Das große Schofar

Der Segensspruch "Stoße in das große Schofar" markiert einen Wendepunkt im Schmone-Esre Gebet.

3 Min.

Rabbiner Uri Scherki

gepostet auf 15.03.21

Der Segensspruch "Stoße in das große Schofar" markiert einen Wendepunkt im Schmone-Esre Gebet. Bei allen vorigen Segenssprüchen ging es um die Angelegenheiten des Individuums. Der Einzelne benötigt Weisheit, Vergebung, reumütige Umkehr, Erlösung von den alltäglichen Problemen, Heilung und Lebensunterhalt. Vom Segensspruch "Stoße in das große Schofar" an beschäftigen wir uns ausschließlich mit Angelegenheiten der jüdischen Allgemeinheit und nicht mit den Einzelnen.

 

Der Segensspruch beginnt mit "Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung". Damit wird die Befreiung zum Hauptthema der endzeitlichen Erlösung, d.h. die eigenstaatliche Unabhängigkeit des Volkes Israel. Wenn wir von der Erlösung sprechen, denken wir nicht an irgendein mystisches oder ein spirituelles Ereignis, sondern an ein Ereignis mit rechtlicher und politischer Bedeutung. Damit ist der Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit gemeint, wie unsere Weisen im Talmud sagten: "Es gibt keinen anderen Unterschied zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen als die Knechtschaft der Regierungen" (Schabbat 151b). Darum beten wir: "Stoße in das große Schofar zu unserer Befreiung".

 

Warum beten wir ausgerechnet um ein "großes" Schofar? Was ist denn nicht gut an einem mittelgroßen oder kleinen Schofar?! Diese Frage erläuterte Rabbiner Awraham Jizchak Kuk in seinem Artikel "Schofarot" (Ma'amarej Hara'aja S.268), wonach das Schofar das Erwachen des Volkes Israel zur Erlösung symbolisiert. Die Motivation zur Erlösung kann aus verschiedenen Richtungen kommen. Sie kann die Eigenschaft des "großen Schofars" annehmen, ein Erwachen, dem Heiligen, gelobt sei er, im Lande Israel zu begegnen, "die israelitische Allgemeinheit [andere Lesart: die göttliche Präsenz] aus dem Staube zu erheben" (Sohar, Mikez S.203a). Wenn die Motivation zur Einwanderung nach Israel und die Hochschätzung seines Staubes (siehe Psalm 102,15) nicht aus heiliger Quelle rührt, wie wir es noch bei den Schülern des Rabbi Elijahu ("Ga'on") aus Wilna vorfanden, sondern aus gesundem Nationalbewußtsein – dann haben wir es mit einem "mittelgroßen Schofar" eines Volkes zu tun, das in sein Land zurückkehren will, um dort sein normales und natürliches nationales Leben zu leben.

 

In der Halacha bedeutet "großes Schofar" immer ein Widderhorn (Schulchan Aruch O.C. 586,1), das vorzüglich und bevorzugt zur Gebotserfüllung eingesetzt wird. Im Notfall aber "sind alle Hörner [als Schofar an Rosch Haschana] geeignet" (ebda.), und das ist das "mittelgroße Schofar", d.h. von jedem koscheren Tier [außer Rind].

 

Manchmal will sich das jüdische Volk aber gar nicht erlösen lassen, weder in heiliger Motivation noch in einfacher, nationaler Motivation wie jedes normale Volk, sondern nur notgedrungen, durch die Leiden des Exils, durch die Verfolgungen der Völker. Das ist ein unreines Schofar, ein "kleines Schofar", das wir ganz und gar nicht benutzen wollen. Doch im äußersten Notfall, so lautet das Gesetz, wenn sich weder ein großes Widderhorn noch ein mittleres Schofar von anderen reinen Tieren finden läßt, darf man ein "kleines" Schofar verwenden, d.h. das Horn eines unreinen Tieres, doch "spricht man darüber keinen Segensspruch" (siehe Mischna Brura zur Stelle), weil es sich um eine Art Fluch handelt – und darüber spricht man keinen Segen (Mischna Brachot 6,3). Wir wünschen keine Erlösung auf diesem Wege, wenn sie allerdings so abläuft, ist es trotzdem eine Erlösung.

 

Wir wollen, daß G~tt "ins große Schofar stößt", d.h., uns zu unserer Befreiung und großer Erlösung erweckt, und nicht nur das "kleine Schofar" benutzt.

 

In der Schrift heißt es: "An jenem Tage wird in das große Schofar gestoßen" (Jeschajahu 27,13), es steht aber nicht, durch wen. Im Gebet jedoch sagen wir: "Stoße in das große Schofar", wir sagen, daß G~tt der Hornbläser sei, er ist der Erwecker. Die Erklärung für diesen Unterschied lautet, daß wir uns in dieser Welt an G~tt wenden, daß er ins Horn stoßen möge, weil wir keine Kraft dazu haben. Doch in der kommenden Zukunft wird sich herausstellen, daß "der Heilige, gelobt sei er, und Israel eins ist" (Sohar Acharej mot 73a; Nefesch Hachajim 4.Abschnitt, 11.Kap.), und darum wird gar nicht so klar sein, wer ins Horn stößt – wird sich das Volk Israel etwa selber erlösen? Oder wird G~tt es erlösen? Und am Ende wird klar werden, daß die Selbsterlösung Israels die Erlösung ist, die G~tt an uns bewirkt, und es besteht gar kein Unterschied zwischen den beiden.

 

Möge es G~ttes Wille sein, daß wir die vollkommene Erlösung verdienen.

 

Dieser Artikel erschien auf der Seite Kimizion.org. Aus dem Hebräischen übersetzt von Rafael Plaut.

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