Toleranz aus jüdischer Sicht

Der Ausgangspunkt für Rabbiner Kuk ist, soweit es die Toleranz angeht, das Göttliche in jedem Ding zu sehen.

26 Min.

Rabbiner Awraham Jehoschua Zuckermann

gepostet auf 05.04.21

Die Zitate aus dem Text von Rav A.J.Kuk wurden weitgehendst wörtlich 
übersetzt, da deren Interpretation jeweils daran anschließt.

Rabbiner Zuckermann lehrte zur Zeit der Veröffentlichung dieses 
Artikels an der Jeschiwa "Merkas HaRav", Jerusalem.

Am Ende des Aufsatzes findet sich die Liste der Namens- und 
Begriffserklärungen, Einträge sind im Text mit "*" gekennzeichnet.

 

VORWORT 
=========

 

DER NEUE BROCKHAUS 3.Aufl. 
Toleranz [lat.] die, -,: 
Duldsamkeit, das Geltenlassen fremder 
Anschauungen, bes. die staatliche 
Duldung mehrerer Religionen, 
Konfessionen oder religiöser 
Weltanschauungen in einem Staatswesen 
(->Glaubensfreiheit)

 

Wozu Toleranz? Nach den Auswüchsen totatiltärer Regime braucht diese 
Frage wohl kaum noch gestellt zu werden. Demokratie und Toleranz sind nicht 
voneinander zu trennende Begriffe. Doch was ist Toleranz eigentlich genau? 
Wo liegen ihre Grenzen, und wer kann sich anmaßen, darüber zu entscheiden?

 

Wer, und aufgrund welcher Wertvorstellungen, darf jemand festlegen, eine 
bestimmte extreme Ansicht oder Gruppierung noch zu tolerieren oder nicht? 
Es ist klar, dass man hier nicht willkürlich und opportunistisch vorgehen darf, 
um nicht seine eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren, d. h., ungerecht zu sein. 
Andererseits kann das Festhalten an nicht ausreichend durchdachten 
Prinzipien einen mindestens ebenso negativen Effekt zeitigen.

 

Und wie verhält es sich mit der religiösen Toleranz – kann eine Religion 
wahrhaftig tolerant sein? Wie erklären sich christliche Mission und 
islamischer Dschihad im Lichte der Toleranz?

 

Die Frage jedoch, in der alle anderen Fragen zusammentreffen, lautet: wie 
stehen Toleranz und Wahrheit zueinander? Kann das Wahre das Unwahre 
tolerieren, das Gute das Böse, das Richtige das Falsche, der Richter den 
Übeltäter, ein Gott den anderen?

 

Der folgende Artikel präsentiert eine jüdische Definition der Toleranz, der 
Toleranz des Judentums, die diesen Begriff aus seinem individuellen und 
auch allgemeinen Umfeld heraus löst und ihm eine universale Dimension gibt. 
  
 

1. Toleranz und Radikalität

 

Der Ausgangspunkt für Rabbiner Kuk in seinem Artikel "Über den Krieg der 
Ideologien und Glaubensrichtungen" ist, soweit es die Toleranz angeht, das 
Göttliche in jedem Ding zu sehen. Mit anderen Worten, wir müssen stets 
versuchen, Kluften dadurch zu überbrücken, indem wir das Gute in allen 
Ansichten zu erkennen suchen. In jedem Ding G~tt zu sehen heißt, in jedem 
Ding das Gute zu sehen. Wer sich so verhält, übt wahre Toleranz und trägt 
so zur Einheit der [jüdischen] Nation, ja der gesamten Menschheit bei. Demgegenüber 
gibt es die Toleranz der Schwäche, des sich Arrangierens, genannt Duldsamkeit.

Der wahre Tolerante ist ein absoluter Radikalist, gibt keine seiner Ansichten 
auf, besteht entschieden auf seiner Ansicht, und niemand kann ihn auch nur 
einen Millimeter von seinem wahrhaftigen Standpunkt abbringen. Wehe ihm, 
im Namen der Toleranz nachzugeben.

Dieser Widerspruch, der in der Verbindung von Toleranz und Radikalität zu 
liegen scheint, verlangt natürlich nach Erläuterung. Wir messen der Toleranz 
hohen Wert zu. Selbstverständlich muss man Toleranz üben, besonders in 
einer Zeit, in der wir in unserem eigenen Land unter Erneuerung regelrechter 
gesellschaftlicher Strukturen leben; wir müssen jedoch nach der wahren 
Toleranz streben, denn nur diese kann die Einheit der Nation begründen.

 

2. Konfrontation und Definition

 

Zu Beginn seines Aufsatzes nimmt Rabbiner Kuk Stellung zu zwei 
Bestrebungen, die danach trachten, der Tora näher zu bringen, verneint sie 
aber mit folgenden Worten: "Bestürzung hervor rufen die Gedanken, 
Sturzbäche fremdartiger Ideologien, die uns überschwemmen, insbesondere 
Ideologien heidnischer Religionen. Ihre Brecher fluten ins Lager, reißen die 
Herzen Vieler mit sich, verkrümmen die Wege und bringen einen Großteil 
unserer Jugend ab von den Wegen des Lebens zu den Wegen des Todes"1.

Aus Bestürzung und dem festen Willen zur Wiederherstellung "erheben die 
Verteidiger der Ideen des Judentums wehklagend ihre Stimme, weisen die 
verderbenden Ideologien von sich und legen deren Fälschungen und Lügen 
offen durch Erläuterung der Reichweite des Judentums. Es ist jedoch 
äußerst zweifelhaft, ob es ihnen auf diese Weise gelingen wird, das Rad der 
Geschichte zurückzudrehen und die Einbrüche ungeschehen zu machen 
(siehe Jes.Kap.28)"1.

Die hier geschilderte Methode besteht darin, die fremden Ideologien der 
genauen Definition jüdischer Ideen gegenüber zu stellen, und dann mit dem 
Unvereinbaren abzutun. Diese Einstellung beinhaltet, dass jegliche vom 
Judentum abweichende Ideologie zwangsläufig falsch sein muss. Solche 
Taktik lehnt Rabbiner Kuk ab. Lügen bloßzustellen ist nicht der rechte Weg, 
selbst wenn zu diesem Zweck der Standpunkt des Judentums erläutert und 
jene Lüge damit konfrontiert wird; es bleibt sehr zu bezweifeln, ob so das 
gewünschte Ergebnis erzielt werden kann.

Es gibt noch eine zweite, gleichfalls unrichtige Methode. Anders als die erste, 
die die fremden Ideologien mit denen des Judentums konfrontiert, versucht 
sie, ohne Definition von Wertvorstellungen das innere Wesen der Seele des 
Judentums zu bestimmen. Auch diesen Weg verneint Rabbiner Kuk, weil es 
dem Ergreifen eines empfindlichen Gegenstandes mit groben Händen ähnele. 
"..besonders irren Jene, die das Judentum mit bekannten Definitionen 
bestimmen wollen, von seiten der Seele und des geistigen Inhaltes – obwohl 
es durchaus möglich ist, das Judentum seitens seines offenbaren Inhaltes 
und der bekannten historischen Tatsachen zu definieren. Es ist allumfassend 
in seiner Seele, und alle geistigen Richtungen, die offenbaren und die 
verborgenen, ruhen in ihm in Einbeziehung auf höchster Ebene, so wie alles 
in der absoluten G~ttheit einbezogen ist. Jede Definition in dieser Richtung 
jedoch gleicht einer Amputation des innersten Kernes und Errichtung eines 
Götzenbildes in Darstellung des göttlichen Charakters"1.

 

3. Unmöglichkeit der Definition der Seele

 

Das Judentum zu definieren, das Volk Israel, die Seele Israels, bedeutet 
praktisch, das Judentum auf das Niveau des Betrachters herabzuziehen, das 
heißt auf ein menschliches Niveau. Daher muss jeder Definitionsversuch der 
Seele Israels in Lüge enden, denn "Es ist allumfassend in seiner Seele…" 
(s.o.). Sie kann nicht vollständig definiert werden, da es unmöglich ist, ihr 
vollkommen auf den Grund zu gehen, und daher kann auch die Definition nur 
eines Teiles nicht gelingen.

