, betrifft der Yom Kippur einzig und allein nur für das jüdische Volk. Für die meisten von uns ist es ein sehr emotionaler und ernster Feiertag. Dies gilt selbst für diejenigen, die sich ansonsten nicht gerade als religiös bezeichnen würden. Aller Gegensätze zum Trotz, an Yom Kippur wird allgemein gefastet, denn unter anderem heißt es zusätzlich in der Thora, dass wer den Yom Kippur nicht einhält, derjenige nicht Teil des jüdischen Volkes ist.

Bevor ich auf den eigentlich Feiertag eingehe, möchte ich einen Minhag (Brauch) beschreiben, der in den Tagen vor Yom Kippur von wesentlicher Bedeutung ist und der von jeher als antisemitische Hetze gegen Juden verwendet wurde. Vielleicht versteht ja nach dem Lesen des Artikels der ein oder andere den Minhag etwas besser.

Beim dem Minhag handelt es sich um die "Kapparot".Nicht, dass mir jetzt sämtliche Tierschützer aufs Dach steigen und mir Tierquälerei vorwerfen, denn bei den Kapparot geht es vorwiegend um die rituelle Schlachtung eines Huhnes. Überall in jüdisch – relig. Wohngegenden sieht man in dieser Woche folgendes Schauspiel:

Juden gehen zu Ständen, an denen die Kapparot angeboten werden. Man zahlt einen Unkostenbeitrag, ein Religiöser nimmt ein Huhn und zirkelt dies 3 oder 7 Mal über unsere Köpfe hinweg. Die Anzahl von drei oder sieben kommt ganz auf den Brauch der jeweiligen Person an.

Die Person spricht ein kurzes Gebet und danach wird das Huhn rituell geschächtet, heisst, es wird ihm mit einem kleinen Schächtmesser die Kehle durchgeschnitten. Es ist üblich für eine Frau eine Henne und für den Mann einen Hahn zu verwenden (siehe Kitzur Shulchan Aruch – Dinei Yom Kippur) .

Der Brauch der Kapparot findet weder in der Thora noch im Talmud Erwähnung. Allerdings ist der Minhag sehr alt, denn schon im 9. Jahrhundert wurde er von Kommentatoren erwähnt. Hintergrund des Brauches ist die Symbolisierung des sogenannten Sündenbockes (Azalzel), ein Ritual, bei welchem der Hohepriester (Cohen HaGadol) in einer Tempelzeremonie einen Ziegenbock in die Wüste sandte. Symbolisch betrachtet transferieren wir unsere Sünden in das Huhn, welches für uns stirbt. Diese Meinung ist ausdrücklich nur Symbolik, und das eigentliche Ziel der Kapparot ist es, uns auf den Yom Kippur vorzubereiten, an dem wir Gott um Verzeihung bitten.

Nicht immer finden die Kapparot anhand eines Huhnes statt. Leute, die nicht unbedingt wollen, dass ein Huhn für sie stirbt, können sich darauf beschränken, nur einen bestimmten Unkostenbeitrag zu geben und bekommen dann ein kleines Zertifikat ausgestellt. Wieder andere geben nur Geld, aber zusätzlich wird ein Huhn über ihren Kopf gedreht, welches hinterher nicht geschächtet wird. Im Mittelalter lehnten so berühmte Rabbiner wie der Ramban und Rabbi Yosef Karo diese Zeremonie grundsaetzlich ab. Das sei alles dumm und erinnere an götzendienerische Rituale. Der große Kabbalist, Rabbi Yitzchak Luria, hingegen sah in den Kapparot eine immense kabbalistische Bedeutung.
 
Grundsätzlich gelten für diese 25 Feiertagsstunden fünf feste Regeln:
 

  1. Nichts essen, denn an dem Tag sind wir wie die Engel, welcher keiner Nahrung bedürfen. Diese Regel trifft nicht auf jene Menschen zu, die ernsthafte gesundheitliche Probleme haben. Auch Kleinkinder und schwangere Frauen sind von der Regel befreit.
  2. Nichts trinken
  3. Keinen Sex
  4. Keine Lederschuhe tragen, denn die sind ein Zeichen für Bequemlichkeit. 
  5. Sich nicht duschen, waschen oder Deos bzw. Cremes verwenden.
  6. Am Yom Kippur sollen auf alle weltlichen Bequemlichkeiten verzichtet werden und wir widmen uns Gott, Der uns richtet. Neben diesen fünf Regeln gelten natürlich zusätzlich sämtliche Halachot wie für den Shabbat auch (kein Feuer anzünden, etc).
     

Vor dem Fastenbeginn essen wir nochmals ausreichend bei einer speziellen Mahlzeit, die "Se'udat Mafseket" genannt wird. Diese Mahlzeit ist eine Mitzwa, auf die keinesfalls verzichtet werden sollte.

Dieser Tage werden fast alle Israel-Tageszeitungen ihre alljährlichen Empfehlungen für die Mahlzeiten ablassen. Was isst man am besten, wenn man danach 25 Stunden fastet? Fleisch macht durstig und vegetarisch wäre besser. Sind Früchte und Obst angebracht? Mein persönlicher Geheimtipp lautet immer Weintrauben und viel Wasser trinken.

Nach dem Kerzenanzünden gehen wir in die Synagogen. Wer für verstorbene Angehörige eine Kerze (Ner Zikaron) zünden will, der sollte das vor den Kerzen für den Yom Kippur tun.

Der Synagogenservice beginnt mit dem "Kol Nidrei" und danach gehen wir über zum Abendgebet Maariv. 

