Licht und Schatten

Wir können die Sünde um das Goldene Kalb nur anhand des Grundsatzes verstehen: "Niemand erfasst den Sinn der Worte der Tora, ohne an ihnen gestrauchelt zu sein" (Gittin 43a).

5 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

Parschat "Ki-Tissa" (2.Buch Moscheh "Exodus", Kap.30,11 – 34,35)

 

Hinabsteigen der Ideale

 

Wir können die Sünde um das Goldene Kalb nur anhand des Grundsatzes verstehen, der uns unseren Weg auf dieser Welt erleuchtet: "Niemand erfasst den Sinn der Worte der Tora, ohne an ihnen gestrauchelt zu sein" (Gittin 43a).

 

"Und der Ewige ließ sich auf den Berg Sinai herab" (Ex. 19,20) – vom Himmlischen zum Irdischen – um sich stärker mit der Menschheit zu befassen, trotz ihrer beschränkten, materiellen Grobheit; das göttliche Ideal auf seinem Wege der Materialisierung in der niederen Welt: "Während der König in meinem Kreise, gab meine Narde ihren Duft" (Hohelied 1,12). Und noch während das Volk am Berge Sinai verweilte, befand sich der furchtbare Stolperstein des Götzendienstes in unmittelbarer Nähe (auch wenn es sich im strengen Sinne des Gesetzes nicht um Götzendienst gehandelt hat, wie unsere Weisen lehrten; siehe Sanhedrin 63a, Kusari I,97): eine Erscheinung furchtbarer Verirrung über die Weise des G~ttesdienstes, bis hin zur Vernichtungsdrohung.

 

Dies ist ganz generell der Weg allen Seins, "wenn sich die Dinge im Herabsteigen vom Göttlichen zum Weltlichen offenbaren – das gleicht einer Erniedrigung und furchtbarem 'Tode' … doch dieser Niedergang beinhaltet bereits den höchsten Aufstieg … und im Verlaufe werden die Dinge klarer und kehren zu ihrer ursprünglichen Macht mit zusätzlichem Schwung zurück" (Rabbiner A.J. Kuk, Orot haTschuwa 11,4).

 

Licht und Schatten

 

Warum wurde unserem Lehrer Moscheh befohlen, zuerst die Lade [für die Gesetzestafeln] und die Geräte anzufertigen, und erst danach das Heiligtum [Vorläufer des Tempels während der Wüstenwanderung] zu errichten? Bis zur Fertigstellung des Heiligtums mussten jene doch unterdessen im Freien verbleiben?! Diese Frage stellte schon Bezalel, wie der Talmud mitteilt: "Als der Heilige, gepriesen sei er, zu Moscheh sprach: Geh und sage Bezalel, dass er mir eine Wohnung, eine Lade und Geräte mache, ging Moscheh hin und sagte es ihm umgekehrt: mache eine Lade, Geräte und eine Wohnung. Da sprach jener zu ihm: Unser Lehrer Moscheh, in der Welt ist es Brauch, dass der Mensch zuerst das Haus baut, und erst nachher bringt er Geräte hinein; du aber sprichst: Mache mir eine Lade, Geräte und eine Wohnung. Wohin soll ich die Geräte bringen, die ich anfertige!? Vielleicht aber hat der Heilige, gepriesen sei er, dir wie folgt gesagt: mache eine Wohnung, eine Lade und Geräte? Dieser erwiderte: Du warst wahrscheinlich im Schatten G~ttes [=be-zel-el] und hast dies erfahren" (Brachot 55a).

 

Deshalb "wurde er Bezalel wegen seiner Weisheit genannt" (ebda.). Und woher wissen wir, dass er so wegen seiner Weisheit genannt wurde? Wie es heißt: "Siehe, ich habe Bezalel mit Namen berufen" (Ex. 31,2), und gleichfalls in Parschat Wajakhel: "Und Bezalel machte die Lade…" (Ex. 37,1) wird sein Name ausgerechnet im Zusammenhang mit der Lade genannt; dazu erklärt der Raschikommentar: "Weil er sich mehr der Arbeit hingab als die anderen Weisen, wird sie nach seinem Namen genannt". Das heißt, er strengte sich an, überlegte und gelangte zu der Einsicht, dass die Lade zuletzt anzufertigen sei. Entsprechend werden in Parschat Ki-Tissa "Stiftszelt, Gesetzeslade und alle Geräte" (Ex. 30, 26+27) genannt.

 

Kann es denn aber angehen, dass Moscheh wirklich nicht auf die Idee kam, zuerst das Haus zu bauen, damit die Gesetzeslade nicht unwürdig im Freien steht?! Konnte er wirklich den göttlichen Befehl vergessen haben?!

 

Offensichtlich gab G~tt die Anordnungen zweifach, einmal die Lade zuerst und einmal das Heiligtum zuerst, und Moscheh wusste nicht, nach welcher Version er praktisch verfahren sollte. Darum entschied er schließlich aufgrund eigener Überlegungen: Ziel des Heiligtums ist das Herabbringen der göttlichen Präsenz, die hauptsächlich auf der Gesetzeslade ruht, wie es heißt: "Und dort will ich mit dir zusammenkommen" (Ex. 25,22). Die Hauptsache ist die Tora, das Licht. Der Midrasch überliefert uns Moschehs Begründung: "So wie das Licht der ganzen Schöpfung voranging, wie geschrieben steht: 'Und G~tt sprach: Es werde Licht', so geht auch beim Heiligtum bei der Tora, die Licht genannt wird, wie es heißt: 'Denn eine Leuchte ist das Gebot und die Tora Licht', Deine Schöpfung allen Geräten vor" (Schemot rabba, 34,2).

