Die Welt nach der Sintflut

Die Sintflut überschwemmte die Erde und löschte alles Leben vom Erdboden aus. Jene Auffassung, wonach der Mensch für sich selbst lebt und ...

4 Min.

Rabbiner Lior Engelmann

gepostet auf 06.04.21

Die Einigkeit nach der Sintflut

Die Sintflut überschwemmte die Erde und löschte alles Leben vom Erdboden aus. Jene Auffassung, wonach der Mensch für sich selbst lebt und dazu – wenn zum Erreichen seiner Ziele nötig – den Nächsten zerstören kann, brach zusammen und führte zum Ende der Welt.
 
Zwei gewaltige Änderungen erfolgten mit der Sintflut, eine durch himmlische Einwirkung, und die andere durch den Menschen.
 
Die erste kam in der Verkürzung der Lebensjahre des Menschen zum Ausdruck. Vorher wurden die Menschen fast bis zu tausend Jahre alt, nachher weit weniger, so dass die Schwangerschaft von Sara im Alter von 90 Jahren als Wunder galt.
 
Die zweite Änderung kam in der radikal anderen Gesellschaftsordnung zum Ausdruck, wobei nicht mehr der Einzelne im Mittelpunkt stand, der zur Befriedigung seiner Bedürfnisse rücksichtslos alles nahm, was ihm in die Finger kam, sondern eine Welt entstand, in der Einigkeit herrschte, eine Idee, die alle beseelte:
 
„Und es war auf der ganzen Erde eine Sprache und einerlei Worte.“ (Gen. 11,1)
 
Überraschend gab es plötzlich den Begriff des Miteinanders! Anstatt „und die Erde war voll Gewalttat“ (Gen. 6,11) – begegnen wir nun „und sie sprachen einer zum andern: Wohlan!“ (11,3) Kurzgesagt: Nächstenliebe!
 
Die Beschreibung dieser Generation – könnte man meinen – passe fast auf die des messianischen Zeitalters: die Welt verschmilzt zu einer Einheit, man spricht eine gemeinsame Sprache und „einerlei Worte“.
 
Die Menschheit vereint sich unter einem gemeinsamen Ideal und übt sich in freudiger Zusammenarbeit, bis dass es dem geneigten Leser jener Verse schwer fällt zu verstehen, warum der Herr der Welt dieses Fest der Einigkeit "verdirbt" mit der Begründung:
 
„Siehe, ein Volk ist es und eine Sprache haben alle, und dies ist nur der Anfang ihres Tuns; fortan wird ihnen nichts fehlschlagen, was sie auch ersinnen mögen.“ (11,6)
 
Auch wird in der Tora nicht ausdrücklich erwähnt, worin eigentlich die Sünde des Turmbaus bestand. Die Midraschim beschreiben eine Absicht, in den Himmel zu steigen und gegen G~tt zu kämpfen. Einige der Kommentatoren schreiben, die Sünde bestand in der Konzentration an einem Orte, anstatt die ganze Welt zu bevölkern, doch die Schrift offenbarte nicht das Geheimnis der Sünde, anscheinend aus gutem Grunde.

Worin besteht also das Problem dieser Generation der Aufspaltung, die auf so positive Weise in der Tora beschrieben wird?

 
Die Einheitlichkeit nach der Sintflut
 
Der Neziw (Rabbiner Naftali Zwi Jehuda Berlin) aus Woloschin erklärte, mit Absicht erwähne die Tora nicht das Wesen jener Sünde, und unter welchem verkrümmten Ideal die Menschheit sich vereinigte. Es wurde nicht in der Schrift festgehalten, weil es in Wirklichkeit gar nichts ausmacht. Die Tatsache an sich, dass alle dasselbe sagen und auf dieselbe Weise denken – das ist schon das Problem. Eine Gesellschaft, die auf einen Gedanken gebaut ist und keinen Raum für eine Ideenvielfalt lässt ist eine magere, oberflächliche und gefährliche Gesellschaft. Die an einem Ort konzentrierte Siedlung und der Bau eines Turmes, der dazu gedacht ist – so der Neziw – über alle zu wachen und dafür zu sorgen, dass nicht ein Einziger vom gemeinsamen Wege abschweift, weisen auf eine Gesellschaft hin, die sich um eine Gedankenbeherrschung herum aufgebaut hat. Alle müssen der offiziellen Linie folgen, niemand darf eigenständig denken und sich einen anderen Weg bahnen:
 
