Jenseits

Der vollkommene Mensch zieht sich nicht wie ein Mönch völlig aus der Welt zurück, er lässt sich vielmehr auf sie ein und gestaltet sie in Heiligkeit und Reinheit.

4 Min.

Joel Schwarz

gepostet auf 17.03.21

Der vollkommene Mensch zieht sich nicht wie ein Mönch völlig aus der Welt zurück, er lässt sich vielmehr auf sie ein und gestaltet sie in Heiligkeit und Reinheit. Ihm ist die Welt ein Feld geistigen Handelns, eine Welt, die noch nicht schon in sich selbst ihr Ziel gefunden hat; ein solcher Mensch wird sich nicht an die Annehmlichkeiten und Zerstreuungen dieser Welt verlieren. Er sieht in der stofflichen, körperlichen Welt nicht die Wurzel des Bösen, auch nicht in sich schon etwas Göttliches, sondern erkennt sie als das Gebilde des Schöpfers in ihrer geistigen Dimension.
 
Der fromme Autor der „Herzenspflichten“ schreibt über die richtige Einstellung zu dieser Welt:
 
„Du musst aufhören, deine unvergängliche Seele deinem vergänglichen Körper vorzuziehen und deine ganze Aufmerksamkeit nur auf sie zu richten. Du sollst die Bedürfnisse deines Körpers nicht vernachlässigen, ihn nicht belasten oder schwächen. Solches wird zu einer Beeinträchtigung beider führen, der Seele und des Körpers. Gib deinem Körper die Nahrung, die ihn bei Kräften hält; und deiner Seele gib Weisheit und sittliche Ermahnung im Überfluss.“(Bachya Ibn Pakuda, Lehrbuch der Herzenspflichten, IV, Kap. 3)
 
Es scheint nun eine Ausnahme zu bestehen, in der das körperliche Leben nicht das höchste Gut darstellt, nämlich in der Verpflichtung zur „Heiligung des Namens Gottes“, zum Märtyrertod. Aber es ist kein Widerspruch zwischen der hohen Auffassung der Tora vom Leben einerseits und dem Gebot der Heiligung des Gottesnamens andrerseits. Denn die Hingabe des Lebens erfolgt nicht aus einer Verachtung dieser Welt. Im Gegenteil! Gerade die Erziehung zur Heiligung des Lebens in all seinen Bereichen und das Bestreben, ein erfülltes geistiges Leben zu führen, sind die Grundlage auch für die Hingabe des Lebens in der Stunde, in der es nötig ist. Gerade das Bewusstsein, dass das Leben in dieser Welt ein „Paradies auf Erden“, erfülltes, wahres Leben sein kann; führt zu der Überzeugung, dass die Hingabe des Lebens vorzuziehen sei gegenüber einem von der Weisung Gottes getrennten, inhaltsleeren Leben. Der Talmud sagt von den Gottlosen, sie seien in ihrem Leben bereits tot zu nennen, die Gerechten jedoch leben, selbst wenn sie sterben (Bab.Tal. Brachoth 18)
 
Ein Leben, dessen Ziel die Heiligung des Gottesnamens ist, gelangt gerade in der Hingabe des Lebens zur höchsten Vollkommenheit. Dies kommt in der talmudischen Erzählung vom Martyrium Rabbi Akivas unter der Römerherrschaft zum Ausdruck:
 
„Als man Rabbi Akiva herausführte, um ihn zu töten, war es die Zeit, da man im Gebet das „Höre Israel“ sagte. Als sie nun sein Fleisch mit eisernen Striegeln kämmten, richtete er seinen Sinn darauf, das Joch der Königsherrschaft Gottes in Liebe auf sich zu nehmen (d.h. er sprach das „Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist Einzig! Und du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft.“(5. Buch Moses 6, 4 – 5). Da sagten seine Schüler zu ihm: „Rabbi, bis dahin?!“ Er antwortete ihnen: „Immer schon habe ich mich gegrämt wegen dieses Verses „von ganzer Seele“, der bedeutet: „selbst wenn er die Seele nimmt“, und ich sagte mir: „Wann wird der Tag kommen, an dem ich diesen Vers werde erfüllen können?“ Und nun, da ich es kann, sollte ich ihn nicht erfüllen?!“ (Bab.Tal. Brachot 61 b)
 
Rabbi Akiva verstand sein ganzes Leben als einziges Streben nach der Hingabe seiner Seele um der Heiligung des Gottesnamens willen. Im Martyrium ist die Verwirklichung des Lebensziels erreicht; solch ein Sterben ist nicht einfach das Ende des Lebens, sondern seine Fortsetzung.
 
