Die Kunst zu verzeihen

Verzeihen ist ein Akt der aktiven Lebensgestaltung, denn wir übernehmen damit Eigenverantwortung.

6 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 15.03.21

„Das werde ich ihm nie verzeihen!“ ist einer der bittersten Sätze überhaupt. Bitter nicht nur für den anderen, sondern vor allem auch für sich selbst. Denn wer anderen nicht vergeben kann, schadet damit vor allem einer Person: sich selbst!

 

Wir glauben unbewusst, den anderen damit zu bestrafen, indem wir ihm oder ihr nicht vergeben. Wir möchten uns gleichsam für die erlittenen Schmerzen, die Scham oder die gefühlte Demütigung rächen – ein Bedürfnis, das zwar menschlich und nachvollziehbar ist, aber leider nicht nützlich oder Erfolg versprechend ist.

 

Natürlich kann es eine Strafe für den anderen sein, wenn wir nicht bereit sind, ihm oder ihr zu vergeben. Aber wir übersehen dabei, dass wir am meisten uns selbst bestrafen, wenn wir nicht verzeihen können.

Wir verurteilen uns nämlich dazu, nicht vergessen zu können. Wir halten die Gedanken an das wach, was uns angetan wurde, und somit auch den Schmerz. Es ist fast so, als würden wir selbst das Messer, das in der Wunde steckt, immer wieder umdrehen …

 

Merke dir bitte dieses Mantra: „Wer an seinem Schmerz festhält, bestraft sich letzten Endes selbst.“

 

Die Fähigkeit hingegen, verzeihen zu können, ermöglicht es, dass die Wunden heilen können. Es geht darum, endlich loszulassen und uns somit von dem, was uns angetan wurde, zu befreien. Das bringt Erleichterung für die Seele und auch für den Körper, der ebenfalls unter dem Dauerschmerz leidet (und auch konkrete Symptome ausbilden kann).

 

Ein weiteres Mantra ist: „Die empfangene Ungerechtigkeit zu verzeihen bedeutet, sich selbst die Wunde seines Herzen zu heilen.“

 

Verzeihen ist ein Akt der aktiven Lebensgestaltung, denn wir übernehmen damit Eigenverantwortung. Wer verzeiht, lässt nicht zu, dass andere Menschen oder Ereignisse das eigene Leben dauerhaft beeinflussen können. Wer vergeben kann, öffnet sich für Neues.

 

Verzeihen können zeigt Stärke! In China sagt man: „Verzeihen ist keine Narrheit, nur ein Narr kann nicht verzeihen“ Viele Menschen glauben, dass Verzeihen ein Zeichen von Schwäche ist. Tatsächlich aber ist genau das Gegenteil der Fall. Es erfordert eine ganze Menge Kraft und Stärke, bereit zu sein, mit erlittenem Unrecht abzuschließen. Aber es kostet uns mindestens genauso viel Kraft und Energie, dauerhaft in der Opferposition zu bleiben, zu grollen, zu hadern und auf Genugtuung zu hoffen.

 

Wichtig: Verzeihen heißt nicht etwas gut zu heißen.

 

Eines ist im Zusammenhang mit dem Thema „Vergebung“ ganz wichtig: Wenn wir verzeihen, heißen wir damit das, was der andere getan hat, nicht automatisch gut. Wir können es nach wie vor falsch, niederträchtig, unangemessen, kriminell oder wie auch immer finden.

Wir entscheiden uns lediglich dazu, nicht länger zuzulassen, dass die Tat unser Leben dauerhaft negativ beeinflusst. Die Tat selbst aber wird dadurch nicht besser.

 

Verzeihen können ist möglich. Versuche es Schrittweise. Ich meine, würde es mit dem Verzeihen im Hauruck-Verfahren gehen, wäre die Sache deutlich leichter.

Es erfordert aber meist ein sehr behutsames, schrittweises Vorgehen, damit wir Erlittenes loslassen können.

Gestehe dir also ganz bewusst zu, dass das mit dem Verzeihen nicht immer gleich auf Anhieb klappt.

