Leben ist kein Wahlkampf

Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass es auf die Qualität von Beziehungen ankommt und nicht auf die Anzahl?

4 Min.

Andrea Jockisch

gepostet auf 16.03.21

Wie eine Pflanze das Sonnenlicht zum Wachsen benötigt, so sucht der Mensch nach der Zuneigung anderer Leute. Die Gewissheit, in guten wie in schlechten Tagen getragen zu sein, macht einen Menschen stark gegen die Launen der Natur.

 

Aber wessen Zuneigung brauchst du tatsächlich, um ein erfülltes Leben zu führen? Und wie kannst du diese Zuneigung erlangen?

 

Ein Weiser fragte einmal einen geselligen Mann: „Wie viele Freunde hast du?“

Der Mann antwortete: „Sechs, sieben – vielleicht acht.“

„Wie viele Kinder hast du?“, sprach der Weise.

„Zwei.“

„Du kennst die Zahl deiner Kinder, weil du sie tatsächlich hast“, meinte der Weise. „Und jetzt überlege, warum du die Zahl deiner Freunde nicht kennst.“

 

Gerade heute in der virtuellen Welt und der Zeit der gesellschaftlichen zwanghaften Maximierung macht sich das Missverständnis breit, man müsse die Gunst möglichst vieler Menschen gewinnen. Regelrechte Beliebtheits-Wettbewerbe brechen los – ob in virtuellen Chat-Foren oder in der analogen Welt. Es werden Freunde gesammelt, wie damals Schallplatten und Briefmarken gesammelt wurden – so nach dem Motto: „Die Menge macht's!“

 

Aber ist das wirklich Sinn und Zweck der Sache? Macht es tatsächlich glücklich und zufrieden, nach der Aufmerksamkeit, Anerkennung, Bestätigung und Zuneigung von Menschen in der virtuellen Welt zu jagen, die man zum Teil gar nicht mal persönlich kennt?

 

Rabbiner David Kraus erwähnt über die Anerkennung: „Niemand auf der Welt kann mich so erfreuen wie ich es selbst kann und mich freuen sollte. Wenn ich Wärme und Liebe brauche, muss ich mir sagen, wie sehr ich von HaShem geliebt und angenommen bin. Wenn mich nach einem guten Wort dürstet, muss ich mir genau das geben, was ich von anderen hören möchte. Aber die Anerkennung des Selbstwertes ist eine äußerst wichtige Sache, die mehr gute Wünsche und ein Streben nach Fortschritt und Wachstum hervorbringt.“

 

Es gibt nicht viele Menschen, die sich wirklich mit ihrer Lebenslage, ihren Schwierigkeiten, Ängsten, Frustrationen usw. so tiefgründig auseinandersetzen, weil sie der Meinung sind, die Ursache läge beim anderen, oder sie reden sich ein, dass sie zu schwach sind und sowieso nichts beeinflussen können, also versuchen sie gar nicht erst den Startknopf zu drücken, der sie in Bewegung setzt. Mut beginnt aber im Kopf. Es ist sehr wichtig, dass jeder Mensch erkennt, dass er ein Potential in sich trägt, nach dem er graben muss. Er muss verstehen, dass beispielsweise Neid und Eifersucht auf andere ihn nicht weiterbringen werden. Zu viele Menschen konzentrieren sich nur auf das, was andere sind, was sie haben, zu was sie es in ihrem Leben gebracht haben, und so weiter. Sie sind so sehr auf andere fixiert, dass sie ihre eigenen inneren Schätze am Grunde ihres Herzens versinken und verrotten lassen.

 

Strebe daher nicht nach einem maximalen Gewinn an Zustimmung von anderen. Strebe stattdessen danach, in deinem Herzen nach deinen eigenen inneren Schätzen zu graben. Wer sich von HaShem von allen Seiten umgeben und geliebt fühlt, der macht sich nicht mehr abhängig vom Streben nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Bestätigung, Zuneigung und Bewunderung durch andere. Wer sich selbst als HaShems kostbares, wundervolles und geliebtes Kind annimmt, der sucht nicht nach der ständigen Zuneigung von anderen.