Die Seele Israels ist Allerheiligstes, d. h. Göttlichkeit. G~tt schuf in seiner 
Welt ein Volk und eine Volksseele so erhaben und rein, dass er mit ihr eins 
ist, keine Trennwand zwischen der Gemeinschaft Israels ("Knesset Israel") 
und G~tt besteht, so dass man sagen kann: "der Ewige ist einzig und 
sein Name einzig" (Secharja 14,9) – in der Seele Israels. Das Volk Israel in 
seiner Allgemeinheit, in seiner in der Seele verankerten nationalen 
Zusammengehörigkeit gehört einer Welt an, der man den Ausspruch "der 
Ewige ist einzig und sein Name einzig" ansieht. Was man zu Israels 
Definition auch hervorbringen mag läuft immer auf genau jene Ketzerei 
hinaus, die G~tt zu definieren daher kommt, die G~tt in bestimmte Grenzen 
zwängen will – und welchen Unterschied macht es, ob man ihn als materielles 
Götzenbild oder als Ausgeburt des Verstandes und der Spiritualität definiert! 
Dient doch Israel der Offenbarung G~ttes in der Welt. Der Unendliche 
vereinigt sich vollständig mit der Gemeinschaft Israel. Er schuf sie so lauter 
und rein, so sehr würdig, sich mit ihm zu vereinen, wie ein König mit seinen 
Würdenträgern, die ihn im Palast umgeben und ihm zu Diensten stehen. 
Ebenso kann man im Prophetenbuch Maleachi (3,6) eine Art Vergleich 
zwischen Israel und G~tt finden: "Denn ich, der Ewige, bin nicht 
umgewandelt, und ihr, Kinder Jakovs, habt nicht aufgehört". Die 
Ewiglichkeit Israels im Vergleich mit der Ewiglichkeit G~ttes! Um nicht 
falsch verstanden zu werden: hier wird nicht Israel direkt mit G~tt 
verglichen, sondern nur dessen Allumfassendheit, die Unvergänglichkeit. Das 
Volk Israel ist un-endlich. So wie in der Unendlichkeit das Göttliche liegt, 
findet es sich auch in Israel. Dies hat der Schöpfer nur dem Volk Israel 
zukommen lassen. Ein jeder der Kinder Israel erscheint zwar nur als 
Einzelner, als Individuum, als Person, aber es liegt in seiner Macht, sich auf 
die Stufe der Allumfassendheit zu erheben und in ihr aufzugehen. Solange 
wir uns nicht von diesem Kollektiv, dem Sitz der die Universalität Israels mit 
Leben erfüllenden Seele trennen, sind wir dieser sich im Kollektiv 
offenbarenden Heiligkeit verbunden. Nur dort offenbart sich diese 
Verbundenheit. Liebe zur jüdischen Gemeinschaft, Verlangen nach der 
Lehre, Erfüllen der Gebote und Begradigung des Charakters sind die 
praktisch-spezifischen Mittel dieser Heiligkeit. So ist es verständlich, dass 
jede Definition der Gemeinschaft Israels und ihrer Seele eine Beschneidung 
ihres spirituellen Wesens darstellt, eine Schmälerung ihrer Unendlichkeit, und 
mit "der Errichtung eines Götzenbildes in Darstellung des göttlichen 
Charakters" bezeichnet wird.

 

4. Definition Israels – durch seinen Einfluss in der Weltgeschichte

 

Rabbiner Kuk fügt hinzu, dass jene Definitionen unnötig sind. Es ist nämlich 
möglich, Israel von seiten seiner offensichtlichen Inhalte und der fühlbaren 
Einwirkung seiner Geschichte zu bestimmen. Über dieses Volk, dessen es 
nicht seinesgleichen gibt, kann man reden, über seine wundersame 
Beständigkeit trotz aller Verfolgungen und Vernichtungsversuche, ohne 
Land, ohne Sprache. Man kann das Volk Israel rühmen, auf das sich alle 
berufen, selbst die zwei Religionen, die zur Zeit die Menschheit beherrschen: 
Christentum und Islam. Hier ist von dem Volk die Rede, dessen Lehre von 
den übrigen Religionen kopiert wurde. Die ganze Welt dreht sich in Sehnen 
und Begierde um jeweils "sein" Jerusalem. "Jerusalem, Berge sind rings 
darum, so der Ewige rings um sein Volk.." (Psalm 125,2). Das Volk Israel 
blieb Volk trotz seiner Auflösung und Zerstreuung in alle Welt; man kann 
fast sagen, seine Nationalität sei international. Der Staatssender "Stimme 
Israels" strahlt in ungefähr fünfzehn verschiedenen Sprachen aus, was dem 
Volk, dessen obersten Richtern sämtliche Sprachen und Kulturen geläufig 
waren, nur angemessen ist. 
Sein göttliches Buch ist die Allen heilige Schrift.

 

5. Das auserwählte Volk

 

Daher ist es nicht nötig, und auch nicht richtig, das Volk Israel an sich, von 
seiten seines Wesens, zu definieren. "Ähnelt doch der Wert Israels, der 
Träger des Judentums, im Vergleich mit den Völkern dem Wert des 
Menschen innerhalb der gesamten Schöpfung"1, dem Lebendigen, der 
Pflanzenwelt und der ruhenden Materie.

Kann man zum Beispiel zu jemandem sagen: "Ich schätze dich sehr, du bist 
mir lieber als ein Hund"? Dieser Satz wird den so Angesprochenen 
beleidigen, obwohl man ihn im Rang über einen Hund stellt. Der Vergleich 
selbst, zwischen zwei in ihrem Wesen vollkommen verschiedenen Arten ist 
es, der verletzt; daher sind solche Vergleiche tunlichst zu unterlassen. So ein 
Vergleich wertet ab – als gäbe es nur einen quantitativen Unterschied. Dies 
ist die Lage beim Verhältnis, das zwischen Israel und der übrigen Schöpfung 
herrscht. Man kann wohl grundsätzlich sagen, dass man verschiedene Arten 
nicht vergleichen sollte.

Jede Art unterscheidet sich von der anderen, doch gibt es selbstverständlich 
auch Gemeinsamkeiten. Diese lassen sich jedoch nur mit Hilfe der 
Vorstellungskraft vergleichen, denn durch ihre Zugehörigkeit zum 
organischen Gefüge alles Lebenden gehen sie auf ihre individuellen Eigenart, 
auf ihre Andersartigkeit zurück. Zwischen Israel und der Welt – außer, dass 
sie alle Schöpfung des Ewigen sind – gibt es einen qualitativen Unterschied, 
und zwar die Allumfassendheit der Gemeinschaft Israels, die selbst in der 
übrigen und in ihrem Wesen ebenfalls kollektivistischen Menschheit, die 
ebenfalls zu den "Sprechenden" und dem Ebenbild G~ttes zählt (wie noch 
weiter unten erklärt wird), nicht ihresgleichen findet.

Zur Verdeutlichung: Wenn man schon Mensch und Tier vergleicht, so kann 
dies nur in einem speziellen, von ihren übrigen Lebensumständen losgelösten 
Punkt geschehen, wie zum Beispiel Ausdauer oder Geruchssinn. Im Rahmen 
eines intellektuellen Schaubildes, unabhängig von der Realität des Lebens, 
kann man sicher Vergleiche anstellen – man vergleicht ja nicht die gesamte 
Existenz – und in diesem Sinne ist der Mensch dem Tier nicht immer 
überlegen und es kommt durchaus vor, dass bestimmte Fähigkeiten in Tieren 
höher entwickelt sind als im Menschen. G~tt hat viele Talente in der Welt 
verteilt, und alles dient seiner Offenbarung, denn es ist ja aus seiner Hand.

