Über Kol Nidrej

»Kol Nidrej« für viele Juden ist das gleichbedeutend mit dem Vorabend von Jom Kippur.

3 Min.

Chajm Guski

gepostet auf 15.03.21

»Kol Nidrej« für viele Juden ist das gleichbedeutend mit dem Vorabend von Jom Kippur.

 

Man sagt nicht, man geht zum Abendgebet, sondern man geht zum »Kol Nidrej«. So notierte Franz Kafka in sein Tagebuch »Montag 1. Oktober (Sonntag 1911) Altneusynagoge gestern. Kolnidre.«

 

Wenn das Kol Nidrej nach der traditionellen Melodie rezitiert wird, dann wird es zunächst leise vorgetragen und dann immer intensiver. Wenn der Vorbeter sein Handwerk versteht, dann kann die Melodie bei der dritten und letzten Wiederholung dem Zuhörer buchstäblich durch Mark und Bein gehen. Man erlebt einen der Höhepunkte von Jom Kippur gleich mit Beginn des Tages. Schon allein deswegen ist das Kol Nidrej auch jenen bekannt, die nur an den Hohen Feiertagen in die Synagoge gehen. Aber: Kol Nidrej ist kein Gebet, sondern es ist dem Abendgebet von Jom Kippur, mit einigen anderen Formeln, eigentlich »nur« vorangestellt.

 

Kol Nidrej ist nämlich eine juristische Formel in aramäischer Sprache, mit der sich der Einzelne von den Gelübden (Nedarim) lossagt, die er im vergangenen Jahr G-tt gegenüber getan hat.

In der antisemitischen Propaganda wurde oft behauptet, Juden sprächen sich mit dieser Formel von allen Versprechungen und Verträgen frei. Doch tatsächlich ist mit »Neder« nur ein Versprechen gegenüber G-tt gemeint. Man könnte also sagen, man bereut, was man sich für das vergangene Jahr vorgenommen und dann doch nicht gehalten hat.

 

Schon der Talmud beschreibt eine solche Befreiung von Gelübden (Nedarim 23a) – allerdings für den Tag vor Rosch Haschana. So gibt es in vielen Machsorim (Gebetbüchern) für den Vorabend des Neujahrsfestes eine »Hatarat Nedarim« (Aufhebung der Gelübde), die man vor drei »Richtern«, drei Männern aus der Gemeinde, spricht. Es ist denkbar, dass dies auf den Vorabend von Jom Kippur verlegt worden ist – vielleicht weil es der Abend ist, an dem besonders viele Menschen in die Synagoge kommen.

 

Die Formel »Kol Nidrej« spricht man also, bevor das eigentliche Gebet beginnt. Die Synagoge verwandelt sich in einen Gerichtssaal: Drei Männer stehen vor der Gemeinde. Sie bilden das Gericht und sprechen zunächst eine andere Formel:

 

Mit der Autorität des himmlischen Gerichts,

mit der Autorität des irdischen Gerichts,

mit dem Einverständnis G-ttes,

mit dem Einverständnis dieser Gemeinde,

erklären wir, dass es statthaft ist, mit den Sündern zu beten.

 

Die erlaubt es denjenigen, denen man die Teilnahme an Gemeindeaktivitäten bisher versagt hat, wieder mitzubeten.

 

Vielleicht wird deshalb gern erzählt, Kol Nidrej stamme aus der Zeit, in der in Spanien Juden zur Konversion zum Christentum gezwungen wurden. Mit dieser Formel sprachen sich (angeblich) diejenigen frei, die nun doch wieder zum Judentum zurückkehren wollten. Vielleicht hatte das Gebet in dieser Zeit diese Funktion. Tatsächlich aber ist es schon viel älter und wird bereits im Gebetbuch des Amram Ga’on aus dem 9. Jahrhundert erwähnt.

 

Aus der gleichen Zeit sind auch rabbinische Stimmen gegen diesen Text überliefert. Selbst derjenige, der es für die Nachwelt als erste nachweisbare Quelle festgehalten hat, der Amram Ga’on, nannte es einen »unsinnigen Brauch«.

Die vorangestellte Formel, die auch ausgestoßene Juden miteinbezieht, stammt vermutlich von Rabbi Meir von Rothenburg (1220–1293) und der war bekanntlich kein Spanier.

 

Im 12. Jahrhundert änderte Rabbi Ja’akow Tam den Text des Kol Nidrej, sodass er sich auf Gelübde im kommenden Jahr bezieht. Wir finden es deshalb in heutigen Gebetbüchern zuweilen in zwei Varianten.

 

Dass Kol Nidrej dem Gebet vorangestellt wird, unterstreicht einen wichtigen Aspekt von Jom Kippur: Es ist das Ende eines Gerichtsprozesses, der an Rosch HaSchana begonnen hat. An Jom Kippur wird gebetet, aber wir stehen auch vor Gericht.

Etwa 25 Stunden nach dem Kol Nidrej, beim Abschlussgebet, der »Ne’ila«, wird dann das Urteil gesprochen.

 

 

Dieser Artikel erschien auf der Seite talmud.de. Mehr über den Autor finden Sie hier.

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