Vergessene Sprachen

Fast wäre das Jiddische mit seinen Sprechern von den Nazis ausgelöscht worden – und das, obwohl die Sprache unser Deutsch durchzieht wie kaum eine andere.

10 Min.

Dirk Schümer

gepostet auf 18.03.21

Der Artikel vom Autor Dirk Schümer: Warum man unbedingt Jiddisch lernen sollte wurde von DIE WELT am 01.08.15 veröffentlicht.

 

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Warum man unbedingt Jiddisch lernen sollte

 

"Bombelech" bedeutet "Ohrringe" und "rojchern" heißt rauchen. Jiddisch ist die glorreichste Promenadenmischung unter Europas Sprachen. Ein verliebter Crashkurs von einem, der sie gerade lernt.

 

Latein, Altgriechisch, Gotisch, Kirchenslawisch – es gibt allerhand tote Sprachen in Europa. Aber es gibt nur eine, die planmäßig zusammen mit ihren Sprechern ausgerottet werden sollte: Jiddisch. Ist es den nationalsozialistischen Mördern gelungen?

 

Auf den ersten Blick ja: Vor 1939 gab es zehn Millionen Menschen zwischen Lodz und Kiew, Riga und Ia?i, die Jiddisch ganz selbstverständlich nutzten als Sprache für Alltag und Zeitung, Kino und Politik, Gedichte und Lieder. Heute ist diese Welt von, wie man in Amerika nostalgisch sagt, "yiddishland" verschwunden, mitsamt fast all ihren Menschen.

 

Alle Shtetl mit einer Mehrheit jiddischer Bewohner wurden mit ihren Synagogen durch deutsche Sonderkommandos entvölkert und abgebrannt. Metropolen wie Warschau, Odessa, Wilna, Lemberg, wo jeweils über hunderttausend Juden ihre aschkenasische Sprache benutzten, zählen heute nur noch wenige Überlebende und Nachgeborene. Und doch.

 

Eine germanische Sprache

 

Als ich vor fast dreißig Jahren an der Hamburger Universität einen Aushang für Jiddischkurse sah, wurde ich neugierig und hatte eine Freundin mit jüdischen Wurzeln, die mitkommen wollte. So eine Sprache zu lernen, das wirkte irgendwie cool, gerade für einen Deutschen ohne alle jüdischen Bezüge. Aber wie das so geht: Das hebräische Alphabet – denn Jiddisch als vorwiegend germanische Sprache wird in den Buchstaben der Thora geschrieben – lernten wir noch eifrig.

 

Und wie heimelig und zugleich endlos fern klangen die paar Lieder und Kurzgeschichten, die wir gerade mal lesen konnten. Dann kam ein Auslandsjahr dazwischen, dann verlor sich das Interesse. Jiddisch wurde für mich persönlich tatsächlich zur toten Sprache, zur Erinnerung an etwas, das ich nie wirklich beherrschte.

 

Komisches Gefühl, mit über Fünfzig die Sätze wie ein Erstklässler zu buchstabieren und möglichst an keinem schweren Wort hängen zu bleiben.

 

Erst letztes Jahr habe ich wieder angefangen, diesmal fleißiger, systematischer, mit allen verfügbaren Lehrbüchern und dem Internet. Komisches Gefühl, mit über Fünfzig die Sätze wie ein Erstklässler zu buchstabieren und möglichst an keinem schweren Wort hängen zu bleiben. Einen Satz wie "ich hob dich gesen durch a gleserner tir." kann man mit etwas Einfühlung in südwestdeutsche Dialekte ja durchaus kapieren: "Ich habe dich gesehen durch eine gläserne Tür."

