Festsaal

Diese Welt gleicht einer Vorhalle und die kommende Welt einem Festsaal …

5 Min.

Joel Schwarz

gepostet auf 05.04.21

Die Auffassung der Tora von dieser und der kommenden Welt
 
„Diese Welt gleicht einer Vorhalle und die kommende Welt einem Festsaal; bereite dich in der Vorhalle, damit du eintretest in den Festsaal“(Sprüche der Väter 4, 16). „Besser ist eine Stunde der Umkehr und der guten Taten in dieser Welt als alles Leben in der kommenden Welt; aber besser ist eine Stunde der Freude in der kommenden Welt als alles Leben in dieser Welt“ (Sprüche der Väter 4, 17).
 
Gott bejaht das Leben des Menschen. Gott will das Leben – dies ist in den Büchern Moses und bei den Propheten breit bezeugt. Wir lesen in 3. Buch Moses (18, 5): „Darum sollt ihr Meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben; ich bin Gott.“ Auch die rabbinische Auslegung betont, dass sich Gottes Weisung auf das Leben des Menschen richte: „durch sie leben – und nicht durch sie sterben“; von diesem Grundsatz aus lehrten die Weisen, dass um der Lebenserhaltung willen die Schabbatgebote zurückzutreten hätten (Bab.Tal. Yoma 85). Gott liebt das Leben des Menschen mehr als seine Weisungen – und zwar das Leben in dieser Welt (vgl. Raschi zu Bab.Tal. Sanhedrin 74).
 
Als König David erfuhr, dass er an einem Schabbat sterben werde, bat er, einen Tag früher sterben zu dürfen. Gott habe ihn, so sagen die Weisen im Talmud, an den Psalmvers erinnert: „Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend“ (Ps. 84, 11) und habe hinzugefügt: „Ein Tag, an dem du dich mit der Tora beschäftigst, ist mir lieber als tausend Brandopfer, die dein Sohn Salomo darbringen wird.“ (Bab.Tal. Schabbat 30). Ein recht gelebter Tag in dieser Welt ist mehr wert als einen Tag früher in der kommenden Welt zu sein.
 
Der Midrasch (Yalkut Schimoni, Parascha „Wajelech“) erzählt, dass Moses Gott gebeten habe, doch in dieser Welt bleiben zu dürfen, sei es als wildes Tier oder als Vogel; denn jedes Geschöpf hat eine geistige Aufgabe in dieser Welt. Moses wollte weiter in dieser Welt schöpferisch tätig sein können und nicht schon in die kommende Welt eintreten, die eine Welt der Belohnung ist ohne Raum für weiteres geistiges Schaffen.
 
Weshalb aber messen wir dieser Welt eine so hohe Bedeutung bei, die doch nur eine Vorhalle und eine Durchgangsstation zur eigentlichen Welt ist, zur kommenden Welt der Nähe Gottes, der ewigen Freude und der Vollendung der Schöpfung? Weshalb heißt es, eine Stunde der Umkehr und der guten Taten in dieser Welt sei besser als alles Leben in der Kommenden Welt? Werden da nicht doch Weg und Ziel miteinander vertauscht?
 
Man soll Gott nicht dienen um des Lohnes willen in der kommenden Welt, sondern soll Gott dienen hier und jetzt um seiner selbst willen; darum wird die Lebensführung in dieser Welt so stark betont. „Tu wohl und belohne deinen Knecht dadurch, dass ich lebe und deine Worte halte“, bittet der Psalmbeter unseren Gott (Ps. 119, 17); jetzt leben und Gottes Worte halten zu können, ist ihm teurer und wertvoller als alle Wohltaten des Paradieses.
 
Diese Welt ist eine Welt des Handelns und Arbeitens, die kommende Welt ist die Welt der Belohnung. Der wahre Diener Gottes freut sich mehr an seinem Dienst als über den Empfang des Lohnes.
 
Über den Gaon von Wilna wird erzählt, dass er in der Stunde seines Todes weinte; er müsse nun eine Welt verlassen, in der man leicht die Gebote Gottes halten könne – das Gebot des Zizit-Tragens wiege alle Gebote auf -, und er gehe nun über in eine Welt, in der es keine Möglichkeit mehr gebe, die Gebote Gottes zu halten.
 
