Nahrung und Seele

Das Wesen der Nahrung liegt in der Erhaltung des Lebensgeistes. Worin besteht diese Lebendigkeit?

4 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 15.03.21

Nahrungsmittel dienen nicht nur der Erhaltung des Körpers. Sie haben auch Geschmack, d.h., sie führen dem Körper nicht nur Rohstoffe zu, sondern erzeugen auch eine Art Vergnügen für die Seele. Und über dieses Gefühl des Vergnügens, das über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausgeht, sprechen wir den Segensspruch: "…der viele Seelen und ihre Bedürfnisse geschaffen. Über alles, was er geschaffen, damit die Seelen alles Lebenden zu erhalten…" [Anm.: Dieser Segensspruch wird nach dem Genuss von Nahrungsmitteln gesprochen, für die weder das Tischgebet noch die Nachbracha über Kuchen, Wein und die Früchte, durch die sich das Land Israel auszeichnet, infrage kommen – siehe Sidur]. D.h., neben den "Bedürfnissen" der Geschöpfe, dem Existenzminimum, schuf er gleichwohl auch die Nahrung, "damit die Seelen alles Lebenden zu erhalten" – das Zusätzliche, das die Seele des Menschen erfreut und nicht für seinen physischen Bestand erforderlich ist (Toßafot Brachot 37a "bore").

 

Die physischen Bedürfnisse des Menschen und das Vergnügen seiner Seele sind einander auf geheimnisvolle Weise angepasst. Das Wesen der Nahrung liegt in der Erhaltung des Lebensgeistes. Und worin besteht diese Lebendigkeit? "Und der Mensch ward zu einer lebenden Seele (Gen. 2,7) – lass die Seele leben, die ich dir gegeben habe" (Ta'anit 22b). Seine Lebendigkeit liegt in der Seele, und es ist ihm geboten, die Schöpfungstat fortzuführen, das Leben fortzuführen, indem er die Verbindung zwischen der Seele und dem Körper bewahrt. Das ist das Wesen des Menschen: die Gemeinschaft von Körper und Seele. Die Verbindung zwischen den beiden birgt ein großes Geheimnis, das die Wissenschaft unermüdlich zu lüften sucht. Die Verbindung des Organischen und des Nicht-Organischen, zwischen dem Spirituellen und dem Materiellen ist wundersam, dies ist das Geheimnis des Lebens. Darüber sprechen wir den folgenden Segensspruch: "… Arzt allen Fleisches und Wunder vollbringend", 'das Geistige mit dem Materiellen verknüpfend' (Schulchan Aruch O.C. 6,1) [Anm.: Dieser Segensspruch wird nach jedem WC-Besuch gesprochen und findet sich in den meisten Gebetbüchern vor dem täglichen Morgengebet].

 

Es gibt parapsychologische Erscheinungen, die die Verbindung von Spirituellem und Physischem hervorheben, wie z.B. die Psychokinese, das Bewegen von Gegenständen aus der Ferne allein durch seelische Kräfte. Dafür gibt es keine wissenschaftliche Erklärung.

 

In der Praxis sind wir allerdings nicht auf derartige Erscheinungen angewiesen, um die Verbindung zwischen dem Seelischen und dem Körperlichen zu verdeutlichen; die Aktivitäten des Menschen an sich sind dafür schon Beweis genug. Denn was treibt den Menschen schließlich und endlich an? Die Kraft des Denkens. Das Denken, das dem Spirituellen angehört, bewegt den physischen Körper. Selbstverständlich wissen wir, dass auch das Denken von chemischen und physikalischen Reaktionen im Gehirn begleitet ist, die Erlebniswelt des Menschen jedoch ist eine psychologisch-geistig-gedankliche, und nicht eine chemo-elektrische. Wie verwandelt sich das Psychologische in einen psychobiologischen Befehl? Das ist das Geheimnis.

 

Demnach besteht das Leben des Menschen in der Verbindung seiner Seele mit seinem Körper, und zur Aufrechterhaltung dieser Verbindung bedarf es der Nahrung. Das Essen erhält den Geist im Menschen. Von hier aus gelangen wir auch zu der Verbindung zwischen dem Essen und dem Dienst an G~tt.

 

 

Essen und Dienst an G~tt

 

Der Dienst an G~tt besteht nicht nur aus der Darbringung von Opfertieren. Auch das Essen des Menschen am heimischen Tisch kann sich in Dienst an G~tt verwandeln: Der Tisch gleicht dem Altar (Brachot 55a). Andererseits kann das Essen in eine negative Tätigkeit ausarten: "Drei, welche an einem Tisch gegessen haben und kein Wort der Tora gesprochen, sind, als hätten sie von Mahlopfern der Toten gegessen" (Mischna "Sprüche der Väter", 3. Kap.).

