Bärenhunger – Toledot

Aus dem Kontext der Geschichte geht klar hervor, dass Esaw sein Erstgeburtsrecht gering schätzte.

5 Min.

Rabbiner Frand

gepostet auf 06.04.21

Wer ist weise? Derjenige, der erkennt, dass er töricht gehandelt hat

Paraschat Toldot erzählt von Esaw, der Jakob sein Erstgeburtsrecht verkauft. Nach dem Handel benützt die Torah den Ausdruck “Wajiwes Esaw et haBechorah“ (und Esaw verachtete sein Erstgeburtsrecht) [Bereschit 25:34]. Gemäß Raschi unterstreicht dieser Ausdruck Esaw’s Bosheit.

Aus dem Kontext der Geschichte geht klar hervor, dass Esaw sein Erstgeburtsrecht gering schätzte. Diese zusätzliche Bemerkung sagt uns, dass noch eine zusätzliche Stufe von Verachtung vorhanden war – mehr als man der Geschichte des Verkaufs entnehmen kann.

Rav Leib Chassman sagt, dass uns dieser Pasuk (Vers) einen wichtigen Einblick in die menschliche Persönlichkeit vermittelt: Wenn wir dumm oder wider aller Vernunft handeln, überdecken wir unsere Dummheit damit, dass wir dafür eine gescheite Erklärung suchen. Niemand möchte als Idiot dastehen oder denken, dass er eine Dummheit begangen hat. Was macht also ein Mensch, wenn er realisiert, dass er eine Dummheit gemacht hat? Er erfindet eine Philosophie! Menschen erfinden Philosophien um ihre Taten vernunftgemäß zu erklären.

Mit anderen Worten: Esaw war ausgehungert – hungrig wie ein Bär. Er überlegte nicht, was er tat – nur sein Magen trieb ihn. „Red‘ nicht über mein Erstgeburtsrecht – gib mir nur etwas zu essen.“ Nachdem er die Linsensuppe verschlungen hatte, realisierte er, dass er eine Dummheit gemacht hatte. Der menschliche Verstand will aber seine Taten begründen. „Die Erstgeburt ist nutzlos. Dieses Recht ist sowieso wertlos! Ich würde dieses Geschäft wieder machen! “Wajiwes Esaw et haBechorah“ ist die notwendige Antwort des menschlichen Verstandes zur Begründung seiner eigenen Dummheiten.

Wir wenden uns wie die Aale und erfinden lächerlichsten Philosophien um uns selbst zu überzeugen, dass wir nicht blöd sind. „Ich bin derjenige, der das beste Geschäft gemacht hat. Das Erstgeburtsrecht ist nicht einmal einen Topf Suppe wert.“

Es ist doch so wahr: Wir machen alle zuweilen eine Dummheit. Der Chacham (eine weise Person) ist aber nicht derjenige, der nie dumm handelt. Der Chacham ist derjenige, der erkennt, dass er eine Dummheit gemacht hat und zugibt, dass es ein Fehler war. „Ich war tatsächlich dumm.“ Der Narr hingegen erfindet Philosophien, damit seine Fehler Bestand haben und er dafür nicht gerade stehen muss.

Keduscha (Heiligkeit) – eine Realität

Die Torah beschreibt wie Jakob sich mit den Kleidern seines Bruders Esaw verkleidete und so das Zimmer seines blinden Vaters betrat. „Jizchak roch den Duft seiner Kleider (Begadaw) und sprach: „Siehe, der Duft meines Sohnes ist wie der Duft eines Feldes, das der Ewige gesegnet hat.“ [27:27].

Der Midrasch bemerkt, dass der vorhin übersetzte Pasuk (Vers) „Jizchak roch den Duft seiner Kleider“ nicht mit dem Wort „Begadim“ (Kleider) sondern mit dem Wort „Bagdim“ (von „Baged“ – ein Verräter) erklärt werden sollte. Jizchak „roch“ (d.h. er spürte mittels Ruach Hakodesch (göttlicher Eingebung)) die Verräter des jüdischen Volkes. Jizchak wusste auf prophetische Weise, dass Jakob rebellische und gegen G’tt verräterische Nachkommen haben wird. Dies inspirierte Jizchak, Jakob einen Segen zu geben.

Was ist die Bedeutung dieses Midraschs? Wieso inspirierte eine negative Prophetie Jizchak, Jakob zu segnen? Das nachfolgende Beispiel eines Verräters, das dieser Midrasch dann aufführt, bietet den Schlüssel zum besseren Verständnis.

Der Midrasch erzählt von einem Vorfall mit einer Person namens Josef Meschisa. Als die Römer kamen um das Bejt Hamikdasch (den heiligen Tempel) zu zerstören, kannten sie den Weg nicht. Sie benötigten einen Führer. Sie nahmen einen Juden – einen Verräter gegen seinen G’tt und seiner Nation – damit er ihnen helfe und sie durch das Bejs Hamikdasch führe. Sie sagten ihm, dass er sich als Lohn für seine Führung ein Stück der „Beute“ des Bejt Hamikdasch nach Wahl nehmen dürfe.