Im Buch des Predigers von König Salomon steht geschrieben: „Es ist das Licht süß, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen“ (11, 7). Eine Auslegung zu diesem Vers betont, der Mensch solle sich aller Tage seines Lebens freuen, an denen er seinem Schöpfer dienen kann und noch nicht aus dem Licht des Lebens in die Nacht der Untätigkeit verbannt ist; so sagt auch der Psalmist: „Wer wird dir bei den Toten danken?“ (Ps. 6, 6)
 
Der Gottesdienst, den Weisungen Gottes zu folgen, ist uns gerade in dieser Welt aufgegeben, in der Wirklichkeit des Alltags und in der Körperlichkeit unseres Daseins. Der Wirkungsbereich der Gottesgegenwart (hebräisch: schechina) wird vor allem unten auf der Erde gesehen und nicht nur im Himmel. Es sprachen die Weisen: „Gott will wie im Himmel so auch auf Erden wohnen.“ (Tanchuma, Parascha „Bechukotai“. 3) Es ist somit die grundsätzliche Bestimmung der Welt seit ihrer Erschaffung, sich zu heiligen und zu erheben und sich der göttlichen Einwohnung würdig zu erweisen. Darum beschäftigt sich die Tora mit den Belangen des weltlichen, körperlichen Lebens; keine alltägliche Sache ist zu verächtlich oder zu gering, als dass sie nicht im Rahmen der Weisung Gottes ihren Platz finden könnte. Die Tora will alle Bereiche des Lebens umfassen, vom Schnüren der Schuhbänder am Morgen bis zur intimsten Sphäre des Menschen. Die Gebote Gottes zielen nicht auf die Verneinung der Körperlichkeit, sondern auf ihre Durchdringung und Erhöhung auf Gott hin. Diese Läuterung des Körperlichen ist der göttliche Wille in der Schöpfung. Gerade sie ist es, die zur Annäherung an Gott führt, und nicht irgendeine Leibfeindlichkeit.
 
Bei alledem kann es also nicht verwundern, dass dem Leben in dieser Welt eine so hohe Bedeutung zugeschrieben wird. Es ist in der Tora vom Lohn der kommenden Welt nicht ausdrücklich und betont die Rede, eine Tatsache, die den Auslegern des Talmud einige Schwierigkeiten bereitet hat. So viel ist zu sagen, dass jener Lohn in der unmittelbaren Beziehung der Seele zu Gott bestehen wird; das Ziel der Tora ist es, eine solche Beziehung bereits in dieser Welt zu ermöglichen. Das höchste Ideal besteht nach den Worten des Nachmanides (Kommentar zu 5. Mose 11, 22) darin, dass der Mensch schon zu seinen Lebzeiten „Wohnung der Schechina“ sei. Dem vollkommenen Menschen sind auch die irdischen Dinge heilig, er lebt sozusagen schon in dieser Welt im Paradies.
 
Nach der Auffassung des Maimonides sind Lohn und Strafe nichts anderes als zugesagte Hilfestellungen für den rechten Gottesdienst, nicht aber im wörtlichen Sinne Lohn und Strafe: Wer die Gebote erfüllt, habe seinen Lohn darin, dass ihm all die körperlichen und irdischen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden und er Gott wahrhaft dienen kann. Entsprechend verhalte es sich, Gott behüte!, mit der Strafe.
 
Lohn und Strafe sind darum nicht ausdrücklich in der Tora erwähnt, weil die Weisung Gottes auf den Dienst in dieser Welt nicht um des Lohnes willen abzielt.
 
Die Heiligung des irdischen Lebens ist ein tief verwurzeltes Ideal in der jüdischen Tradition. So erzählt der Talmud:
 
Rabbi Schimon ben Jochaj und Rabbi Elasar mussten sich unter der römischen Besatzung Israels viele Jahre in einer Höhe verbergen. Dort leben sie in völliger Abgeschiedenheit, ganz auf Gott und sein Wort bezogen, und erreichten eine hohe Vollkommenheit in der Tora. Als sie ihr Versteck wieder verlassen konnten, kamen sie an Feldern vorbei und sahen Leute pflügen und säen. Dies konnten sie nicht verstehen, und riefen: „Sie lassen das ewige Leben und befassen sich mit dem zeitlichen Leben!?“ Und alles, worauf ihr zorniger Blick fiel, ging in Flammen auf. Da ertönte die Himmelsstimme: „Seid ihr herausgekommen, um meine Welt zu zerstören? Kehrt in eure Höhle zurück!“ Zwölf Monate später verließen sie wiederum ihre Höhle, aber Rabbi Elasar hatte sich noch immer nicht beruhigt. Am Vorabend des Schabbat sahen sie einen Greis mit zwei Myrtensträußen durch die Dämmerung laufen. Da fragten sie ihn: „Wozu brauchst du diese?“ Er erwiderte ihnen, diese beiden Sträußchen seien zu Ehren des Schabbat, von dem einmal geboten sei, seiner zu gedenken (2. Mose 20, 8) und ein andermal, ihn zu bewahren (5. Mose 5, 12). Als sie das hörten, beruhigen sich ihre Gemüter (Bab.Tal. Schabbat 33 b).
 
Durch diese Begegnung verstanden sie die erhabene Bedeutung des einfachen Tuns, das wie unnützer Zeitvertreib erscheint, in Wahrheit aber auf die ewigen Dinge hinweist und so das vergängliche Leben heiligt.

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