 

Das ist bereits der erste Satz eines wunderschönen Gedichtes von Rajzel Zychlinski, einer der größten Lyrikerinnen des vergangenen Jahrhunderts. Was für eine bittere Ironie: Ausgerechnet Deutschsprachige können sich einlesen in die originale Literatur eines Volkes, das unsere Großelterngeneration vernichten wollte – und dabei furchtbar weit gekommen ist. Amerikaner, Franzosen, die heute Jiddisch lernen, müssen quasi zwei Sprachen bewältigen und beißen sich oft die Zähne aus. Wir haben es unverdient leicht.

 

Die Krux: Ein gutes Zehntel der wichtigen Begriffe, viele Abstraktionen, Segenswünsche und Füllwörter sowieso, stammen aus Thora und Talmud – und werden anders als der Rest in der hebräischen Schreibweise gedruckt, also ohne passende Vokale. Um dann zu wissen, was so ein Wort wie "gn-edn" bedeutet, muss man es im jiddischen Wörterbuch nachschlagen.

 

Dann erfährt man, dass es "gan-eydn" ausgesprochen wird und "Paradies" bedeutet. Das also ist der Garten Eden der lutherschen Bibelübersetzung! In diesem Glücksfall stößt man mit einer einzigen Vokabel nicht nur in die Schöpfungsgeschichte, sondern tief bis in die Geisteswelt des Alten Testaments vor.

 

Die Thora und der Talmud, die in den jiddischsprachigen Shtetln so verzweifelt penibel tagein, tagaus studiert wurden, waren im endlosen Exil der Lebensdraht der zerstreuten Gemeinschaften. Doch nur eine kleine Minderheit gelehrter Rabbiner konnte sich auf Hebräisch flüssig verständigen. Die wachsenden Gemeinden im Osten sprachen deshalb im Alltag weiter ihr Jiddisch, während sich das Judentum im Westen auch sprachlich komplett assimilierte.

 

Die Heimat des Jiddischen war der Osten

 

Erst ab 1880 wurden die Sprecher im Zarenreich so viele, dass Autoren wie Mendele Mojcher Sforim oder Shalom Alejchem literarisch hochstehende Romane, Erzählungen, Gedichte für die Massen verfassten und damit sogar etwas Geld verdienten. Während es vorher nur bessere Kitschheftchen gegeben hatte, schrieben die Aschkenasim in Russland, Polen, Rumänien, Litauen und Amerika nun, was das Zeug hielt: fürs Theater, für Zeitungen, Lyrikabende, Buchverlage. Schließlich kamen sie alle aus dem Volk des Buches. Ob sie wussten, dass sie für ihre Literatur gerade einmal sechzig Jahre Zeit hatten bis zur Vernichtung, die auf jiddisch "Churbn" heißt?

 

Es gibt keine andere Nationalliteratur (ohne echte Nation in diesem Fall), die mit einer solchen Explosion von Kreativität ans Licht kam und dann ihren Todesstoß erhielt. Nach 1945 waren, vor allem im kommunistischen Russland und in Nordamerika, sicher noch fünf Millionen Menschen mit jiddischer Muttersprache am Leben, aber in der Sowjetunion nicht sonderlich gelitten.

 

In Deutschland entstanden – wie vorher im ostjüdischen Berlin der Weimarer Zeit – sogar wieder jiddische Zeitschriften in den Lagern der Displaced Persons, wo viele Tausende auf ein Visum nach Israel oder Amerika warteten. In Amerika war jedoch der Druck zur Assimilierung groß. In Israel selbst galt Jiddisch lange sogar verpönt als Sprache der Vergangenheit: zu deutsch, zu osteuropäisch, obwohl Jiddisch lange die "Mameloshn" (Muttersprache) der israelischen Mehrheit gewesen sein dürfte. Der vitale Heimatkern der Sprache in Osteuropa war aber zerstört worden – mitsamt den Sprechern.