 

In der Realität kann dieses Licht nicht auf einmal erscheinen, sondern nur in kleinen Dosen und durch "Schutzfilter", andernfalls würde es blenden. Man braucht also etwas Schatten. Den Schatten des Bezalel [s.o.], wie Rabbiner Charlap [Leiter der Jerusalemer Jeschiwa "Merkas HaRav" vor etwa 60 Jahren] schreibt, den wir brauchen, um den Glanz des Lichtes wirklich genießen zu können. "Und G~tt sah, dass das Licht gut war – als aber der Heilige, gepriesen sei er, auf das Zeitalter der Sintflut und der Teilung schaute und ihre schlechten Taten sah, versteckte er es vor ihnen … für die Frommen in der zukünftigen Welt" (Chagiga 12a). "Am Ende die Tat, in Gedanken zuerst" (aus "Lecha dodi") – am Ende wird in die Tat umgesetzt, was dem geistigen Auge am Anfang vorschwebte. Moscheh sprach von den ursprünglichen Gedanken, in der Praxis aber ist etwas Schatten nötig. Ohne Schatten können die ursprünglichen Gedanken nicht in die Tat umgesetzt werden. Für einen geordneten Ablauf der Dinge muss die göttliche Eigenschaft der Barmherzigkeit der göttlichen Eigenschaft absoluten Gesetzes beigegeben werden, damit sie empfangen werden kann.

 

Das ist hier die eigentliche Frage: Wurde zuerst die Welt erschaffen oder das Licht (Midrasch Bereschit rabba 1,3)? Vonseiten Moschehs, dem Vertreter absoluter göttlicher Wahrheit, steht das Licht an erster Stelle. In den Augen Bezalels jedoch, für den die praktische Ausführung Vorrang hatte, kam die Welt zuerst, um das Erscheinen des Lichtes überhaupt zu ermöglichen.

 

Die Kriterien von Gut und Böse

 

Wie im Buche "Kusari" (Rabbi Jehuda Halevi, lebte vor etwa 1000 Jahren) erklärt, gilt die Sünde vom Goldenen Kalb nicht als aktiver Götzendienst, weil selbst die Verfertiger des Kalbes nur vorhatten, damit dem Herrn der Welt zu dienen. Sie sündigten jedoch durch die Anfertigung eines Abbildes (I,97). Wenn allerdings beim G~ttesdienst jedes Abbild verboten ist, was sollen wir demnach von den Cherubim im Allerheiligsten halten?!

 

Der grundlegende Unterschied zwischen dem Goldenen Kalb und dem goldenen Cherub besteht darin, dass G~tt das eine zu fertigen befohlen hat, das andere aber nicht. Der Unterschied liegt nicht in der Quantität, sondern in der Qualität, im Unterschied zwischen Allem oder Nichts.

 

In diesem Sinne können wir das Goldene Kalb als Wiederholung der Sünde des ersten Menschen auffassen. Adam wollte sicher nur Gutes tun und nicht sündigen. Zwar war er von gewaltiger spiritueller Größe, doch wollte er auch noch der Herr über Gut und Böse sein. Er "stahl" das Bestimmungsrecht über die Kriterien von Gut und Böse.

 

"Von sich aus erkennend Gut und Böse" (Gen. 3,22) [entsprechend der Übersetzung des Onkelos und dem Kommentar von Rav Sa'adia Gaon, u.a.] – Adam glaubte von sich aus zu wissen, was gut und was böse sei. Diese Art Sünde heißt, modern ausgedrückt, "Humanismus": der Mensch bestimmt die moralische Wertordnung, nicht der Herr der Welt. So brachte der erste Mensch Gut und Böse durcheinander (siehe Rabbiner Chajim aus Woloschin "Nefesch HaChajim", 1. Abschnitt, 6. Kapitel, Anmerkung). Auf diese Weise drang in den ersten Menschen die "Unreinheit der Urschlange" ein. Er unterlag damit der furchtbaren gedanklichen Verwirrung der moralischen Grundwerte.

 

Bei der Übergabe der Tora am Sinai "retournierten" wir dem Herrn der Welt durch unseren Ausspruch "Wir wollen tun und wir wollen hören" (Ex. 24,7) [erst "tun", und dann "hören", nicht umgekehrt] das Bestimmungsrecht über Gut und Böse, wodurch die Verunreinigung der Urschlange von uns wich. Wir verlangten nicht mehr kleinliche Rechnungslegung von G~tt und kehrten so zu unserer ursprünglichen Eigenschaft der Geradheit zurück, so wie uns G~tt geschaffen hatte. Die Sünde des Goldenen Kalbes aber brachte die Unreinheit der Urschlange wiederum über uns. Ein weiteres Mal stahlen wir uns das Definitionsrecht von Gut und Böse. Diese Sünde wurde der Gemeinschaft im nationalen Sinne angelastet. "Aber am Tage, da ich ahnde, werde ich an ihnen ihre Sünde ahnden" (Ex. 32,34). Sie hatte sich über alle Generationen ausgebreitet (siehe Sanhedrin 102a).

 

Und wir? Wir arbeiten an der Begriffsbereinigung von Gut und Böse, an ihrer Befreiung von jener Unreinheit. Bis wir den Tag erreichen, von dem es heißt: "Und den Geist der Unreinheit werde ich wegschaffen aus dem Lande" (Secharja 13,2).

 

Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Leiter der Jeschiwa "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Altstadt von Jerusalem. Übersetzt von R. Plaut Chefredakteur von KimiZion

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