Wenn wir daher einen Juden und einen Nichtjuden in einem bestimmten 
Punkt vergleichen, kann es sein, dass der Nichtjude entsprechend des ihm 
zuteil gewordenen göttlichen Segens im Vorteil ist. Aber ihr Wesen zu 
vergleichen, den Umfang der Persönlichkeit des Juden mit dem eines 
Vertreters irgendeiner anderen Nation ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wir 
schwingen uns nicht über die Nichtjuden auf, und wir lassen uns auch nicht 
zahlenmäßig vergleichen, wir sind einfach verschieden! Wir sind anders. Und 
in gewisser Hinsicht kann man von jeder Nation sagen, dass sie von G~tt zur 
verbindlichen Erfüllung einer besonderen Aufgabe erwählt wurde, was im 
Wesen ihres Charakters durch das Vorhandensein spezifischer, 
zweckdienlicher Eigenschaften zum Ausdruck kommt, was sie von allen 
anderen Nationen unterscheidet im Sinne einer besonderen 
Charakterisierung, die für jeden einzelnen ihrer Staatsbürger gilt.

Dies ist die Basis für das Verständnis der Beziehungen zwischen den 
Nationen, und erst recht bezüglich ihrer Überzeugungen. Im Allgemeinen 
besteht kein Sinn in Konvertierung (von vereinzelten Ausnahmefällen 
abgesehen2); die christliche Mission und der islamische Dschihad sind daher 
besonders brutal, kommen sie doch die Persönlichkeit der jeweiligen 
Nationalitäten zu rauben und hindern jedes Individuum an der Offenbarung 
des ihm innewohnenden Unendlichen, so wie es ihm der Schöpfer aller 
Welten aufgeprägt hat3.

"Viele Geschöpfe sind in speziellen Eigenschaften dem Menschen voraus"1
das Erinnerungsvermögen des Elefanten, die Keuschheit der Katze4, der 
Fleiß der Ameise5"aber die umfassende Kombination der speziellen 
Fähigkeiten und die daraus resultierende Aufwertung der Spiritualität, die 
verstandesmäßige Vergegenwärtigung des Gebrauches der in ihm ruhenden 
aktiven und potentiellen Kräfte – dies gibt dem Menschen die Führungsrolle 
in der Welt. So gibt es viele Völker, deren besondere Begabungen bei ihnen 
stärker vertreten sind als beim Volk Israel, aber Israel, in seiner 
Eigenschaft als Essenz der gesamten Menschheit, nimmt in sich die 
besonderen Eigenschaften aller Völker auf, die sich in ihm in idealer, 
heiliger Form vereinigen, in erhabener Einigkeit"1.

Der Jude ist nicht nur als gesellschaftliches Wesen geboren, der von Natur 
aus die Gesellschaft anderer Menschen sucht, um mit ihnen zu 
kommunizieren – vielmehr ist er in der Eigenschaft als einem bestimmten 
Volk zugehörig geboren. Es ist ihm nicht möglich, diese naturgegebene 
Tatsache zu ändern, die in ihm alle Exile überdauerte – ohne Land, ohne 
gemeinsame Geschichte und ohne einheitliche Sprache und Kultur. Falls ein 
Israelit sein Volk durch Taufe o.ä. verlassen sollte – so ist dies auf 
persönlicher Ebene ein großes Unglück, und seine Familie wird um ihn wie 
um einen Toten trauern. Demgegenüber wird zum Beispiel ein Franzose, der 
nach Amerika übersiedelt, wie gehabt nun in der neuen Umgebung leben und 
nach zwei, drei Generationen ein ganz normaler Amerikaner sein, und sogar 
für seine neue Heimat im Kampf gegen seine alte zu den Waffen greifen. 
Israel ist als Volk geschaffen worden, es hat sich nicht ein Volk zu sein 
zusammen gefunden; "das erschaffene Volk wird G~tt preisen" (Psalm 
102,19), "das Volk, das ich mir gebildet, meinen Ruhm sollen sie erzählen" 
(Jes.43,21). Deswegen bestimmt die *Halacha, dass individuelles 
Fehlverhalten – obwohl es nicht im Einklang mit seiner natürlichen 
Veranlagung steht – den Juden nicht aus der Gemeinschaft des Volkes Israel 
herauslöst. "Wenn er auch gesündigt hat, so ist er dennoch ein Israelit"6.

Nicht die Taten formen den Juden, sondern der Jude drückt sein 
selbständiges Wesen durch die seiner Natur entsprechenden Taten-Gebote 
aus. Die Tat hängt von der Seele ab, jedoch existiert die Seele unabhängig 
davon, auch wenn sie sich nicht offenbart. Die Macht der freien 
Entscheidung bezüglich seiner Taten kann den Juden nicht von seiner 
Herkunft, seinen israelitischen Wurzeln abtrennen. Entsprechend – hier nicht 
auf nationaler Ebene – kann sich jeder Mensch wie ein Tier benehmen, und 
niemand würde auf den Gedanken kommen, ihn nun für ein Tier zu erklären 
und dass er aufgehört habe, ein Mensch zu sein! Und darum wird er auch für 
sein nicht zu seiner wahren Natur passendes Verhalten zur Verantwortung 
gezogen werden.

Jeder Jude ist mit den natürlichen Charakteristika der israelitischen Nation 
geschaffen, das Wesen des Volkes in ihm. Dies ist nicht der Fall bei den 
weltlichen Völkern; wenn diese sich in dieser Sache Israel angleichen wollen, 
eine ihrem Wesen widernatürliche Nachahmung, ist das Resultat nichts 
anderes als Verbrechen und zeugt die furchtbare Monstrosität, die unter dem 
Namen Faschismus oder Totalitarismus bekannt ist. Wir sind so geschaffen, 
es ist uns keine widernatürliche Ideologie – "das erschaffene Volk wird G~tt 
preisen". Diese kollektive Natur, die jeden Juden – im Kern seines Wesens – 
gegenüber seinem ganzen Volk aufwiegt, diese Natur gibt ihm die Identität 
des "Israel, in seiner Eigenschaft als Essenz der gesamten Menschheit, 
nimmt in sich die besonderen Eigenschaften aller Völker auf, die sich in ihm 
in idealer, heiliger Form vereinigen, in erhabener Einigkeit"1, nicht nur 
quantitativ, sondern in idealer Form. Es gilt anzumerken, dass die Methode 
der sozialistischen Kolchose nur in ihrer Verwirklichung im israelischen 
Kibbuz einen gewissen Erfolg verbuchen konnte. Der Kollektivismus ist der 
Nationalstolz des Volkes Israel. Doch ist er den weltlichen Völkern 
vollkommen unbekömmlich. Nur die auf Individuen gebaute Universalität 
passt zu ihnen, niemals jedoch werden sie einen umfassenden Charakter wie 
den des universalen Nationalismus unseres Volkes annehmen können; so wie 
unser Lehrer *Rabbi Jehuda HaLevi das Volk Israel das Herz zwischen den 
anderen Körperteilen7 nannte; seine Aufgabe ist es, gerade als besondere 
Einheit den ganzen Körper mit Lebenskraft zu versorgen. Jedes Glied ist eine 
Welt für sich, und das Herz inniglich verbunden mit ihrer Lebendigkeit – der 
Segen ihrer Lebenskraft. Und dieser Kollektivismus, der im Bibelvers 
"Ebenbild G~ttes" heißt8, begründet in Israel die Angleichung an die 
Göttlichkeit bezüglich Umfassendheit und Ewiglichkeit.

