Wenn Eltern senil werden

Wie hat Rav Assis Mutter auf die Trennung von ihrem Sohn reagiert? Wir wissen es, weil der Talmud uns die Fortsetzung der Geschichte erzählt ...

2 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 18.03.21

Im Talmud treten zwei Amoräer auf, die Rav Assi heissen; man sollte diese Gelehrten nicht verwechseln. Der eine war ein babylonischer Amoräer, der andere ein palästinensischer Amoräer. Allerdings stammte auch der Amoräer, der Ende des dritten und Anfang des vierten Jahrhunderts im Lande Israel lebte, aus Babylonien.

 

Warum übersiedelte Rav Assi? In der Encyclopaedia Judaica (Jerusalem 1972) steht, dass er wegen eines Missverständnisses mit seiner Mutter nach Israel auswanderte. Ist diese Erklärung richtig? Betrachten wir die angegebene Quelle (Kidduschin 31 b).

 

„Rav Assi hatte eine alte Mutter. Einst sagte sie zu ihm, sie wolle Schmucksachen; da fertigte er ihr solche. Ich möchte einen Mann haben – wir wollen einen suchen. Ich möchte einen Mann haben, der so schön ist wie du. Da verließ er sie und ging nach Eretz Israel.“ Anscheinend ist Rav Assi vor seiner Mutter geflohen, die an ihn Forderungen stellte, die er glaubte nicht erfüllen zu können. Wir können annehmen, dass er die Alte für senil hielt. In der Tat schreibt Maimonides in seinem Kodex (Hilchot Mamrin 6,10), dass ein Kind, das die Verrücktheit des Vaters oder der Mutter nicht länger ertragen kann, weggehen darf; nur muss es dafür sorgen, dass andere Leute die Eltern in angemessener Weise betreuen. Als Quelle für diese Entscheidung nennt Rabbiner Josef Karo die Geschichte von Rav Assi.

 

Es sei erwähnt, dass die referierte Meinung von Maimonides unter Halachisten nicht unumstritten ist. Schon Rabbi Avraham ben David (bekannt auch als Raaved) hat die Entscheidung von Maimonides kritisiert. Diese religionsgesetzliche Kontroverse soll uns hier nicht weiter beschäftigen.

 

Wie hat Rav Assis Mutter auf die Trennung von ihrem Sohn reagiert? Wir wissen es, weil der Talmud uns die Fortsetzung der Geschichte erzählt: „Als Rav Assi hörte, dass die Mutter ihm nachfolge, kam er zu Rabbi Jochanan und fragte ihn, ob man aus Eretz Israel nach dem Ausland gehen dürfe. Dieser erwiderte, es sei verboten. Wie ist es zum Empfange einer Mutter? Da erwiderte er etwas zögerlich: Ich weiss es nicht. Als er wiederum zu ihm kam, sprach Rabbi Jochanan: Assi, du bist nun entschlossen fortzugehen; Gott bringe dich in Frieden zurück. Hierauf kam Rav Assi zu Rabbi Elieser und sprach zu ihm: Er ist, behüte und bewahre, vielleicht böse. Dieser fragte: Was sagte er zu dir? Rav Assi erwiderte: Gott bringe dich in Frieden zurück. Da entgegnete Rabbi Elieser: Wäre er böse, würde er dich nicht gesegnet haben. Währenddessen hörte Rav Assi den Sarg kommen. Da sprach er: Hätte ich dies geahnt, würde ich nicht hinausgegangen sein.“

 

Die alte Mutter ist auf dem Weg zu ihrem Sohn gestorben, und Rav Assi hat am Ende sein Fluchtverhalten bereut: „Hätte ich dies geahnt, würde ich nicht hinausgegangen sein.“ Ihn plagen Schuldgefühle. Diese sind möglicherweise schon im Dialog mit Rabbi Elieser zum Vorschein gekommen. Die Befürchtung, Rabbi Jochanan sei auf ihn böse, beruht vermutlich auf einem Vorgang, den Psychoanalytiker eine Projektion nennen: seine eigenen Gefühle schrieb der reumütige Sohn Rabbi Jochanan zu. Rabbi Elieser gelang es, Rav Assi die richtige Interpretation der Worte des Meisters deutlich zu machen.

 

Die Tora verlangt nachdrücklich die Ehrung von Vater und Mutter (2. Buch Mose 20,12  und 5.Buch Mose 5,16). Die Geschichte von Rav Assi führt uns vor Augen, in welche Zwickmühlen man bei der Erfüllung dieses Tora-Gebotes geraten kann, wenn Senilität sich bemerkbar macht. Viele Menschen mit an Demenz leidenden Eltern haben solche schmerzliche Erfahrungen gemacht; sie wurden z. B. in Til Schweigers Film „Honig im Kopf“ im anrührender Weise dargestellt.

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