Josef Meschisa ging hinein und nahm den goldenen Leuchter. Stellen Sie sich vor, wie tief ein Jude sinken kann, dass er den goldenen Leuchter stiehlt! Die Römer sagten ihm dann, dass ein gewöhnlich Sterblicher keinen derartigen Gegenstand bei sich zuhause haben sollte. „Geh zurück und nimm dir irgendetwas anderes, nur nicht den goldenen Leuchter.“

Josef Meschisa antwortete: „Ich kann nicht noch einmal hineingehen.“ Sie versprachen ihm, dass die Steuereinnahmen der kommenden drei Jahre ihm gehören sollten, aber er blieb fest. „ Ich kann nicht noch einmal hineingehen. Ist es es nicht genug, dass ich meinen G’tt einmal erzürnt und seinen Tempel beschmutzt habe? Soll ich das nochmals tun? Ich kann es nicht.“

Die Römer folterten ihn zu Tode. Solange er unter der Folter noch lebte, murmelte er: „Weh mir, dass ich meinen Schöpfer erzürnt habe.“

Der Poniwescher Rav fragte: „Was ist hier geschehen? Was trieb Josef Meschisa zur Teschuwa (Rückkehr)? Er war augenscheinlich ein Jude mit absolut keinem Gefühl für jüdische Werte und dann änderte er sich und war bereit als Märtyrer zu sterben. Welches Ereignis verwandelte ihn von einem Bösewicht in einen Gerechten?“

Der Poniwescher Rav antwortete, dass das bloße Betreten eines heiligen Ortes Josef Meschisa derart veränderte. Er kam mit Heiligkeit in Berührung. Er betrat das Bejt Hamikdasch aus den niedrigsten Gründen und mit den schlimmsten Absichten – und er verließ es als ein neuer Mensch. Es gibt etwas Reales im Zusammenhang mit Heiligkeit und Reinheit. Sogar ein kurzer Kontakt mit der Schechina (G’ttes Anwesenheit) kann einen Menschen für den Rest seines Lebens verwandeln.

Das ist, was Josef Meschisa widerfuhr: Er kam mit etwas Heiligem in Berührung.

Dies, so sagt der Midrasch, ist ein Beispiel eines „Verräters“, so wie Jizchak es spürte. Es ist möglich, dass ein Jude G’tt derart fern steht, dass er bereitwillig den Tempel betritt, den Feinden hilft und den Leuchter nimmt – und doch: Im Handumdrehen kann derselbe Jude Teschuwa machen (bereuen) und sagen: „Nicht weiter. Ich habe genug getan. Tötet mich, foltert mich – aber ich werde das Gleiche nicht wiederholen.“

Die Kraft der Nachkommen Jakobs, sich vom tiefsten Mangel an Geistigkeit in die höchsten Höhen aufzuschwingen, ist der Charakterzug der „Bagdim“, welche Jizchak sah. Dieser inspirierte ihn dazu, den Segen zu geben. Dies ist, was dieser außergewöhnliche Midrasch erzählt.

Es soll niemand sagen, dass diese Kraft nur zu Zeiten des Bejt Hamikdasch vorhanden war, dass heutzutage nichts Derartiges vorhanden ist, das einen schlechten Menschen in kürzester Zeit in einen Gerechten verwandelt. Ich möchte dazu eine wahre Geschichte erzählen.

Die Geschichte handelt von einem Juden namens Franz Rosenzweig (1886 – 1929). Franz Rosenzweig schrieb diese wahre Geschichte in seinem Buch „Der Stern der Erlösung“ nieder.

Franz Rosenzweig war ein vollkommen weltlicher Jude. Er war ein produktiver Schriftsteller und ein großer Philosoph, aber vollkommen säkular. So sehr, dass er sich darauf vorbereitete zum Christentum überzutreten, damit er seine nichtjüdische Verlobte heiraten konnte. Er war Hauptmann der Deutschen Kavallerie im 1. Weltkrieg. Als solcher befand er sich in einer polnischen Stadt an einem Abend an dem ausgerechnet Jom Kippur war. Als Beobachter betrat er ein polnisches Stiebel (Betlokal) in der Nacht von Kol Nidrej.

Franz Rosenzweig ging in das Stiebel nur um zu schauen, wie es so zuging, aus purer Neugier. Er verließ es als Ba’al Teschuwah (ein „Rückkehrer“ zu Religion). Er löste die Verlobung und wurde religiös. Hier handelte es sich nicht um das Amerika der 90er Jahre, wo die Rückkehr von Juden zu ihrer Religion eine verbreitete Erscheinung ist, sondern um Deutschland im Jahre 1915, wo es unerhört war, dass ein säkularer Jude religiös wird!

Was war die Ursache? Was war es? Es war das Gleiche wie mit Josef Meschisa. Er kam mit Keduscha (Heiligkeit) in Berührung. Ein Mensch, der vollkommen säkular oder sogar anti-religiös ist, eine Person, die bereit ist eine andere Religion anzunehmen, die in eine Synagoge geht – nicht zum Gebet und nicht um teilzunehmen, sondern einzig, um zuzuschauen … Wenn die Person nur mit einem solch heiligen Ort zu so heiliger Stunde in Berührung tritt – dessen Seele kann davon ergriffen werden. Dies kann einen Menschen verändern. Dies ist Realität.

Heiligkeit, Keduscha, ist Realität. Tahara, Reinheit, ist Realität. Und wegen seiner Berührung mit Keduscha und Tahara wurde Rosenzweig ein anderer Mensch. Dafür ist nicht das Betreten des Bejs Hamikdasch notwendig. Es braucht nur ein Minjan rechtschaffener Juden in aufrichtigem Gebet zum Herrn der Welt. Dies kann einen Menschen für immer verändern.

 
 

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