6. Das Gute in jedem Ding – Ablehnung der Konfrontation

Es ergibt sich aus dem bisher Gesagten, dass das Denken des Juden immer 
den Weg des Umfassenden gehen wird, immer suchend, über den strittigen 
Einzelheiten zu stehen und zum positiven Ausgangspunkt der Dinge 
vorzudringen in der Annahme, dass jede Bewegung oder Ideologie auf einen 
guten Kernpunkt gegründet ist, der sie am Leben erhält. Daher bestimmt 
Rabbiner Kuk, dass es nicht der rechte Weg sei, sich fremden, negativen 
Ansichten entgegenzustellen. Jenes Verhalten birgt in sich die Schwäche des 
Herabsteigens auf das Niveau des Kontrahenten, und dadurch ist keinerlei 
Fortschritt zu erzielen – für keinen der Beteiligten. Es wurden nur wieder 
zwei Standpunkte festgelegt, und sonst gar nichts! Es ist an uns, zum 
Zeitpunkt der Begegnung mit den fremden Überzeugungen das Gemeinsame 
und das in unseren Augen Positive herauszufinden – gemäß der Grundregel, 
die bestimmt, dass wir mit allem verbunden sind. Jedes Ding hat seine guten 
Seiten, und dieses Gute ist es, was dieses spirituelle Gebäude zusammenhält, 
mit den darin enthaltenen schlechten Seiten. Und wehe uns, das Gute von uns 
zu weisen aufgrund seiner schlechten Schale. Denn das Gute an sich ist der 
Wille des Schöpfers, der sich anhand seiner Lehre offenbart, und der Wille 
des Schöpfers bedeutet Realität, Existenz, und jedes Schlechte ist nichts 
anderes als Abwesenheit von Existenz. Daher heißt es bei den Oberbegriffen 
des Seins – den Abschnitten der Schöpfung und ihr jeweiliger Inhalt 
entsprechend den sechs Tagen – von seiten des Schöpfers "… dass es gut 
war". Nur einzelne Mitglieder einer Art verschwinden, aber die Art als solche 
fährt fort zu existieren – denn daran war der Schöpfer interessiert und 
bestimmte, dass sie gut sei9.

Die Denkweise des Propheten ist es, das Göttliche, und damit das Gute, in 
jedem Ding zu sehen. Wir sind ein Volk von Propheten10, und ein Volk, das 
Propheten hervorbringt, aus dessen Kehle das Wort G~ttes erklingt, es ist 
dies das Volk, das das Heilige jeder Schöpfung erkennt, in jedem Stoff und 
in jeder Gesellschaft, das fähig ist, sich mit der treibenden Kraft hinter jedem 
Glauben auseinanderzusetzen – selbst dem monströsesten. Deshalb ist es 
Rabbiner Kuk zweifelhaft, ob es nütze, die genau umgrenzten Werte des 
Judentums anderen, ihm fremden gegenüberzustellen. Dieser Weg der 
Konfrontation ist nicht akzeptabel, da er dem Gegner etwas aufzudrängen 
versucht, dem Anderen einen Grundwert vorträgt, der nicht dem seinen 
entspricht. Diese Methode fordert zwangsläufig, dass sich der Kontrahent die 
Gegenmeinung zueigenmacht und bezweckt, ihn zum Schweigen zu 
bringen. Aussprüche wie "das ist die Wahrheit" oder "das ist die Ansicht des 
Judentums" bringen keinen Erfolg – besonders in einer Zeit der 
Massenkommunikationsmittel, wo alle alles hören und alle alles wissen, wo 
man niemanden zum Schweigen bringen kann und somit die Notwendigkeit 
der Auseinandersetzung besteht. Daher, so entscheidet Rabbiner Kuk, ist es 
an uns, die wir die Eigenschaft der Allumfassendheit besitzen, über den 
Dingen zu stehen und in allem das Gute zu finden.

 

7. Israel – Herz der Nationen

 

Das Volk Israel ist das Herz der Nationen. "Ihr seid meine Zeugen, spricht 
der Ewige, und ich bin G~tt"11. Seine Aufgabe ist, den Fluss des göttlichen 
Lebens, der die Welt erhält, zu offenbaren, in seiner Stofflichkeit und in 
seiner Geistigkeit. Daher ist es verständlich, dass das Judentum mit allen 
Strömungen verbunden ist. Rabbi Jehuda HaLevi12 erläutert, dass das Herz – 
das Volk Israel – "unter den meisten Krankheiten leidet, aber geichzeitig über 
die stärkste Gesundheit verfügt", denn ein empfindliches Organ wie das Herz 
wird selbst von der kleinsten Wunde beeinflusst, und dies ist auch seine 
Stärke, denn noch bevor sich der schlechte Einfluss sammeln kann, weiß es 
sich in Acht zu nehmen und ihn abzuweisen. Nicht so die anderen, weniger 
sensiblen Körperteile, die das eindringende Übel nicht registrieren und es 
nicht abstoßen, sondern es erst bemerken, wenn es stark angewachsen und es 
für eine Heilung manchmal schon zu spät ist. Der Tod kommt dann 
überraschend – und so oder so ist sein Leben eines von Unreinheit und 
Krankheit. Das Herz, mit allen Ebenen des Lebens verbunden, ist fähig, sich 
dem Wandel des körperlichen Lebens anzupassen. Wenn es ihm nur gelingt, 
jedes Glied für sich funktionsfähig zu erhalten, wird ihm das schon als 
Mangel an Gesundheit angerechnet.

Damit wird wenigstens in geringem Maße verständlich, wie sich das Volk 
Israel außerhalb seines Landes und unter dem Einfluss anderer Kulturen als 
Volk behaupten konnte: das Leben jedes Volkes entspricht in bestimmtem 
Maße auch dem seinen, und seine universal-nationale Eigenschaft konnte sich 
unter diesen erschwerten Bedingungen stark eingeschränkt erhalten, was 
ausreichte, den nationalen Charakter Israels zu bewahren.

Ebenso sahen die Nichtjuden im einzelnen Juden den Vertreter seines 
Volkes, und wählten sich ihn in seine Führung, sei es auf politischer, 
wissenschaftlicher, soziologischer oder religiöser Ebene. Und das, obwohl 
diese Einzelnen ihre Volkszugehörigkeit nicht verleugneten, und unter den 
Nichtjuden als Israeliten wirkten. Das Herz jedoch ist ein selbständiges 
Körperteil mit seiner ureigenen Kultur. Und wie bereits oben erwähnt, geht 
es hier nicht um Überlegenheit, sondern um Andersartigkeit.

Und ebenso ist unmissverständlich klar, dass nur von Zion die Lehre ausgehen 
wird (Jes.2,3; Micha 4,2), und nur in Jerusalem werden wir zu unserer 
Stärke, zu kultureller Gesundung und Selbständigkeit als national-universales 
Volk zurückkehren. Unsere Aufgabe ist es, Herz der Völker zu sein, damit 
die Völkerfamilie ihren Segen erhalten kann13.

In Jerusalem ist das Zentrum des ewigen Lebens, der Lebenskraft der ganzen 
Welt. Eine internationale Stadt, die vom internationalen Volk gelenkt wird. 
"Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker" (Jeschajahu 
56,7), ohne vorherige Konvertierungen. Ein in allen seinen unterschiedlichen 
Gliedern gesunder Körper. Und ebenso, wie der Körper ein Kontrollzentrum 
zur Überwachung geordneter Funktion braucht, wurde das Volk Israel mit 
Eigenschaften "ihr seid meine Zeugen" zu sein geschaffen, damit durch es das 
Leben des Unendlichen gelobt sei er in der Welt erscheinen könne.

 

8. Krieg der Ideologien

 

Befassen wir uns nun mit der geistigen Auseinandersetzung mit fremden 
Kulturen, die sich zu unserem Leidwesen bei uns eingenistet haben, und 
versuchen zu verstehen, dass diese nicht zwangsläufig schlecht sind. Es gibt 
gute Ideologien, die nur den Nachteil haben, nicht zu unserer Natur zu 
passen. Es gibt Glaubensrichtungen, die uns aufs Schärfste wegen 
Götzendienstes verboten, den weltlichen Völkern jedoch erlaubt sind, 
wie zum Beispiel beim Namen eines anderen Gottes, den der Nichtjude 
unserem Vater im Himmel beigibt, zu schwören14, oder der 
Verzehr nicht entsprechend den jüdischen Gesetzen geschlachteter Tiere. 
Andererseits gibt es Dinge, die Jenen verboten, uns aber Pflicht sind, wie die 
Einhaltung der Schabbatgesetze15. Es gibt Weltanschauungen, die sowohl 
uns als auch den Nichtjuden verboten sind – jenen durch die *sieben 
noachidischen Gesetze, die für die gesamte Menschheit gelten, und uns in 
den 613 Geboten und Verboten, wo auch diese inbegriffen sind, allerdings in 
neuem Gewand16.