 

Die letzte Generation

 

Die Bewohner des Altersheims in Haifa gehören zur letzten Generation der Holocaust-Überlebenden, die noch berichten können von der Zeit der Verfolgung und Vernichtung. Schoschana Kolmer zeigt ein Bild vom 17. März 1944. Damals war sie 24 Jahre alt und auf der Fahrt nach Budapest. Doch im Zug stürmten deutsche Soldaten in ihr Abteil. Ihre Reise endete in Auschwitz-Birkenau. Schoschana wurde zur Arbeit in der Munitionsfabrik eingeteilt. Als sie befreit wurde, wog sie noch 23 Kilo.

 

Ihre Tätowierung ist grünlich verblasst, aber noch gut zu erkennen: 80277. Darunter ein umgekehrtes Dreieck, das Lagersymbol für Jude.

 

Ester Liber hält ein Bild in der Hand, das sie 1946 mit ihrer Schwester zeigt. Sie ist eine der jüngsten Bewohnerinnen des Altersheims. Wie alt sie heute ist, kann Ester nicht genau sagen: 75 oder 76. Die Geburtsurkunde verbrannte, als die deutschen Soldaten ihr Dorf in Polen überfielen und die Häuser anzündeten. Ihre Mutter, ihr Vater und ihre zwei Schwestern wurden von den Deutschen erschossen. Sie und Rachel, ihre älteste Schwester, und ein Onkel konnten entkommen.

 

Bittere Kindheitserinnerungen aus dem Konzentrationslager: Bilder zeigen, was den Heimbewohnern einst widerfahren ist. Sie hängen in der Kantine des Heims.

 

Was das für eine hochsensible Frau wie die Lyrikerin Rajzel Zychlinski bedeutet haben muss, kann man sich nicht ausmalen. Am ehesten erfährt man es noch, wenn sie als Überlebende aus Kasachstan 1946 in ihre Heimatstadt Gombin zurückkehrt und auf Jiddisch das Unfassbare zu fassen versucht: "ß'is blejch geworn doss gros, der himl is kalt – majn bruder dowid, ich such dich mer nisht ojf der erd." Und auf die Evozierung von bleichem Gras, kaltem Himmel und ermordetem Bruder folgt das Urteil: "sol sej kumen, die harbstike necht, iber farblutikte wegn."

 

Herbstliche Nächte über blutigen Wegen – ohne solche das Grauen umkreisende Metaphern kommt seit dem Churbn und seinen fünf Millionen jiddischen Ermordeten diese lebende Sprache der Toten naturgemäß nicht mehr aus.

 

Trauergesang einer ganzen Kultur

 

Der jiddische Sprachunterricht lässt sich folglich nutzen für die Lektüre des großen Trauersangs einer ganzen Kultur. "Dos lid vunm ojsgehargeten jidishen folk" nannte der Dramatiker Jizchak Katzenelson sein Epos des Völkermordes. Er hatte es auf der Flucht vor den Mördern bereits bis nach Frankreich geschafft, landete dann aber doch noch in einem Todestransport nach Auschwitz. Sein erschütternd-grandioses Poem "vom ausgerotteten jüdischen Volk" überlebte ihn wundersam.

 

Wolf Biermann, ein deutsches Leben

 

Der Liedermacher Wolf Biermann hält am 7. November 2008 in der Humboldt-Universität Berlin sein nachträglich überreichtes Philosophie-Diplom in den Händen. Biermann wurde außerdem mit der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität geehrt.

 

Das deutsche Publikum könnte Katzenelson mit Wolf Biermanns Übertragung sogar zweisprachig erkunden – wenn das Buch nicht vergriffen wäre. Es gibt immerhin allerhand Bemühungen, das Jiddische aus dem Schicksalsschatten zu ziehen und gerade den Lesern der deutschen Nachbarsprache, die nun keine Feindessprache mehr ist, zugänglich zu machen. Rajzel Zychlinskis vollständige Lyrik ("di lider") liegt in einem wunderschönen Band im 2001-Verlag vor; für die Übersetzung in lateinischer Umschrift muss man nicht einmal hebräische Buchstaben lernen.