„Weil aber doch die Gedanken der Menschen nicht gleich sind, befürchteten sie, dass Leute diese Ansicht verlassen und einer anderen folgen könnten, darum achteten sie darauf, dass niemand aus ihrem Ort heraus gehe.“ (zu 11,4)
 
Nach den talmudischen Weisen fand das Ereignis um unseren Vorvater Awraham, ihn in den Feuerofen zu werfen, während der Generation der Abspaltung statt (Midrasch), der Generation des Friedens, der einen Sprache, die einen Menschen wie Awraham nicht dulden kann, der wagt, anders zu denken. Der Feuerofen ist im Vers angedeutet: „brennen zu Brand“ (Gen. 11,3).
 
Mithilfe des Turms sollten die Abweichler überwacht werden, und der Feuerofen war zur Abschreckung und Bestrafung gedacht, wie der Neziw ausführte:
„Wer von den einheitlichen Dingen unter ihnen abwich, wurde zum Verbrennen verurteilt, wie sie es an unserem Vorvater Awraham taten. So kam es, dass ihnen ihre Einheitlichkeit zum Fallstrick wurde, da sie entschieden, jeden zu töten, der nicht wie sie dachte“ (Ebda).
 
Die Generation der Abspaltung war keine Generation der Einheit, sondern der Einheitlichkeit. Sie bietet kein Vorbild für das messianische Zeitalter, sondern für die dunklen Tage des Eisernen Vorhangs und der Gedankenpolizei. Wenn die Menschen nicht frei sind, ihre eigenständigen Gedanken zu denken und in der Öffentlichkeit Stille und Seelenruhe zu herrschen scheinen, dann ist das eine eingebildete Seelenruhe, dann ist das der Frieden einer einzelnen Sekte, die nur mit sich selbst in Frieden zu existieren bereit ist und keine Andersartigen dulden kann. Im messianischen Zeitalter hingegen „wohnt der Wolf mit dem Schafe“ – der Wolf wird das Schaf nicht zwingen, zum Wolf zu werden und wird es auch nicht auffressen, wenn es weiter Schaf bleiben will, sondern beide werden ihre unterschiedlichen Lebenswege weiter gehen, aber einig im Willen um ein erhabenes Ideal. Der jüdische Traum von den Tagen, an denen die ganze Welt einen einzigen Bund bilden wird ist ein Traum von vielen und gewaltigen Arten, die sich aus freien Stücken um das große göttliche Ideal scharen, das für alle Platz hat, ohne eine Identität zu verwischen und ohne gewaltsame Aufdrängung einer Diktatur des Wachturmes.
 
Die Sünde der Generation der Abspaltung war die Sünde der einen Sprache, die Sünde der Gleichschaltung der Gedanken und des Aufzwingens einer Ideologie. Eine Sünde des Mangels an Glauben an das große Ideal, das um sich unterschiedliche Menschen aus freiem Willen und vollem Bewusstsein einen kann. Das war die Sünde der Einheitslinie, die sich den Massen aufzwingt, einer Generation, bei der, wenn sie hätte ausführen können, was sie auch ersinnen mochte, unser Vorvater Awraham im Feuerofen verbrannt wäre.
 
Das war eine Sünde, der manchmal gerade idealistische Menschen verfallen, die im Namen eines in ihren Augen wahren Ideales erbarmungslos alle aus dem Weg räumen, die von der herrschenden Linie abweichen. Diese Sünde machte die Spaltung der Menschheit in unterschiedliche Sprachen und Schattierungen sowie ihre Zerstreuung über den ganzen Erdball notwendig.
 

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