Bei der Begegnung mit jenen Ideologien dürfen wir daher nicht den ihnen 
innewohnenden guten Anteil schmälern, die göttliche Seite, die auch uns 
angemessen ist. Im Gegenteil, wir übernehmen das Gute unter Rücklassung 
des Schlechten. Denn dem liegt das Prinzip der Ewiglichkeit Israels 
zugrunde: das Gute zu übernehmen und so das Schlechte automatisch ohne 
Existenzgrundlage zurückzulassen, ohne den göttlichen Anteil, der die 
Verbindung am Leben hielt.

Es gilt, sich fremden Ideologien nicht entgegenzustellen, sondern sie zu 
überwinden. Nicht im Sinne von Beherrschung und Niederlage des Feindes, 
sondern im Wege des Erlernens seiner Taktiken und des Erkennens des in 
ihm verborgenen Guten, so dass am Ende auch er für G~tt verbleibt. Wenn 
wir selbst fähig sein werden, das mit dem Schlechten verbundene Gute 
wahrzunehmen und aufzuzeigen, wie das Gute nicht das Schlechte bedingt, 
und im Gegenteil, dieses widerlegt – dann wird unser Kontrahent mit uns 
einstimmen und nur mit dem schon in ihm vorhandenen Guten fortfahren. 
Nehmen wir die vom Sozialismus geforderte Gerechtigkeit zum Beispiel: 
Sollten wir etwa anfangen, gegen Gerechtigkeit zu argumentieren?! Wir 
würden damit doch sofort die Wege des Guten und der Tora verlassen! Nein, 
die Gerechtigkeit ist ein Teil von uns, sie ist zu würdigen, ihre Erhabenheit 
und ihre Auswirkungen aufzuzeigen, die nicht unbedingt mit der praktischen 
Seite jener Ideologie deckungsgleich sein müssen. Das ist Toleranz: Ihr 
Wesen ist, jeder Sache den ihr zugehörigen Platz zuzuweisen, ohne jeden 
Kompromiss. (Mit einer Ausnahme: Götzendienst – dieser ist der 
Lächerlichkeit preiszugeben17. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm 
würde den falschen Eindruck erwecken, dass man seine Werte zumindest in 
Betracht ziehen könnte und sich auf die Ebene seiner Denkungsart begebe. 
Alle großen jüdischen Weisen, die mit Vertretern des Christentums 
Disputationen durchzuführen hatten, wurden dazu gezwungen, sie hatten 
sich dem auf sie ausgeübten Druck zu beugen. – Warum in diesem Fall diese 
extreme Einstellung? Weil hier die Toleranz nichts nützt. Denn jene nichtige 
Überzeugung stößt das alles repräsentierende Göttliche von sich, und was 
kann nach so einer Festlegung noch Gutes verbleiben?!).

 

9. Alles an seinen rechten Platz

 

So ist die korrekte Art der Auseinandersetzung die, Alles an seinen rechten 
Platz zu bringen, das Gute in erhabene Höhe und das Schlechte auf den 
niedersten Grund, indem man das Gute von ihm löst oder ihm durch 
Herabsetzung den angemessenen Platz zuweist, und dadurch sogar seine 
positive Rolle einnehmen kann, wie z.B. die Weinhefe, die den Wein 
verbessert, wenn sie sich am Fassboden aufhält und nicht im ganzen Wein 
verteilt ist. Der wahrhaft Tolerante weiß das Gute herauszufiltern und 
bezieht keinen fruchtlosen Standpunkt der Konfrontation, die keinen Ausweg 
offenlässt. Um jedes Ding an den auf ihn abgestimmten Platz zu bringen, muss 
man alle Aspekte des Themas beherrschen, und das ist nur jemandem 
möglich, dessen Kultur allumfassend ist, jemand, der dem alles Seienden 
zugehörig ist und mit seinem gesamten Wesen die Einheit der Schöpfung 
G~ttes offenbaren will. Diese Einheit wird offenbar werden, wenn das Welt- 
Bauwerk vollkommen in allen seinen Teilen in der ihnen angemessenen 
Ordnung sein wird. Und in den Worten Rabbiner Kuks: "Für jene Ereignisse 
benötigen wir die durchdringendste Betrachtungsweise, allgemein und 
umfassend und gleichzeitig vorstoßend ins innerste Wesen der ganzen Fülle 
von Überzeugungen und Inhalten glaubensbezogener Ideen in der Welt"1.

 

10. Die Grundlagen der Gewissheit

 

Von dieser Ausgangsbasis nun erläutert Rabbiner Kuk das Verhältnis von 
Toleranz und Radikalität. Nach Erklärung des Prinzips der Umfassendheit 
nimmt er sich in dessen Folge der Grundlagen der Gewissheit an – die nicht 
der Schwäche der verzichtbereiten Kompromisshaftigkeit bedarf.

"In jeder Geistesoffenbarung bestärkt sich die Gewissheit entsprechend der 
Durchsetzungskraft ihrer Allgemeingültigkeit, und entsprechend dem Maße 
ihrer Gewissheit, so, wie sie dem Zweifel keinen Raum gibt, behält sie sich 
das Recht vor, andere bei sich zu beteiligen"1. Nur eine auf Prophetie 
gegründete Kultur kann Gewissheit beanspruchen. Schon Immanuel Kant 
erläuterte in seinem Werk "Kritik der reinen Vernunft", dass die Erkenntnisse 
des Verstandes nicht anders als subjektiv sein können, denn obwohl er das 
wichtigste Werkzeug des Menschen in der Erkenntnis seiner Umwelt 
darstellt, kann er doch niemals Realität schaffen, sondern nur eine bereits 
vorgegebene Realität erkennen. Der Mensch kann keine Frage stellen – die 
hauptsächliche Aktivität des Verstandes – ohne das Objekt zu kennen, ohne 
sich über dessen Vorhandensein im Klaren zu sein, und bevor es in sein 
Blickfeld gelangt, ist es ihm eben unmöglich, darüber selbst die einfachste 
Frage zu stellen. Das Objekt muss existieren, und seine Existenz muss dem 
Fragenden bekannt sein, um sich dann mit ihm durch die erste Frage: "Was 
ist das?" auseinandersetzen zu können.

Der Verstand erfindet gar nichts – entgegen der Behauptung einiger 
arroganter Wissenschaftler – sondern er legt offen. Eine verstandesmäßige 
Eingebung kann daher zwangsläufig nur nach vorheriger Eingebung durch 
göttliche Übermittlung oder Sinneswahrnehmung erfolgen, und letztere auch 
nur über die Genialität der größten Wissenschaftler. Der Verstand ist daher 
das Fundament der menschlichen Entscheidungsfreiheit. Seine 
Wirkungsweise ist subjektivistisch, d.h., er ist vom Forschenden auf das zu 
erforschende Thema gerichtet. Es versteht sich von selbst, dass der 
Forschende keine über seine persönliche Begabung und Beschränkung 
hinausgehenden Erkenntnisse gewinnen kann. Dem gegenüber wirkt die 
Prophetie im Bereich des Vorstellungsvermögens "…und durch die 
Propheten lass ich in Gleichnissen reden" (Hoschea 12,11).

Wie Maimonides18 in Anlehnung an Aristo erläutert, ist die Vorstellungskraft 
weniger entscheidungsfähig und wirkt auch nachts während des Träumens im 
Schlaf, ohne dass sich der Mensch dessen voll bewusst wäre. Das Judentum ist 
gegründet auf die gleiche [göttliche] Eingebung, die auch seine Propheten 
inspirierte.

Diegleiche Kraft, die die abstrakte Welt des Höheren mit dem ihr Ähnlichen 
in der materiellen Welt der Sinne vergleichbar macht, ist es, die dem 
Menschen die Kluft zwischen dem Objekt-an-sich und dem Subjekt, nämlich 
ihm selbst und seinen übrigen intellektuellen Fähigkeiten, überbrückt.