 

Diese Dichterin, die wie eigentlich alle ihrer Kollegen nach 1945 und ihrer Auswanderung in die Vereinigten Staaten niemals über den Schock der Schoah hinwegkam, holt aber auch die jiddische Sprache aus der Schublade, die alle Sprecher nurmehr als "Überlebende" qualifiziert. Sie sind Menschen mit ihrer Sprache, vorher, nachher, während der Katastrophe.

 

Nach "yiddishland" reisen

 

Mit derselben poetischen Lakonik, mit der Zychlinski in Warschau vor 1939 ihre Umwelt beschrieben hat, tut sie es nun in "nju-jork": "ojfn himl bawajst sich der erster shtern, wenus, s'is a fargliwerte trer von majn folk."

 

Venus, der verglühte Stern meines Volkes, wird zum Nicht-Ort, wo die Toten und Unvergessenen wohnen. Ist man einmal eingetaucht in dieses zu Recht erbitterte und unstillbare Trauern, dann finden sich aber auch völlig vergessene Beschreibungen von "yiddishland", quasi während dessen Zerstörung. Israel Joshua Singer betitelte seine Erinnerungen an die Jugend im Shtetl Ostpolens "vun a velt, wos is nishto mer".

 

Diese "Welt, die nie mehr ist" (so die schöne Übersetzung im Hanser-Verlag) vollendete der Autor wie einen Abschiedsgruß, bevor er 1944 in New York an einem Herzanfall starb. Dass sein Bruder Isaac 1978 den Nobelpreis für Literatur bekommen sollte, war da weniger abzusehen als das totale Vergessen der Aschkenasim.

 

Man kann heute ganz problemlos nach "yiddishland" reisen, kann fassungslos über die endlos zugewucherten Felder auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz wandern, kann nahebei im ukrainischen Sadagora verfallene Synagogenreste betrauern, wo einst chassidische Wunderrabbiner Hof hielten.

 

Man kann das vorbildliche jüdische Museum in Wilna aufsuchen, wo es wie durch ein Wunder immer noch eine kleine Gemeinde gibt. Auch den Ort Bilgoraj gibt es noch, irgendwo östlich von Warschau; dort wurde Isaac Bashevis Singer 1902 geboren, aber der Ort ist im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Das Shtetl ist weg – eine Welt, die nie mehr ist. Nur die Sprache gibt es noch als gedrucktes Land der Erinnerung, aus dem nun niemand mehr vertrieben werden kann.

 

"Mendele der Buchhändler"

 

Bestünde das Jiddische ausschließlich aus dem Kaddisch einer vernichteten Kultur, es wäre immer noch eine bestürzend wahrhaftige Erfahrung. Jiddisch wird wohl immer ein Idiom der Trauer bleiben. Aber es gibt in dieser Sprache noch viel mehr. Erst voriges Jahr ist Susanne Klingensteins Studie "Mendele der Buchhändler" erschienen, eine große Biografie des Sholem Yankev Abramowitsch, der unter seinem Pseudonym um 1880 die jiddische Literatur quasi im Alleingang erfand.

 

Mit Klingenstein kann man ganz bildlich in die Städte und Shtetl in vergessenen, aber gar nicht so fernen Landschaften wie Podolien und Wolhynien reisen und erleben, wie sich hier, in der heutigen Ukraine, unter Diskriminierungen durch Zarengesetze, Verwahrlosung und Überlebenswillen eine ganz eigenständige Kultur formte – noch ohne das Damoklesschwert des Unvorstellbaren. Die wenigen Intellektuellen, die nicht traditionelle Rabbiner waren, oszillierten spielend zwischen Russisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch und entschieden sich dann doch, in der Sprache der kleinen Leute – ihres Lesepublikum – zu schreiben.