 

Je tiefer die Wunden sind, desto länger brauchen wir oft, um vergeben zu können. Nimm dir diese Zeit und schimpfe nicht mit dir selbst, wenn du merkst, doch noch Groll zu empfinden. Das ist vollkommen menschlich. Indem du diese Regungen liebevoll annimmst, aber unbeirrt weiter daran arbeitest, Schritt für Schritt loszulassen, wird es dir leichter gelingen, als wenn du von dir erwartest, die Sache mit einem sauberen Schnitt endlich zu beenden. Dass du dir das wünschst, ist natürlich verständlich, denn mit diesem Schnitt erhoffen wir uns, dass auch der Schmerz verschwindet. Aber der Begriff „Schnitt“ ist hier bewusst gewählt, denn wenn du versuchst, etwas aus dir herauszuschneiden oder herauszureißen, entstehen dadurch große Wunden …

 

Versuche aus dem Schmerz zu wachsen. Dieses Bild mag etwas pathetisch wirken, aber mir scheint es sehr kraftvoll und zutreffend: Nutze das, was man dir angetan hat, um darüber hinauszuwachsen. Blumen haben die wundervolle Gabe, auch unter Geröll und Schutt hervorzuwachsen. Sie siegen letztlich, indem sie das Hässliche durch ihre Blüten verschönern.

 

Verzeihen ist schwierig. Aber möglich. Ich habe dir eine Reihe von konkreten Tipps dafür zusammengestellt.

 

Tipp 1: Finde heraus, was es zu verzeihen gibt

 

Einige Verletzungen, die wir erlitten haben, sind offensichtlich. Jemand, der z.B. von seinem Partner betrogen wurde, wird diese Wunde lange mit sich tragen. Anderes liegt tiefer. Manches haben wir auch verdrängt.

 

Nimm dir bitte einmal etwas Zeit und Ruhe und überlege, was und wem du ganz persönlich alles zu verzeihen hast. Erstelle eine Liste von Dingen, für die du heute noch auf jemanden wütend bist, die dich verletzt haben und die heute noch schmerzen, die du einfach nicht vergessen kannst und die noch immer an dir nagen, für die du am liebsten Rache nehmen möchtest und ähnliches.

 

Manches kann sich schon erledigen, wenn du es auf der Liste stehen siehst – denn es kommt auch vor, dass wir innerlich schon längst abgeschlossen haben, aber immer noch denken, nicht verzeihen zu können. Vielleicht kannst du über manche Punkte inzwischen auch lachen. Solche Dinge streichst du dann einfach durch.

 

Anderes wird sicher auch schmerzen, ich meine, wenn du daran denkst und es dann auf der Liste siehst. Arbeite weiter an diesen Punkten.

 

Tipp 2: Raus damit!

 

Auch wenn wir Verletzungen oft jahrelang mit uns herumtragen und selbst wenn wir auch schon x-mal darüber geredet haben, ist es empfehlenswert, sich die ganze Sache einmal gezielt von der Seele zu schreiben.

 

Unterschätze hier nicht die Wirkung des geschriebenen Wortes. Das Niederschreiben hat eine andere Wirkung als das Sprechen. Wenn wir schreiben, schöpfen wir oft aus tieferen Schichten in uns und so kommt auch das leichter hoch, was wir sonst eher unterdrücken.

 

Nimm dir die Zeit und Ruhe und gehe zurück in die Situation, die für dich auch heute noch so schmerzlich ist. Beschreibe, was genau geschah. Schreibe auf, was in dir vorging. Was das Schlimme war, das dir angetan wurde.

Du kannst das Ganze auch als Brief verfassen – adressiert an die Person, der du noch nicht verzeihen konntest, oder an HaShem. Drücke ruhig alle deine Vorwürfe deutlich aus – Papier ist geduldig. Du brauchst und solltest möglichst nichts zensieren, denn alles, was in dir ist, darf jetzt raus.

 

Nimm dann den Zettel in einen Park oder überall dahin, wo du ganz allein sein kannst. Lese den Brief HaShem vor. Wenn dir während dem Vorlesen noch etwas einfällt oder überkommt, teile es HaShem mit. Führe einen echten Dialog mit Ihm.

Werfe danach den Zettel in den Eimer. Dieses symbolische Vernichten des Geschriebenen kann eine sehr befreiende Wirkung haben. Du kannst den Zettel auch rituell verbrennen (das passt jetzt vor Srifat Chametz auch sehr gut), womit wir schon beim nächsten Punkt sind.