Während ihn im Traum die Erkenntnis über ein bestimmtes Objekt erreicht, 
ist die Beteiligung des Menschen gering. Obwohl diese Erkenntnis 
verschleiert ist und einer verstandesmäßigen Entschlüsselung bedarf, liegt ihr 
Vorteil gegenüber den rein verstandesmäßigen Erkenntnissen doch darin, dass 
sie objektiver ist in der Aufnahme der übermittelten Information. Die 
Prophetie überträgt die Glaubensinformation und ihre Gewissheit, und der 
Verstand überbringt dieses Wissen dem Menschen auf die Ebene seines 
persönlichen Lebens, wo die Beschäftigung mit ihrer Klärung an sich es ihm 
zugehörig macht. Prophetie und Glauben werden erlebt, der Verstand 
hingegen erlebt das jeweilige Thema nicht, sondern behandelt es von außen 
und ohne Identifikation mit dem Ergebnis19. Während der Verstand mit 
Erklärungen und Umwandlung von Befunden in Begründungen beschäftigt 
ist – so wie die Wissenschaft der Statistik, deren Resultate den Kriterien der 
Plausibilität unterliegen – beschäftigt sich die Prophetie mit der Zuführung 
von Wirklichkeit in den Wirkungsbereich der verstandesmäßigen Analyse. 
Die Prophetie vereinigt sich mit der Wirklichkeit selbst, mit dem Leben an 
sich, ist deshalb so umfassend, absolut gewiss und darf durchaus radikal 
auftreten. Der Prophet, der seine Erkenntnis [er]lebt, kann daher in keinem 
Punkt nachgiebig sein, denn jeder ist Bestandteil seines Erlebens, und wer 
verzichtet schon auf einen Teil seines Lebens?! Und obwohl er kein Stück 
nachgibt, so ist doch seine Radikalität tolerant, weil sie alles umfasst, sie ist 
die wahre Toleranz, denn: "Die Allgemeingültigkeit, die Gewissheit und die 
Einheit sind voneinander abhängig".

"Zum Beispiel: die alten Methoden der Astronomie bestanden aus 
vereinzelten Beobachtungen, die sich nur über einen bestimmten 
Sternenkreis erstreckten; der Zweifel war immer imminent vorhanden, so 
dass es zum Schlagwort der Astronomen wurde, dass die Bezeichnungen der 
Astronomie und ihre grundsätzlichen Annahmen nur als Mittel zum Zweck 
dienten, die vielfältigen Bewegungen der Himmelskörper zu erklären, und 
eine ganz andere Erklärung der Phänomene nicht auszuschließen sei"1.

Ptolemäus, Kopernikus, Kepler und Tycho Brahe beobachteten unermüdlich 
den Himmel, und versuchten mit Hilfe von Theorien aus der mit den Sinnen 
erfassbaren, mechanischen Welt zu erklären, was sie mit dem Gesichtssinn 
aufnahmen. Es galt eine Erklärung zu finden, die den Geist des Menschen 
beschwichtigte, aber nicht unbedingt wahr sein musste. In der neueren Zeit 
zum Beispiel erforschten Lowell und Pickering die Gründe für die irreguläre 
Laufbahn des Planeten Neptun. Nach ihren Berechnungen kamen sie zu dem 
Schluss, dass man einen bisher unbekannten Himmelskörper annehmen müsse, 
mit bestimmten Maßen, Anziehungskraft und Laufbahn. Sie legten fest, dass 
es so sein müsse – und hatten damit den Planeten Pluto "erfunden"! Und in 
der Tat, als neuere, empfindlichere Geräte in Gebrauch kamen, stellte man 
fest, dass es tatsächlich so einen Stern mit den berechneten Eigenschaften 
gab, der sogar schon mehrmals fotografiert worden war; nur hatte man nicht 
daran gedacht, dass es sich um einen Planeten handeln könnte.

Was sagen wir nun dazu? Haben Lowell und Pickering den Planeten wirklich 
erfunden, d.h., ihn geschaffen und seine Existenz in der Realität mit endgültiger 
Sicherheit verankert? Natürlich nicht. Sie stellten nur fest, dass es so sein müsse, 
nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, sondern aufgrund von Theorien, die 
bestimmte Erscheinungen erklärten und alles wohl ordneten in Rationalität, 
nicht unbedingt aber in Realität. Nichts verließ den Rahmen von Möglichkeit 
und Zweifel. Um Missverständnissen vorzubeugen – wir wollen in keiner 
Weise das Genie eines Einsteins und anderer wissenschaftlicher Kapazitäten 
geringschätzen, sondern den Wirkungskreis und die Fähigkeiten der 
Wissenschaft definieren. Es ist sicher unmöglich, mit Hilfe der Wissenschaft 
absolute Wirklichkeit und den rechten Lebensweg zu bestimmen, und kein 
echter Wissenschaftler würde das vorgeben zu können. Daher gaben die 
Astronomen zu, dass "..eine ganz andere Erklärung der Phänomene nicht 
auszuschließen sei". Dies sieht doch aus wie Toleranz – doch ist es nicht 
wahre Toleranz, sondern Schwäche, die auch andere Ansichten akzeptiert; 
nicht, weil jene von größerer Bedeutung wären, sondern weil die eigene 
Ansicht auf tönernen Füßen steht.

"Und von jenem Tage an, als das Gesetz von der Anziehungskraft die 
Probleme der Astronomie zu lösen begann, weil es eine kosmologisch- 
allumfassende Vision darstellte, sprengte es die Fesseln des Zweifels"1
Newton erklärte mehr als seine Vorgänger, seine Erklärung umfasste viel 
mehr, und auf einmal war die Weltmechanik wunderbar geordnet: dem 
gleichen Gesetz der Schwerkraft, wonach der Stern am Firmament seine 
Bahn zieht, folgt auch der Apfel, der vom Baume fällt. Die 
Allgemeingültigkeit des Gesetzes brachte es der Realität näher – und ebenso 
der Bestimmtheit – und die "Zahnräder" des Ptolemäus mussten weichen. Die 
Allgemeingültigkeit der Newton'schen Gesetze befreiten ihn davon, 
Kompromisse mit anderen Theorien zu schließen, weil deren positive Punkte 
bei ihm bereits inbegriffen waren. Desgleichen brauchte er sich um deren 
Widerlegung nicht zu kümmern und niemandem nachzugeben, da die 
Korrektheit seiner [verhältnismäßig der Wahrheit näheren] Theorie den 
Anspruch der Absolutheit stellte.

 

11. Die radikale allumfassende Wahrheit – ihr Kernpunkt das Wesen 
der Toleranz

 

"Und hierher rührt auch der zweite Unterschied – die alten astronomischen 
Theorien ließen sich leicht miteinander vereinbaren, was nun bei der neuen 
Auffassung nicht mehr möglich ist, denn durch ihre Allgemeingültigkeit ist 
sie von radikaler Gewissheit, und kein Mensch kann mehr behaupten, einen 
Teil der Himmelserscheinungen durch die Schwerkraft und den Rest durch 
eine andere, aus der alten Astronomie stammende Theorie erklären zu 
wollen"1. Der Grund dafür ist, dass die wahre Radikalität von wahrer 
Toleranz begleitet ist, der allesumschließenden Toleranz – wie eine gütige 
Mutter, deren Liebe allen gilt. Sie weiß jedes Ding und jeden Teil seinem ihm 
angemessenen Platz zuzuordnen. Die umfassende Erklärung ist wissend und 
würdigt, ohne zu negieren; ihre allumfassende Fundamentalität weiß jeder 
Sache ihren Platz zuzuordnen und duldet gelassen und mit Recht deren 
Existenz.

"Gleiches gilt für die Erscheinungsformen der Spiritualität – die Vielgötterei 
war 'tolerant' und die Erkenntnis der Ein-heit radikal; weil allgemein und 
nicht individualistisch, absolut und nicht zweifelhaft, stellt sie eine der 
Beteiligung entgegengestellte Einheit für sich dar. Die Allgemeingültigkeit 
ist nicht tolerant im Sinne des äußeren Erscheinungsbildes der Toleranz, 
innen jedoch, im Kern ihrer Radikalität befindet sich das Fundament der 
wahren Toleranz"1.