 

Es entstand das sonderbarste Literaturidiom des Kontinents: ein vitales Reden ohne Hemmungen, in ungehemmter Sprachmischung, viel Ironie, Selbstmitleid über die tatsächliche Rückständigkeit und Diskriminierung. Jiddisch, schwärmte der große Poet Itzik Manger, ist "hefker", was so viel heißt wie herrenlos, vulgär und ungeschützt. Genau so blühte die glorreichste Promenadenmischung unter Europas Sprachen.

 

Das Idealstetl von Shalom Alejchem

 

Shalom Alejchems Erzählungen aus seinem chaotischen Idealshtetl "Kasrilewke" sind in ihren Beschreibungen von Armut und Dreistigkeit nicht nur tragikomisch, sie sind eben noch frei von der Ahnung des Späteren: dass mitleidlose Mörder all diese harmlosen, geschäftigen, schwatzhaften Menschen in ihren Wohnorten bald in einem blutigen Großpogrom ausrotten würden.

 

Erzählt Shalom Alejchem, der nach einem rastlosen Schreiberleben 1916 in New York starb, von neureichen und doch geizigen Jüdinnen, die als barbarische Shtetldamen nach Berlin und Karlsbad aufbrechen und dort in alle Fettnäpfchen treten, dann wird die Komplettheit und Frische dieser ureuropäischen Sprache erst richtig offenbar.

 

Und Abrechnungen auf Jiddisch mit dem sturen Fundamentalismus, der Rückständigkeit und der Intoleranz orthodoxer Gemeinden sind naturgemäß ebenso frei von Antisemitismus wie von vorweggenommenem Mitleid. Schade, dass es kurz vorm hundertsten Todestag derzeit kein einziges Buch von Shalom Alejchem auf dem deutschen Markt gibt.

 

"Jiddisch", sagte Isaac Bashevis Singer in seiner Nobelpreisrede 1978, "hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es ist die weise und demütige Sprache von uns allen, das Idiom der ängstlichen und hoffnungsvollen Menschheit." So pathetisch das klingt, wer fleißig Jiddisch gelernt hat – etwa in diversen Universitätsinstituten zwischen München und Potsdam oder gar an den beiden offiziellen Lehrstühlen in Düsseldorf und Trier –, der kann sogar eine jiddische Tageszeitung im Internet lesen: den "Forverts" aus Nju Jork, wo immer noch über hunderttausend Menschen im Alltag jiddisch sprechen.

 

Die Tragik dabei: Die meisten entstammen streng religiösen Gemeinden, chassidischen Gruppierungen, die sich für weltliche Literatur, für die jiddische Literaturgeschichte nicht übermäßig interessieren. Der "Forverts" ist somit das Organ der weltlichen Auswanderer, der assimilierten Sozialdemokraten und Intellektuellen, weshalb auf seiner Website viel von alten Menschen, von der Vergangenheit und von gepflegtem Brauchtum die Rede ist. Gibt es eine Zukunft? Eher nicht.

 

Gleichfalls im Internet hat deshalb für alle Liebhaber dieser Sprache der Regisseur Steven Spielberg zusammen mit anderen Sponsoren die quasi gesamte Literatur des Jiddischen online stellen lassen; in der riesigen "Spielberg Yiddish Library", dem größten Sprachmuseum der Menschheit, leben die Buchstaben vieler Hunderter Autoren fort, was für ein Büchervolk wie das Jüdische nicht unerheblich ist.

 

Und immerhin: Einige Schriftsteller leben ja noch. Das "Yiddish Book Center" in Amherst, Massachusetts, hat seine einzigartige Bibliothek gar in Gestalt eines hölzernen Shtetls erbauen lassen – noch so eine Ironie des furchtbaren 20. Jahrhunderts: Um die Welt des osteuropäischen Judentums zu erforschen und zu erspüren, muss man "keyn amerike" fahren, ganz weit gen Westen.