Der Tag darauf wird von nonstop Synagogendiensten bestimmt. Im Morgengebet Schacharit lesen wir bei der Thoralesung aus dem Buch Vayikra (Leviticus) 16:1 – 34 (Parashat Acharei Mot). Der Maftir wird aus Numeri (Sefer BaMidbar) 29:7 – 11 gelesen und die Haftarah (Lesung aus den Propheten) erfolgt aus Jesaja (Yeshayahu) 57 – 14, welche von der Umkehr zu Gott handelt.

Zum Nachmittagsgebet Mincha erfolgt die Thoralesung aus Vayikra (Leviticus) 18:1 – 30, in der es um verbotene sexuelle Beziehungen geht. Der Grund für diese Lesung ist, dass gerade aufgrund dieser Vergehen das jüdische Volk immer wieder aufs Neue ins Verderben fiel.

Die Haftarah (Lesung aus den Propheten) ist das Buch Jonah. 

Ein jeder von uns kennt die Geschichte Jonah's, der vor Gott flüchtete als ihm aufgetragen wurde, nach Ninveh zu gehen und die Stadt vor Gottes Zorn zu warnen. Letzendlich landete Jonah im Bauch eines Fisches, bat Gott um Verzeihung, wurde aus dem Fisch befreit und er ging nach Ninveh.

Wir lesen das Buch Jonah am Yom Kippur, da das gesamte Buch natürlich mit Umkehr zu Gott (Teshuva) zu tun hat. 

Ich war immer der Meinung, dass es reicht, einmal das Buch Jonah zu lesen und dann habe ich meine Message auf ewig. Dann fand ich zufällig den Kommentar des Vilna Gaon zum Buch Jonah und seitdem habe ich einen wesentlich anderen Zugang zum Buch.

Der Vilna Gaon sieht die ganze Story nur als Metapher. Seiner Meinung nach ist die Person Jonahs nur ein Symbol für unsere eigene Seele, die im Paradies sitzt und von Gott auf die Erde gesagt wird. Die Seele weigert sich natürlich, denn sie will nicht in einen irdischen Körper. Daher sagt der Vilna Gaon das der Körper hier von dem Schiff symbolisiert wird, auf das Jonah flüchtete. Der Körper kann alles andere als spirituell sein und geht gewöhnlich seinen weltlichen Verlangen nach. Der Fisch ist sozusagen das Grab und die Seele einer Person steigt auf (das trockene Land, auf welches Jonah gespiehen wurde). 

Nach dem Mincha – Gebet gehen wir über in das Ne'ilah – Gebet, welches recht kurz ist. Mittlerweile schauen schon alle auf die Uhr, wann das Fasten denn endlich vorbei ist. Das Ne' ilah ist die letzte Chance bevor die Himmelstore geschlossen werden und daher wird es im Englischen "Closing the Gates" genannt.

Gleich anschließend ertönt das Schofar und es darf nach Herzenslust gegessen und getrunken werden. Besonders emotional ist der Yom Kippur – Ausgang an der Klagemauer, wo Abertausende von Menschen versammelt sein werden. Damit nicht alle hungrig heimgehen, werden Gebäck und Getränke ausgeteilt. 

Die Yeshiva Aish HaTorah veranstaltet zusammen mit Jeff Seidel's Jewish Student Information Center sowie dem kostenlosen relig. Hostel Heritage House ein Yom Kippur Programm. Zum Abschluss des Fastens findet ein "Break – Fast bei" Jeff Seidel statt. Dort gibt es Unmengen von Getränken, Beigels, Käse und Obst. Niemand bleibt ungesättigt und wir alle haben jedes Mal das ganz besondere Gefühl, dass wir es tatsächlich durchgehalten haben und frei von jeder Sünde sind. Jedenfalls für kurze Zeit.

Bleibt noch zu erwähnen, dass zu Tempelzeiten ganz spezielle Yom Kippur – Riten im Tempel stattfanden. Es war der einzige Tag im Jahr, an dem der Hohepriester (Cohen HaGadol) das Allerheiligste (Kodesh HaKedoshim) betreten durfte. Er rief Gottes richtigen Namen aus und bat für das jüdische Volk um Vergebung. Auch fand die berühmte Verlosung der zwei Ziegenböcke statt, von denen einer Gott geopfert wurde und der andere dem sogenannten Azalzel, der schlechten Seite.

Im Judentum haben wir eine absolut unterschiedliche Vorstellung von der schlechte Seite bzw. dem Satan. Der Satan ist keine Person, sondern unsere eigene schlechte Seite, die uns zum Sündigen veranlasst. Der "jüdische Satan", wenn ich das einmal so formulieren darf, wurde von Gott selbst erschaffen. Er wollte, dass wir eine freie Wahl im Leben haben und dies wäre ohne negative Aspekte unmöglich. Im Talmud Bava Batra heißt es, dass Gott nach der Ankunft des Meschiach die schlechten Veranlagungen in uns abschafft und wir nur noch Gutes tun werden.

Bleibt zu hoffen, dass dies bald der Fall sein wird und ich will diesen langen Beitrag mit den Worten beenden, die dem Ne'ilah Service folgen:

BeShana HaBah Be' Yerushalaim – Im nächsten Jahr in Jerusalem – Nach der Ankunft des Meschiach.

Zom Kal und Gmar veChatimah Tova an alle Leser.

Ein leichtes Fasten und ein gnädiges Gottesurteil an alle Leser.
 
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