In manchen europäischen Großstädten finden sich "Pantheon" genannte 
Bauwerke. Das griechische Wort "Pan" bedeutet so viel wie "alles", "theos" – 
"Gottheit". Das Pantheon sollte alle Religionen in sich vereinigen. Der Grund 
für diese "Weitherzigkeit" ist einfach: keine der religiös-philosophischen 
Erkenntnisse nehmen absolute Gewissheit für sich in Anspruch, sondern sind 
sogar bereit, ihre Gottheiten klar zu definieren bis hin zur Gestaltung eines 
Götzen oder eines Menschengottes, weshalb sie keine Allgemeingültigkeit 
für sich beanspruchen, und alle Religionen und ihre äußerlichen 
Ausdrucksformen können ohne weiteres nebeneinander existieren und sogar 
gut miteinander auskommen. Mit dem jüdischen Volk und seinem Glauben 
gab es jedoch ein Problem: Es hatte niemanden im Pantheon aufzustellen; es 
glaubte an eine nicht definierte, abstrakte Existenz, dem Unendlichen 
zugehörig, dem Unbegrifflichen.

Wir eignen uns nicht zur Teilhaberschaft. Wir sind gewiss. Umfassende 
Gewissheit ohne Abstoßung irgendeines Inbegriffenen: Es gibt nichts außer 
dem Einen – Allumfassendheit und Gewissheit. "Und unter die Völker lässt es 
[das Volk Israel] sich nicht rechnen" (Num.23,9), das heißt, dass das 
Judentum für die Völker nicht berechenbar ist, es gibt nämlich keine 
Rechnung – alles ist Eins. Unsere Radikalität ist durchaus tolerant und 
verlangt nicht nach Religionswechsel, sie erkennt an, dass so wie die 
Gesichter der Menschen voneinander verschieden sind auch ihre Ansichten 
voneinander verschieden sind (Brachot 58a). Im Glauben an den einzigen 
Schöpfer gibt es Raum für alle Geschöpfe und alle Religionen, unter der 
Bedingungung, dass auch sie die Einheit allen Seins anerkennen, jeder auf 
seine Weise. Die Radikalität bezieht sich auf die absolute, himmlische 
Einheit, die Toleranz auf die Anordnung der Einzelteile in ihr irdisches 
Gefüge. Die umfassende Einheit verdrängt nicht die Individualität der 
Bestandteile, verfolgt jedoch in ihrem Eifer für das allesumfassende Eine 
aufs Schärfste jenen Teil, der sich für das Ganze ausgeben will.

 

12. Der negative Eifer

 

"Die ohnmächtige Duldsamkeit [zum einen], die den Lebensgeist lähmt, 
entstammt den individuellen Geistesoffenbarungen, die nicht vom Tau der 
Allgemeingültigkeit getränkt sind, und der bösartige Fanatismus [zum 
anderen] jener Dreistigkeit, die individuelle Geistesoffenbarungen in den 
Rang höchster Allgemeingültigkeit erhebt; da sie jedoch nur individuelle 
Offenbarungen sind, ist es ihnen unmöglich, Geistesströmungen jenseits 
ihres ideologischen Horizontes zu tragen, und in Missgunst gegenüber den 
anderen Offenbarungen, die sie nicht vereinnahmen können, strangulieren 
sie die Ausbreitung des Lebensgeistes und verringern die Ausdrucksform 
spiritueller Kreativität"1.

Die üble Duldsamkeit entspringt dem Individuellen; Einseitigkeit und 
inhärente Schwäche zwingen sie zur Offenheit nach allen Seiten ohne 
Untersuchung deren Wahrheitsgehaltes. Und auch der wilde Fanatismus 
entstammt dem Individuellen. Sein bösartiger Eifer kulminiert in den Worten: 
"So wie ich müssen alle sein", furchtbarer Eifer, ganz und gar fanatisch und 
selbst vor der Entweihung des heiligen Namens nicht haltmachend. Bei dieser 
Gelegenheit hat unser verehrter Rabbiner und Lehrer *Rav Zwi Jehuda 
Hakohen Kuk sel. die Mischna aus den "Sprüchen der Väter" herangezogen 
(5,19), die den Rat gibt, der optimistischen Weltanschauung unseres 
Vorvaters Awraham zu folgen und nicht der pessimistischen des Bösewichtes 
Bil'am. Die Persönlichkeit unseres Vorvaters Awraham – der das göttliche 
Versprechen erhielt, Vater vieler Völker und er und seine Erben nach ihm 
Träger des Segens über die ganze Völkerfamilie zu sein – ist eine 
umfassende, die alles und jeden mit Sympathie und Wohlwollen betrachtet. 
Im Gegensatz dazu wird der Name Bil'ams von unseren talmudischen 
Weisen wie folgt ausgelegt (Sanhedrin 105a): Bil'am – "be'lo am" = "ohne 
Volk". Beschränkte Persönlichkeit, die alles aus Antipathie betrachtet und 
außerhalb ihrer Sphäre Befindliches grundsätzlich als schlecht bewertet.

 

13. Die Offenlegung der Quelle des Lichtes

 

"Die höchste Allumschließung aber gibt gerade durch ihre Weiträumigkeit 
und ihre Gewissheit das feinsinnige Vermögen zur Lokalisierung der 
göttlichen Einheit, was zum vortrefflichen Eifer bringt, der Geistesgenie 
gebiert, welches jede Schwäche individueller Kleinheit, jeden Zweifel und 
jede Beteiligung aus dem Weg räumt, 'der Ewige führt es abgesondert, und 
mit ihm kein fremder Gott' (Dt. 32,12); und da sie allgemeiner Natur ist, da 
in ihr alles enthalten ist, kann sie naturgemäß kein Ding ihrer Herrschaft 
und ihrer Allumfassendheit entziehen und gibt jedem Ding seinen Platz, 
dadurch aber nur neue Wege des Erscheinens der Erleuchtung in allen 
Ausdrucksformen des Lebens und spirituellen Offenbarungen aufdeckend, 
und das Verlangen ihrer fundamentalen Toleranz ist es, jedem Teil des 
Spektrums, jedem Ausdruck des Lebens und jeder Geistesoffenbarung den 
ihnen würdigen Ort zu weisen"1.

Wie wir oben bereits erläuterten, dass nur die Prophetie und ihr unmittelbares 
Erleben absolute Gewissheit verschaffen können, während die Skepsis jenen 
zueigen ist, die ihre Erkenntnisse nur auf Verstand gründen, gibt es noch 
eine spezifische Eigenschaft der ganz auf Prophetie begründeten Kultur. 
Diese spezifische Eigenschaft findet sich bei jenen, die in allem das Göttliche 
erkennen können. Ein Volk von Propheten ist das Volk Israel, sein Blick in 
die Ewigkeit gerichtet, und kann nicht anders als die Größe in jedem Kleinen 
zu sehen. So ist das Volk, dessen Propheten mit dem Göttlichen Gespräche 
führen. Um jene hohe Stufe zu erreichen, wo sich Radikalität und wahre 
Toleranz vereinen, muss man groß sein. Und ohne Tora gibt es keine Größe; 
ohne die Prophetie, die über den Verstand zu praktisch ausführbarer Halacha 
wird, kann keine Persönlichkeit entwickelt werden, die die Ewigkeit im 
Augenblick und die Unendlichkeit in allem Endlichen erkennt. Solche dem 
Heiligen verbundenen Menschen sind geeignet, mit jeder Kultur in Kontakt 
zu kommen, und sie sind es, die den Kampf der Ideologien und 
Glaubensrichtungen bestreiten können. Und diese Dinge gelten nicht nur 
nach außen hin, sondern eignen sich auch sehr gut zur Wahrheitsfindung 
zwischen unterschiedlichen Ansichten innerhalb unseres eigenen Volkes.

Die höchste Allumschließung "weiß, dass in allem Sein ein Funke des Lichtes 
steckt; der innere göttliche Funke strahlt in allen der verschiedenen 
Glaubensrichtungen in Form unterschiedlicher Erziehungsmethoden zur 
Zivilisation, zur Optimierung von Geist und Materie, der Gegenwart und 
der Zukunft, des Individuums und der Öffentlichkeit – nur dass sie sich auf 
unterschiedlichen Stufen befinden… die alle der einen, der lebendigen 
Quelle entstammen, deren Grundlage und Wurzel immer das Licht Israels 
ist, die reine Glaubensverbindung, die auf dem einzigartigen Fundament 
ruht, das sie ewig aufrechterhält und nie versagen wird"1.

