Das Ideal der Heiligkeit

Zum Wochenabschnitt Schemini (Wajikra 9,1 – 11,47)- Ein Blick in die Bibelkonkordanz zeigt, dass das Wort „heilig“ (hebr.: kadosch) im Pentateuch oft vorkommt.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

Zum Wochenabschnitt Schemini (Wajikra 9,1 – 11,47)

Ein Blick in die Bibelkonkordanz zeigt, dass das Wort „heilig“ (hebr.: kadosch) im Pentateuch oft vorkommt. Gott wird als heilig bezeichnet, und die Israeliten werden aufgefordert, nach Heiligkeit zu streben: „Denn ich bin der Ewige, euer Gott: so heiliget euch, dass ihr heilig seid, denn ich bin heilig; und verunreiniget euch nicht durch all das Gewimmel, das auf dem Lande kriecht“ (Wajikra 11, 44). Bemerkenswert ist diesem Vers die Verbindung zwischen Heiligkeit und unerlaubter Nahrungsaufnahme; eine ähnliche Verknüpfung finden wir auch im Wochenabschnitt Mischpatim (Schmot 22, 30).
 
Es ist umstritten, ob das Streben nach Heiligkeit als eines der 613 Gebote der Tora (hebr.: Tarjag Mitzwot) gerechnet wird. Der Verfasser des Werkes „Halachot Gedolot“ (seine Identität ist unsicher: Schimeon Kayyara oder  Jehudai Gaon) erkennt im angeführten Vers eine positive Mitzwa. Andere Autoren wie Rabbi Saadja Gaon und Nachmanides sehen in der Aufforderung: „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott“ (Wajikra 19, 2) eines der 613 Mitzwot. Gegen diese Auffassungen hat Maimonides in seinem klassischen Werk „Sefer HaMitzwot“ (in der Einleitung, vierte Wurzel) protestiert. Maimonides sieht in den zitierten Versen lediglich eine allgemeine Mahnung, sämtliche Mitzwot zu erfüllen, und die ganze Tora umfassende Befehle gehören seiner Meinung nach nicht in die Liste der Tarjag Mitzwot. Das Streben nach Heiligkeit ist nach Maimonides ein Bestandteil der Mitzwa (Gebot Nr. 8), in den Wegen Gottes zu wandeln: „Er wird heilig genannt, sei auch du heilig“ (Hilchot Deot 1,6).
 
Was bedeutet die Heiligkeit Gottes, die wir Juden Tag täglich im Gebet mehrmals erwähnen? Rabbiner Elie Munk erklärt in seinem Buch „Die Welt der Gebete“: „Mit dem Preis der Heiligkeit gelangt die Huldigung Gottes zur höchsten Stufe und letzten Steigerung. Alle Attribute der Vollkommenheit, Schönheit und Wahrheit sind in ‚kadosch’ inbegriffen. Diese absolute Freiheit des Seins, Wollens und Könnens macht Gott zu dem Einzigen, Unvergleichlichen und scheidet alle anderen von Menschen vergötterten Gewalten und Mächte völlig von ihm“.
 
Natürlich ist Gottes Heiligkeit niemals mit der eines Menschen gleichzustellen. Rabbiner David Hoffmann sieht diese Tatsache in der Schrift angedeutet: „Es ist merkwürdig, dass im ganzen Leviticus das Adjektiv kadosch, von Gott gebraucht, immer plene mit Waw geschrieben wird; als Eigenschaftswort bei einem Menschen hingegen steht es ohne Waw geschrieben. Dies kann nicht zufällig sein. Sollte nicht gerade in diesem Buch die Lehre gegeben sein, dass allerdings nur Gott absolut heilig ist, alle moralischen Vollkommenheiten besitzt,  der Mensch jedoch nur eine unvollkommene Heiligkeit erreichen könne; seine estimmung ist daher, dem absolut heiligen Gotte nachzuwandeln, um eine möglichst hohe Stufe der Heiligkeit zu erreichen.“
 
Das Ideal der Heiligkeit erweist sich bei näherer Betrachtung als eine praktische Leitlinie. Rabbiner J.H. Hertz stellt in seinem Kommentar zu Wajikra 19, 2 fest: „Heiligkeit ist nicht so sehr eine abstrakte oder mystische Idee, wie ein ordnendes Prinzip im täglichen Leben der Männer und Frauen. Die Worte ‚heilig sollt ihr sein’ sind der Grundton des ganzen Kapitels, der bei den verschiedenen dort enthaltenen Vorschriften mitklingen muss: Ehrfurcht vor den Eltern, Unterstützung der Bedürftigen, pünktliche Entlohnung für angemessene Arbeitsstunden, ehrliches Handeln, Vermeidung von Bosheit und Zuträgerei, Nächstenliebe, Freundlichkeit dem Fremden gegenüber, gleiches Recht für reich und arm, richtiges Maß und Gewicht — und Abscheu vor allem Unreinen, Unvernünftigen oder Heidnischen. Zur Heiligkeit gelangt man nicht durch Flucht aus der Welt, auch nicht durch mönchischen Verzicht auf menschliche Bindungen wie Familie und Beruf, sondern durch den Geist, in dem man die Verpflichtungen, die das Leben mit sich bringt, in ihren einfachsten und alltäglichsten Einzelheiten erfüllt: Auf diese Weise – durch gerechtes Handeln, Barmherzigkeit und demütiges Wandeln auf den Wegen unseres Gottes – wird das alltägliche Leben erhöht und geheiligt.“
 

Im täglichen Gebet erwähnen wir nicht nur Gottes Heiligkeit, sondern ausdrücklich auch unsere Aufgabe, nach Heiligkeit zu streben. Im Schma-Gebet, das morgens und abends gesagt wird, heißt es u.a.: „Auf dass ihr gedenket und erfüllet alle meine Gebote und heilig werdet eurem Gotte“ (Bamidbar 15, 40). Rabbiner Schimon Schwab deutet in seinem englischsprachigen Kommentar zum Gebetbuch das Wort „heilig“ als „getrennt“ (vgl. Raschi sowie Nachmanides zu Wajikra 19, 2). Nach Heiligkeit streben bedeutet also: wir sollen uns immer wieder von der Stufe trennen, die wir bereits erreicht haben, und uns kontinuierlich im Sinne der Tora weiterentwickeln (siehe das Kapitel „Selbstbearbeitung“ in Rabbiner S.R. Hirschs „Chorew“).

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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