 

Wer hingegen von allen Menschen geliebt werden will, der führt bald ein wahlkampfartiges Leben – nicht ehrlich, sondern mehrheitstauglich. Er lebt nicht mehr sich selbst, sondern wird durch seine emotionale Abhängigkeit von anderen gelebt.

 

Das gilt auch für die Jagd auf Freunde: Wer die Freundschaft anderer durch ein Verhalten erobern will, das lediglich dem Zweck dient, ihre Sympathie zu erhalten, der baut seine Freundschaft auf Sand. Gleichzeitig gibt er seine Individualität auf und fügt sich den fremden Erwartungen, sozusagen dem Geschmack der Masse. Aber Freundschaften, die auf Schein bauen, können nur Scheinfreundschaften sein.

Es macht krank, nach der Zuneigung aller zu streben und demzufolge seine eigene Persönlichkeit zu leugnen. Denn das Leben ist kein Wahlkampf und Freunde sind keine Wechselwähler!

 

Lass dir von der Gesellschaft nicht einreden, du seist total öde und nichts wert, nur weil du nicht ihren Erwartungen entsprichst. In Wirklichkeit bist du nämlich ein echt toller und wertvoller Mensch – und charakterstark obendrein noch, wenn du dich von anderen nicht leben lässt, sondern dem folgst, wonach dein Herz sich sehnt.

Entwicklung setzt voraus, dass du dich selbst ohne Bedingung akzeptierst – nicht für dein Tun, sondern für dein Sein. Jeder Mensch ist eine wunderbare Schöpfung und hat in HaShems Augen einen Wert.

Sei der Marco Polo deines Herzens und ergründe noch verborgene Welten in dir. Begib dich auf die unerforschten Inseln zu deinen inneren Werten, Schätzen und Fähigkeiten. Denn all das, was du wirklich brauchst, dein ganzes Potential, befindet sich schon in dir und hängt lediglich davon ab, ob du dieses nutzt und völlig ausschöpfst, statt es bei anderen Menschen finden zu wollen.

 

Du bist nicht arm, wenn du wenige Freunde hast. Arm bist du, wenn du deine Individualität aufgibst für hunderte von „Freunden“, die dich nicht in deiner Einzigartigkeit annehmen.

Schon Aristoteles erklärte: „Freundschaft mit vielen ist im Sinne vollkommener Freundschaft nicht möglich (…) – und dass viele zur gleichen Zeit demselben Menschen ausnehmend sympathisch sind, kann man sich nur schwer vorstellen, schwer wohl auch, dass diese (viel lauter) wertvolle Menschen sind."

 

Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass es auf die Qualität von Beziehungen ankommt und nicht auf die Anzahl? Dass sich im Leben nur wenige tiefe Freundschaften aufbauen lassen, vielleicht zwei, drei, vier? Der wahre Freund ist einer, der alles von dir weiß, und der dich dennoch liebt.

 

Auch HaShem legt dir Seine Zuversicht ins Herz: Du bist nicht allein. Er spricht zu dir: „Du brauchst dich nie an irgendjemandem festzuhalten, weil du Angst hast, allein zu sein. Ich bin mit dir, wo immer du bist. Ich bin der Freund, der bleibt, wenn alle anderen dich im Stich lassen oder keine Zeit für dich haben. Ich hab dich dafür geschaffen, tragfähige Beziehungen zu anderen einzugehen, und Ich sehe, wie sehr du dich danach sehnst, jemanden zu finden, dem du dich vertrauensvoll öffnen kannst. Wenn du Mich an die erste Stelle in deinem Leben setzt und mit all deinen Nöten und Bedürfnissen als erstes zu Mir kommst, werde Ich deine Freunde für dich aussuchen. Und Ich werde diese Freundschaften überreichlich segnen. Gib dich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden, nur um nicht allein zu sein. Das Wichtigste in deinem Leben ist, dass du Meine ständige Gegenwart spürst und dich von Meiner Liebe erfüllen lässt. Dann wirst du für echte Beziehungen bereit sein, die Ich dir schenke und für dich gestalte.“

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