Die üble Nachrede

Der größte aller Schäden, die dem Menschen anhaften können, ist die Sprachschädigung, denn im Sprechen unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Kreaturen...

3 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

Parschat "Mezora" (Lev. 14,1 – 15,33)

 

Die üble Nachrede

 

Der größte aller Schäden, die dem Menschen anhaften können, ist die Sprachschädigung, denn im Sprechen unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Kreaturen; darum wird er auch der "sprechende Mensch" genannt.

 

Das Wesen des Menschen definiert folgender Vers: "so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen" (Gen. 2,7), in der aramäischen Übersetzung (Targum Onkelos) "sprechender Geist". Das Sprachvermögen vermag seiner inneren Welt, seinen Gedanken zum Ausdruck zu verhelfen. Der gesunde, normale Mensch, "dem G~tt Erkenntnis gewährt" (Schmone Esre), verfügt über einen Körper, dem die Seele eingehaucht wurde, und aus gutem Grund sollte sich diese spezifische seelische Kraft offenbaren und Ausdruck finden. Das ist mit dem "sprechenden Menschen" gemeint. Es versteht sich von selbst, dass er nur da spricht, wo es nötig ist. Daneben ist der gesellschaftliche Aspekt zu berücksichtigen, denn der Mensch spricht in der Regel mit einem anderen. Er übermittelt seinem Nächsten durch die Rede einen Teil seiner Verstandes- und Gefühlswelt. Er drückt der menschlichen Gesellschaft gegenüber das aus, was in ihm steckt. Kurzum: Der ganze Mensch offenbart sich im Inhalt seiner Rede. Und daher die enorme Bedeutung des anständigen und richtigen Redens.

 

Umgekehrt versteht sich aus dem Vorgenannten der schwerwiegende Makel eines Menschen, der nicht "richtig" zu sprechen versteht. Deshalb beginnt die Tora ihre Untersuchungen über die in spiritueller und auch in physischer Hinsicht krankhaften Zustände des Menschen mit dem Aussätzigen (Mezore'a), dem Übles Nachredenden (Hamozi [schemra, siehe Arachin 15b). Die üble Nachrede ist eine Beschädigung des menschlichen Sprachvermögens. Bei den talmudischen Weisen finden sich erschütternde Vergleiche in Bezug auf die üble Nachrede (ebda.), wie etwa mit Götzendienst, Inzest und Blutvergießen, und dass jeder, der der üblen Nachrede frönt, einem G~ttesleugner gleicht.

 

Beim "Chafetz Chajim" (Rabbiner Israel Me'ir Hakohen), dem göttlichen Sendboten zur Heilung der Sprache, der zu diesem Thema mehrere Bücher verfasste, finden wir einen besonderen Ausdruck – dass der Übles Nachredende nicht nur seine eigene Sprachkraft spirituell verunreinigt, sondern auch die der gesamten jüdischen Gemeinschaft.

 

Dem steht die Reinheit der Sprache gegenüber, die Gesundheit der Sprache, die Macht der Heiligkeit der Sprache.

 

Vom Reden und Schweigen

 

Der Mensch unterscheidet sich von der übrigen Schöpfung durch die Rede, der "redende Mensch". Diesem Lebewesen wurde vom Herrn der Welt die besondere Befähigung verliehen, seine Gedanken in Form von Worten auszudrücken. Einerseits gibt es Gedanken, deren sprachlicher Ausdruck die Welt wie mit Wohlgeruch erfüllt, und andere, die zum Himmel stinken. Diesbezüglich heißt es im Buche Kohelet (Prediger 3,7): "eine Zeit des Schweigens", um solche Gedanken zu korrigieren oder wenigstens abzumildern. In den Worten unserer talmudischen Weisen (Chulin 89a): "Was sei die Beschäftigung des Menschen in dieser Welt? Er stelle sich stumm". Es gibt Situationen, in denen man sich stummstellen muss, wenn es auch manchmal außerordentlich schwerfällt; doch nicht immer: "Man könnte glauben, auch in Bezug auf Worte der Tora, so heißt es [Psalm 58,2] 'Gerechtigkeit zu sprechen'" (ebda.). Wenn es um Gerechtigkeit, Tora, Heiligkeit, Sittlichkeit, Mildtätigkeit und Menschenwürde geht, gibt es nichts zu schweigen. Darin besteht die Kunst des Menschen – zu wissen, wann zu reden und wann zu schweigen. Wenn ein Mensch dummes Zeug redet, kann sich dieses Zeichen geistiger Verrottung sogar an seinem Körper bemerkbar machen. Ein bestimmter psychosomatischer Vorgang bringt diese Verrottung durch Hautaussatz zum Ausdruck.

 

Und in schlimmeren Fällen macht sich diese Erscheinung auf der Kleidung und sogar auf den Hauswänden bemerkbar.

 

Üble Rede verbreitet ihren Pesthauch in der ganzen Umgebung und legt ihn auf die ganze Gesellschaft. Dieser niedere Trieb sucht sich gerne ein gesetzliches Schlupfloch, auf das er sich dann scheinheilig beruft. So können auch diejenigen, die aus uneigennützigen Gründen über einen Mitmenschen reden, zerstörend wirken. Gibt es denn ein deutlicheres Beispiel dafür als die Zerstörung des zweiten Tempels? Trotz der vielen Gerechten, die sich mit Torastudium, Gebotserfüllung und Mildtätigkeit beschäftigten – doch leider bedienten sie sich der üblen Nachrede (Joma 9a, Einleitung des Buches "Chafetz Chajim"). Es gibt daher keinerlei Rechtfertigung für die Vergiftung von Nation und Gesellschaft mit übler Rede, selbst für sogenannte "höhere Ziele", da meist ein unvorstellbar größerer Schaden angerichtet wird als irgendein denkbarer Nutzen.

 

Wer natürlich nicht das Buch "Chafetz Chajim" – von der üblen (Nach-)Rede – einige Male gründlich durchstudiert hat, muss sich sehr zurückhalten und zugeben, dass er viele Dinge nicht kennt, und sichere Zuflucht beim Schweigen suchen. Er braucht auch nicht zu befürchten, dass er damit seine Aktionsmöglichkeit einschränkt oder Verrat an seiner Verantwortlichkeit übt. Es gibt nämlich Reden, das zerstört, und Schweigen, das aufbaut. Wer sich ernsthaft im Schweigen übt, wird mehr und mehr wahrer Weisheit teilhaftig werden, denn "ihr Schutzzaun ist Schweigen" (Mischna "Sprüche der Väter" 3,17). "Darum verstummt der Einsichtige in selbiger Zeit" (Amos 5,13). Durch die Kunst des Schweigens erwirbt der Mensch hohe Verantwortlichkeit in seinen Äußerungen, und so bringt sein Wort der Welt Segen und Heilung.  

 

Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Leiter der Jeschiwa "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Altstadt von Jerusalem – übersetzt von R. Plaut Chefredakteur von KimiZion

 

Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Danke fuer Ihre Antwort!

Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.

Fuegen Sie einen Kommentar hinzu.