Vergleichen wir die Auffassung der Tora von den beiden Welten mit der Ansicht, die von anderen Religionen vertreten werden, so zeigt sich folgendes:
 
Die Muslime sehen im „Jenseits“ eine Art verbessertes „Diesseits“, in dem die leiblichen Genüsse im Vordergrund stehen. Dagegen wurde etwa von Maimonides eingewandt, dass sich der Lohn der kommenden Welt auf die geistig-seelische Seite des Menschen beziehe und nicht auf die Bedürfnisse des sterblichen Körpers (Maimonides, Mischne Tora, Tschuva 8, 6).
 
Die Christen verstanden einerseits die geistig-seelische Wirklichkeit der kommenden Welt, verkannten aber andrerseits die Wichtigkeit der diesseitigen Welt. In christlicher Sicht ist die Welt Quelle des Bösen, und das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Daher hat sich der christliche Fromme von der Welt zu scheiden.
 
Die Auffassung der Tora – von Gott selbst durch die Propheten und Weisen wahrhaftig gelehrt – offenbart uns, dass diese Welt in keiner Weise die Quelle des Bösen ist. Im Gegenteil! Es gibt nichts in dieser Welt, was nicht eine geistige Dimension hätte. Diese Welt ist nicht mehr und nicht weniger als die „Vorhalle zum Festsaal“ der kommenden Welt, die ganz und gar Geistigkeit und Heiligkeit ist. Von materiellem Lohn zu sprechen, wäre hier abwegig und lächerlich. Der wahre Lohn besteht in der Annäherung und am Festhalten an Gott selbst; tiefere Erfüllung kann es nicht geben. Der Dienst des Menschen in der „Vorhalle“ ist die „Eintrittskarte“ zum „Festsaal“; mehr noch: Er ermöglicht es dem Menschen, bereits in dieser Welt der Niedrigkeit die Herrlichkeit der kommenden Welt zu schmecken.
 
Man darf sich zwar nicht so auf diese Welt einlassen, dass man in ihr bereits Sinn und Ziel sieht, sie sozusagen zum Selbstzweck macht; richtet man sich aber in ihr auf das ewige Leben aus, so ist es gut und richtig, in ihr zu leben. Vorhalle ist Vorhalle, und Festsaal ist Festsaal – dies bedeutet, dass das Leben des vollkommenen Menschen zu einem Gebäude verbunden ist, das aus zwei Teilen besteht. Ein Teil ist wie der andere nötig zur Vollständigkeit des Gebäudes, und keiner wird auf den Trümmern des anderen errichtet.
 
Der Mensch gleicht einer Leiter, die auf der Erde steht und mit ihrer Spitze an den Himmel reicht (1. Buch Moses 28, 12); seine Füße stehen auf der Erde, und auf dieser starken materiellen Grundlage wird seine geistige Welt errichtet, deren Spitze bis an den Himmel rührt.
 
Eine Stunde der Umkehr und der guten Taten in dieser Welt, sagten die Weisen, sei besser als alles Leben der kommenden Welt, weil in jenem Leben keine Möglichkeit mehr ist, den Reichtum zu vermehren, der aus den Weisungen Gottes kommt. Aber die wundervolle Freude einer einzigen Stunde in der kommenden Welt ist schöner als alle nur möglichen Vergnügungen zusammen, die man in dieser Welt erfahren kann.
 
Solche Freude ist der rechte Lohn für die Erfüllung der Gebote Gottes, denn der geistige Reichtum ist der einzige wahre Reichtum auf der Welt. „Lohn der Gebote in dieser Welt – gibt es nicht“ (Bab.Tal. Kidduschin 39 b), sagt der Talmud, es gibt in diesem Leben keinen Lohn, der dem Tun der Tora angemessen wäre. Erst in der Festfreude der kommenden Welt wird die Erfüllung sein.

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