 

 

Tipp 3: Entwickle Rituale

 

Rituale helfen vielen Menschen beim Loslassen. Hier einige Anregungen dazu:

 

Mache mit HaShem gemeinsam symbolische Verabschiedungen: Wenn du also über das Erlebnis geschrieben hast, kannst du mit diesem Blatt die Macht der Symbole nutzen, um kraftvoll loszulassen. Verbrennen und zerreißen – das tut den meisten Menschen sehr gut. Erlaube dir dabei zu weinen und packe deine angestauten Gefühle mit ins Feuer oder in die Lust, das Geschriebene zu zerfetzen. Du kannst dir auch ein Symbol für die Tat aussuchen und dieses z.B. mit einem Luftballon in den Himmel schicken. Wichtig ist, dass du etwas wählst, was das Loslassen und Abschied nehmen für dich so plastisch wie möglich symbolisiert.

 

Eine weitere Möglichkeit in deiner Hidbodedut, deinem Herzensgespräch allein mit HaShem, ist, ein Foto von der Person (oder eine Zeichnung oder auch nur den Namen) vor sich hinzulegen und dann mit HaShem laut zu ihr zu sprechen. Du darfst hier ruhig noch einmal deiner Wut oder Enttäuschung Ausdruck verleihen.

 

Gehe dann aber dazu über, so etwas zu sagen, wie: „Ich bin heute bereit loszulassen, denn ich will nicht mehr, dass diese Sache mein Leben beeinflusst. Ich verzeihe dir heute.“

Wähle etwas, was du mit innerer Überzeugung sagen kannst und spreche es laut aus.

 

Vielen Menschen helfen auch die so genannten Affirmationen. Suche dir dazu zwei oder drei besonders kraftvolle Sätze aus und sage dir diese mehrmals am Tag laut vor oder schreibe sie auf.

Beispiele könnten sein: „Ich übernehme Verantwortung für mein Leben und lasse nicht länger zu, unter dem, was andere getan haben, zu leiden. Ich entscheide mich zum Loslassen. Ich befreie mich von diesem Schmerz, indem ich verzeihe.“

Auch hier ist wichtig, dass die Sätze für dich passen.

 

Nutze besondere Daten: Die meisten Menschen, die ein Unrecht nicht verzeihen können, wissen sehr genau, wann es ihnen angetan wurde. Jahrestage sind wegen ihres Symbolgehalts für solche Übungen des Verzeihens deshalb ein besonders gutes Datum.

Überlege auch, ob dir selbst weitere Rituale einfallen, mit denen es dir möglich wird, das Erlittene loszulassen. Nutze alles, was dir dabei hilft.

 

 

Tipp 4: Manchmal hilft die andere Sicht

 

Wenn wir verletzt worden sind oder uns ein Unrecht angetan wurde, nehmen wir verständlicherweise zunächst nur uns selbst und unseren Schmerz wahr.

Wenn wir aber nach der ersten akuten Enttäuschung aus einem gewissen Abstand auf das Ereignis schauen, können wir auch unser Gegenüber wahrnehmen, also den Menschen, der uns verletzt hat.

Das kann uns ermöglichen, zu verstehen, warum er oder sie das getan hat. Vielleicht können wir erkennen, welche Gründe es gab – Gründe, die das Verhalten nicht unbedingt rechtfertigen, aber doch verständlich machen. Vielleicht erkennen wir auch unseren eigenen Anteil an der Situation. Und vielleicht hilft uns dies dabei, unsere Gefühle zu relativieren und die Sache bereinigen oder loslassen zu können.

 

 

Tipp 5: Nicht immer schafft man es allein

 

Nicht bei allen Ereignissen ist es möglich, aus eigener Kraft loszulassen und zu verzeihen. Opfer von Missbrauch, Opfer von Kriminal- und Gewalttaten, aber auch Menschen, die betrogen wurden oder deren Vertrauen zutiefst verletzt wurden, schaffen es oft nicht, sich allein davon zu befreien.

 

 

Wenn du das bei dir feststellst, solltest du über therapeutische Hilfe nachdenken. Das hat nichts mit Schwäche oder Kranksein zu tun, sondern einfach damit, dass du es dir selbst wert sein solltest, die Hilfe anzunehmen, die du bekommen kannst, um freier und glücklicher zu leben, denn es ist dein Leben.

 

 

David Kraus (M.A in Psychologie und Integrativer Psychotherapie | Dipl. Paar- und Familientherapeut | Dipl. Pädagogischer Elternberater) ist Oberrabbiner der Jüdisch-Chassidischen Kultusgemeinde Breslev Deutschland / Israel mit Sitz in Hanau. David Kraus finden Sie bei Facebook.

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