Opfer bringen

Das Einzige, was uns in der langen und dunklen Nacht des Exils überleben lässt, ist der Zusammenhalt in der Familie und im jüdischen Volk.

4 Min.

Rabbiner David Geballe

gepostet auf 16.03.21

Wie Jakow auf dem Weg nach Ägypten seine Dankbarkeit ausdrückte

 

In den vergangenen Wochenabschnitten konnten wir ein fast beispielloses Familiendrama mitverfolgen. Wir haben quasi live miterlebt, wie zehn junge Männer ihren Bruder töten wollten, sich dann aber darauf einigten, ihn als Sklaven nach Ägypten zu verkaufen. Um ihre Tat zu vertuschen, gaben sie vor, dass ihr Bruder von einem wilden Tier getötet wurde. Das Resultat davon war, dass ihr Vater, Jakow, in eine tiefe Depression fiel.

 

In Ägypten angekommen, scheint es diesem Bruder, Josef, erst einmal gut zu gehen, bis die Geschichte plötzlich einen völlig anderen Verlauf nimmt und er im Kerker landet. Auf wundersame Weise katapultiert ihn die Geschichte aus dem Leben eines Häftlings an den königlichen Hof, wo er zum Vizekönig Ägyptens ernannt wird.

 

 

HUNGERSNOT

 

Vergangene Woche haben wir gelesen, wie Jakow seine Söhne nach Ägypten schickte, um dort Getreide zu kaufen, da in Kenaan eine schwere Hungersnot herrschte. Ägypten war dank Josefs Weisheit das einzige Land, das nicht nur keinen Hunger litt, sondern sogar Lebensmittel verkaufen konnte und dadurch reich wurde.

 

Die zehn Brüder treffen in Ägypten mit Josef zusammen, aber sie erkennen ihn nicht. Dieser prüft seine Brüder, ob sie ihre Tat von damals bereuen. Dazu lässt er sich einen komplizierten Plan einfallen, der darin endet, dass der jüngste Bruder, Benjamin, mit nach Ägypten reist und des Diebstahls von Josefs königlichem Pokal bezichtigt wird, eines Verbrechens, das mit Versklavung geahndet wird. Jehuda, Jakows ältester Sohn, versucht, Benjamin zu verteidigen, und bietet an, die Strafe auf sich zu nehmen.

 

An dieser Stelle knüpft unser Wochenabschnitt an. Jehuda tritt aus der Masse der Brüder hervor und zeigt Größe. Seine Rede ist ein juristisches Meisterstück, einfach, aber eloquent, gefühlvoll, aber auch kontrolliert. Schlussendlich gelingt es Josef nicht mehr, seine Gefühle im Zaum zu halten, und es bricht aus ihm heraus: »Ich bin Josef, lebt unser Vater noch?« Die Brüder trifft dies wie ein Schlag. Zwar hofften sie, in Ägypten ihren Bruder zu finden und aus der Sklaverei zu befreien, doch keiner hatte damit gerechnet, dass ihr Bruder inzwischen Vizekönig des mächtigsten Landes der Welt geworden war.

 

 

ANGST

 

Doch sofort nach dem Gefühl der Überraschung kam die Angst. Was wird ihr Bruder tun? Wird er sich rächen? Doch Josef schafft es, seine Brüder davon zu überzeugen, dass er keine bösen Absichten hat und keinen Groll hegt. Alles, was geschehen ist, war G’ttes Plan und musste so geschehen. Die ganze Familie soll nach Ägypten kommen, um dort die Dürre zu überstehen.

 

Die Brüder reisen schnell zurück ins Land Kenaan, um ihrem Vater die unglaubliche Nachricht zu überbringen. Nach 20 Jahren Depression und dem einhergehenden Verlust der Prophetie blüht Jakow endlich wieder auf, als er hört, dass es Josef nicht nur wirtschaftlich gut geht, sondern er auch in spiritueller Hinsicht noch derselbe ist wie einst. Es war der glücklichste Tag in Jakows Leben. Nach so vielen Jahren war die Familie nun endlich bald wieder vereint.

 

Auf dem Weg nach Ägypten macht Jakow Station in Beer Sheva. Diese Stadt ist für ihn von großer familiengeschichtlicher Bedeutung. Er wollte auf der Reise die Gelegenheit nutzen, dieser Geschichte zu gedenken und G’tt für die Freude, die er nach so vielen Jahren endlich wieder verspürte, mit einem Opfer zu danken.

 

 

SELBSTAUFOPFERUNG

 

Doch anders als sein Vater Jizchak und sein Großvater Awraham, die immer nur Ganzopfer (Olot) darbrachten, bringt Jakow nun Mahlopfer (Zewachim) dar. Diese Veränderung ist außergewöhnlich. Hinter den Olot, die komplett auf dem Altar verbrannt werden, steht die vollkommene Selbstaufopferung für G’tt. Man gibt sich und alles, was man hat, dem Ewigen.

 

Zewachim hingegen sind etwas völlig anderes. Derjenige, der es darbringt, nimmt einen Teil des Opfers mit nach Hause und isst es dort mit seiner Familie. Sein Haus wird damit quasi zum Tempel und der Esstisch zum Altar. Beim Darbringen von Ganzopfern gehen wir auf G’tt zu, bei den Zewachim hingegen kommt G’tt zu uns. In einer vereinten Familie, die G’tt dient, wird aus dem Haus ein Heiligtum. Jede noch so kleine und profane Ecke des Hauses wird von Heiligkeit erfüllt, und in den ach so alltäglichen Familienabläufen wird G’ttes Präsenz gegenwärtig.

 

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) schreibt hierzu: »Allein, dass das gewöhnliche Leben so von G’tt durchdrungen sein kann, dass man ›isst und trinkt und schaut dabei auf G’tt‹, dass alle unsere Familienräume Tempel, unsere Tische Altäre, unsere Jünglinge und Jungfrauen Priester und Priesterinnen, diese Durchgeistung des gewöhnlichen Privatlebens, das ist die Spende des Judentums.« Dass Jakow Zewachim und nicht Olot darbrachte, liegt darin, dass er sich jetzt zum ersten Mal in seinem Familienkreis glücklich, heiter und ganz fühlte.

 

 

VISION

 

Auf diesem Höhepunkt der Gefühle und des Glücks spricht G’tt zu Jakow und zeigt ihm in einer Vision, wie seine Nachfahren in Ägypten im Exil leiden werden. Jakow aber ist furchtlos und entgegnet: »Hier bin ich! Ich bin bereit für alles, was Du tun wirst. Ich weiß, es wird nicht immer leicht sein!«

 

Sogleich antwortet G’tt ihm, dass Er sein G’tt ist und der G’tt seines Vaters. Er versichert ihm, dass Er dem jüdischen Volk in Ägypten genauso in Erscheinung treten wird wie jetzt auch. Aus der langen Nacht des Exils wird eine Nation heraustreten, die dasselbe Zusammengehörigkeitsgefühl und dasselbe Glück kennen wird, die ihn, Jakow, jetzt dazu veranlasst haben, Zewachim darzubringen.

 

Und noch viel wichtiger – G’tt hat uns hier das Geheimnis des jüdischen Überlebens verraten: Das Einzige, was uns in der langen und dunklen Nacht des Exils überleben lässt, ist der Zusammenhalt in der Familie und im jüdischen Volk.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland(ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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