 

Nicht im Essen an sich besteht der G~ttesdienst, vielmehr verwirklicht der Mensch durch seine gedanklichen Absichten die physische Tätigkeit in ihrem erhabensten Sinn, indem er diese in allen seinen Handlungen ohne eigennützige Hintergedanken auf den Willen des Himmels ausrichtet. So isst er nicht wegen der Gaumenfreude, sondern um seinen Körper für fortgesetzten Wandel im Sinne G~ttes zu stärken (Maimonides). In himmlischer Ausrichtung seiner ideellen Absicht erhebt der Mensch alle niederen körperlichen Aspekte auf das Niveau des G~ttesdienstes.

 

Dies entspricht der Definition der Heiligkeit: Sie besteht nicht in der Ausdünnung des Lebens, nicht in der Flucht vor dem Leben und den zu seiner Erhaltung notwendigen Aktivitäten, vielmehr ist sie an allen normalen menschlichen Funktionen beteiligt, wenn sie sich auf ihren erhabenen Wert erheben. Daher heißt es: "Wenn jemand von einer Mahlzeit genießt, bei der ein Schriftgelehrter anwesend ist, so ist es ebenso, als hätte er vom Glanze der Göttlichkeit genossen" (Brachot 64a), weil er auch durch das Essen G~tt dient und somit ein Maß von Heiligkeit und göttlicher Präsenz offenbart.

 

 

Das erwünschte und das abscheuliche Opfer

 

Das Gebot des Opferdienstes stellt demnach den höchsten Ausdruck des menschlichen Willens nach vollständiger Erhebung und Aufgehens im Ursprung allen Lebens dar. Und trotz der Opfergebote und ihres erhabenen Wertes finden wir bei den Propheten Worte erbitterten Widerstandes gegen das Darbringen von Opfern, wie zum Beispiel in unserer Haftara (Jirmijahu 7,21): "Eure Ganzopfer tut zu euren Mahlopfern und esset [davon] Fleisch" – als ob er sagen wollte: Ich brauche eure Opfer nicht; ihr wollt Fleisch essen? Bitte sehr, aber das ist eure Privatangelegenheit. Und weiter: "… denn euren Vätern … gebot ich nicht in Betreff der Ganzopfer und Mahlopfer" (7,22). Was, es gibt kein Gebot des Opferdienstes?! Ist doch die Tora voll von Einzelheiten über die Opfergesetze! Die sogenannten "Bibelkritiker" gelangten hier vorschnell zu der Annahme, dass die Propheten (die bekanntlich wesentlich "humaner" und "moralischer" waren als die Tora…) den Opferdienst ablehnten, wohingegen die Tora zu ihm verpflichtete.

 

Doch wie ist demnach die Tatsache zu erklären, dass die talmudischen Weisen unserem Wochenabschnitt – der uns zum Opferdienst verpflichtet – ausgerechnet eine die Opfer ablehnende Haftara anhängten?! War ihnen dieser "Widerspruch" entgangen?

 

Es versteht sich natürlich von selbst, dass zwischen den Worten der Tora und denen der Propheten kein Widerspruch besteht. Vielmehr stellt sich die Frage: Welche Absicht und tiefere Bedeutung verbergen sich hinter den Technikalien des Opferdienstes? Es gibt Leute mit einem dicken "Konto" von Sünden und Lastern, die ernstlich glauben, durch die religiös-formale Ausübung des Opferns Vergebung erlangen zu können, ohne ihren Lebensstil im Geringsten ändern zu müssen. Für sie stellt die Religion ein bequemes und leichtes Mittel dar, das moralische Joch der Besserung abzuwerfen. So ein Opfer ist natürlich abscheulich, widerlich, und sicher sind uns solche Opfer nicht geboten worden.

 

Das wünschenswerte Opfer entspringt dem Prozess einer ständigen spirituellen Anhebung der Lebensumstände, vorbildlichen zwischenmenschlichen Beziehungen und dergleichen. Die ethische Verbesserung seines Charakters treibt den Menschen stärker zu G~tt, und dieses Hinstreben verlangt seinen Ausdruck in der Darbringung von Opfern. Die Rückführung der lebendigen Seele zu ihrem Ursprung bei der Opferung verkörpert dieses Hinstreben nach dem Ursprung des Lebens. Das ist das wünschenswerte Opfer, zu dem wir verpflichtet wurden. Es fußt auf moralischer Besserung und nicht auf Verdrängung moralischer Verdorbenheit.

 

 

Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Leiter der Jeschiwa "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Altstadt von Jerusalem – übersetzt von R. Plaut Chefredakteur von KimiZion.

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