 

14. Wahrheit und Frieden

 

Die echte Toleranz, die nur auf dem Glaubensverhältnis von Israel zu G~tt 
aufgebaut sein kann, bringt jene Persönlichkeiten hervor, die ihre gesamte 
Spiritualität aus inneren Quellen schöpfen. Sie brauchen nicht an fremden 
Ufern zu weiden; am Ende ihrer eigenen Entwicklung sehen sie keine 
Notwendigkeit in der Rückweisung der Lichtblicke anderer 
Glaubensrichtungen, sondern wissen diese genau in der ihnen zur Verfügung 
stehenden allgemeinen Wertordnung ihrer spirituellen, der Tora verbundenen 
Welt unterzubringen. Diese Geistesgrößen sind ein Segen für die Welt, die 
aus ihren Händen das alles vereinende geistige Gefüge erhält, das der 
organischen und der vereinigten Wirklichkeit entspricht. Zu dieser Einheit 
streben alle Wahrheitssuchenden. Nach diesem Gleichgewicht sehnen sich 
alle Friedenssuchenden – in der Gesellschaft und zwischen den Nationen.

"Anstatt also alle Inhalte des Geflechtes des philosophischen Denkens 
abzuweisen, da doch die kleinen Funken des Guten beginnen, sich von ihm 
zu lösen, doch diese für sich allein genommen die Seelen in die Tiefen des 
Abgrundes zu wandern lenken, dem Orte der Herrschaft der Finsternis, die 
das innere Wesen der Kraft der Seele abzutöten sucht – was ihr in 
Wirklichkeit aber nicht gelingen kann – ist es an uns, das Licht des 
Ursprungs zu verstärken, die Weite und die Tiefe zu offenbaren, die 
Allgemeingültigkeit und die Ewiglichkeit des Lichtes Israels; 
zu erläutern, wie jeder edle Funke, der sich in einer anderen Welt offenbart, 
dieser Quelle entstammt und sich mit ihr ganz natürlich verbinden lässt. Dann, mit 
einigen Funken, die sich von neuem offenbaren, werden Licht und 
Lebenskraft der Seele der Nation, der gewaltigen in der Mächtigkeit ihres 
Geistes, der ihr innewohnenden göttlichen Kraft, hinzugefügt, und die 
Herzen der nach Erleuchtung Dürstenden schauen zu ihr auf und 
erstrahlen, und gehen nicht mehr in fremden Gefilden zu weiden, selbst 
dem, von dem der Beginn ihrer Gedanken herrührte, denn auch sein Platz 
ist dort.

Und in der Zukunft wird sich die wahre Toleranz so ausbreiten, dass der 
Geist des Menschen in seiner Allgemeinheit den verborgenen Funken in 
allen [Gefilden] zu finden imstande ist, von selbst alle Schlacken 
abschüttelnd, 'ich entreiße ihm das Blut aus seinem Munde, und seine 
Greuel aus den Zähnen; dann bleibt auch er für unseren G~tt übrig'20, und 
alle Funken finden sich in der großen Fackel zusammen, 'dann wandle ich 
den Völkern ihre Lippe in eine lautere um, dass sie alle anrufen den Namen 
des Ewigen'21. 'Weg die Schlacken aus dem Silber, und dem Schmelzer geht 
hervor ein Gerät' 22"1
  
 

FUSSNOTEN:

1. HaRav A.J.Kuk "Über den Krieg der Ideologien und Glaubensrichtungen" 
2. siehe Talmudtraktate Schabbat 146a, Schewuot 39a 
3. siehe HaRav A.J.Kuk "Orot" S. 156, Paragr. bet u.a.m. 
4. [siehe Eruwin 100b] 
5. "Geh' zur Ameise, Fauler, sieh' ihre Wege und werde klug" Sprüche 6,6, 
siehe dazu Kommentar von Rabbiner Elijahu (genannt der "Gaon") von Wilna 
6. Sanhedrin 44a 
7. Kusari II, 36 (siehe auch *Rabbi Jehuda Halevi) 
8. Kusari I; ebenso in den ersten Kapiteln des Buches "Nefesch Hachajim" 
von Rabbiner Chaim Woloschiner 
9. siehe Kommentar "Derech Chajim" des MaHaRal (der "hohe Rabbi Löw") aus Prag zur zweiten 
Mischna des ersten Kapitels der "Sprüche der Väter" über die drei Dinge, 
durch die die Welt besteht: Tora, Dienst und Mildtätigkeit; siehe auch 
Maimonides "Führer der Unschlüssigen", 3. Teil, 10.-12. Kapitel 
10. Pessachim 66b: "..man lasse aber die Israeliten, denn wenn sie auch keine 
Propheten sind, so sind sie Kinder von Propheten"; Kusari I, Paragr. 115: 
"…denn nur ein gebürtiger Jude ist zur Prophetie geeignet". 
11. Prophetenbuch Jeschajahu 43,12 [Jalkut Schimoni ebda.: "Wenn ihr 
meine Zeugen seid – bin ich G~tt, und wenn ihr nicht meine Zeugen seid – als 
wäre ich nicht G~tt"] 
12. Kusari II, 35-44 
13. [Zu Awraham hieß es: " …und du sollst ein Segen sein. … ..und es 
werden sich segnen mit dir alle Geschlechter des Erdbodens" (Genesis 12,2- 
3). Zu Jizchak hieß es: " …und es werden sich segnen mit deinem Samen alle 
Völker der Erde" (ebda. 26,4). Zu Jakov hieß es: "…und mit dir werden sich 
segnen alle Geschlechter der Erde, und mit deinem Samen" (ebda. 28,14). 
U.v.a.m. 
14. Schulchan Aruch, Orach Chajim 156, dort in den Anmerkungen weitere 
Quellenangaben 
15. Sanhedrin 58b 
16. siehe "Tiferet Israel" des MaHaRal, 7. Kapitel 
17. ["Jeder Spott ist verboten, ausgenommen der Spott über die Götzen, der 
erlaubt ist" Megilla 25b] 
18. im zweiten der "Acht Kapitel" [Einleitung seines Mischnakommentars zu 
den "Sprüchen der Väter"] 
19. Maimonides "Führer der Unschlüssigen", 2. Teil, 32.-36. Kapitel 
20. Secharja 9,7/Megilla 6a 
21. Zefania 3,9/Brachot 57b, Awoda Sara 24a 
22. Sprüche 25,4 
 

NAMEN UND BEGRIFFE:

Israel = das jüdische Volk 
HaRav A.J.Kuk = Rabbiner Awraham Jizchak HaKohen Kuk, erster 
Oberrabbiner Israels, Gründer der Zentralen Welt-Jeschiwa, Vater von 
*HaRav Zwi Jehuda HaKohen Kuk, verstorben 5695 (1935) 
HaRav Zwi Jehuda HaKohen Kuk = Leiter der Zentralen Welt-Jeschiwa, 
Jerusalem bis zu seinem Tode im Jahre 5742 (1982) 
Halacha = jüdisches Gesetz 
Rabbi Jehuda Halevi = jüdischer Denker und Dichter, geb. in Spanien ca. 
4843 (1083), Verfasser des "Kusari" 
Die sieben noachidischen Gesetze: Gebot der Rechtspflege, Verbot der 
Gotteslästerung, des Götzendienstes, der Unzucht, des Blutvergießens, des 
Raubes und des Genusses eines Gliedes von einem lebenden Tiere (siehe 
Sanhedrin 56a/b)

Erschienen in der Monatsschrift "Iture Kohanim" der Jeschiwa Ateret Kohanim, Jerusalem Nr. 84 Adar I 5752 Vorwort, Übersetzung und Redaktion: R. Plaut Chefredakteur von KimiZion.

Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Danke fuer Ihre Antwort!

Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.

Fuegen Sie einen Kommentar hinzu.