 

Das herrliche Wort für E-Mail hat sich bei uns leider nicht durchgesetzt: „blizbrif“

 

Aber sonderbar, auch als so gut wie tote Sprache wohnt dem Jiddischen eine staunenswerte Vitalität inne. Das zeigt im Deutschen nicht nur die Karriere von Lehnwörtern wie Mischpoche, schiker, Schickse, Ganove, meschugge, Tacheles, Tinnef, Reibach, Schmock, Kaff, Chuzpe oder Schlamassel. Das herrliche Wort für E-Mail hat sich bei uns leider nicht durchgesetzt:"blizbrif".

 

Henryk M. Broder, dessen Eltern jiddische Muttersprachler aus Polen sind, ist davon überzeugt, dass der Singsang und die Betonung sich wie ein blinder Passagier ans Deutsche heranmachen und dort einnisten. Jiddisch ist – und wie hat man es versucht! – nicht kaputt zu kriegen.

 

Der junge Schweizer Autor Thomas Meyer führt das in seinem Roman "Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse" aktuell und genial vor. Das Buch spielt in einer orthodox-jiddischen Community in Zürich, doch der andauernde Spagat zwischen dem Idiom der Gemeinde und dem Hochdeutsch wird selbst in der etwas künstlichen Konstellation einer Mischsprache, gelesen vom Autor, zum Hörgenuss.

 

"Rojchern" heißt "rauchen"

 

Denn wenigstens lebt das Jiddische hier nicht nur in einigen Wörtern, sondern im Tonfall des Alltags. Gerade dort klingen Ausdrücke wie "nastichl" (Taschentuch), "fargenign" (Vergnügen),"bombelech" (Ohrringe) oder "rojchern" (rauchen) oft besser als die deutschen Entsprechungen. Wie klagt Mutter Wolkenbruch über ihren widerspenstigen Sohn? "Du bist mejn umkum!""Ruin" hätte hier nicht denselben Effekt.

 

Und so werde ich mit dem Jiddischen weitermachen, mich gemächlich durch Zeitungsartikel und Gedichte buchstabieren, Lektionen rekapitulieren und das unersetzliche jiddische "werterbuch"von Uriel Weinreich stets in Reichweite behalten. Denn einen lebenslangen Ertrag kriegt man geschenkt: Die jiddischen Wörter gehen nicht mehr fort und schwirren im Raum herum, wenn man sie einmal hereingelassen hat – wie "gajster", pardon: Geister. Rajzel Zychlinski kennt sich mit ihnen aus: "sej gejen arajn und arojs, durchsichtik, fun nacht zu nacht, fun schwajgn zu schwajgn."

 

Der französische Autor Gilles Rozier, der heute Europas größte jiddische Institution, die "Bibliothèque Medem", in Paris leitet, hat seinen Lebensweg in diese vitaltote Sprache in einem ergreifenden Roman, der wie manche andere jiddische Trouvaille bei uns in der "Anderen Bibliothek" erschienen ist, kunstvoll verschlüsselt: "Im Palast der Erinnerung".

 

"Diese Sprache ist ein Ozean"

 

Das Buch handelt von den abenteuerlichen Schicksalen und Zerwürfnissen dreier Dichter aus dem Warschau der Vorkriegszeit. Sie überleben zwar allesamt die Schoah, geraten aber mit und durch ihre Haltung zum Jiddischen komplett auseinander: Einer fällt 1952 antisemitischen Pogromen Stalins zum Opfer, einer wird in Israel zum Ultranationalisten, einer musealisiert in der Exilgemeinde in Kanada die Überreste.

 

Für Rozier ist Jiddisch zwar ein untergegangener Kontinent, singt aber aus der Tiefe mit der Kraft einer Sirene: "Diese Sprache ist ein Ozean, ihre Literatur eine versunkene Stadt. Sie wartet voller Ungeduld auf dem Grund der Wasser, die sie begraben haben. Sie bleibt im Herzen der Menschen." Wir müssen nur nach ihr tauchen.

 

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