Aguna

Eine Frau, die nach dem Gesetz nicht erneut heiraten kann, wird „Aguna“ genannt.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 04.04.21

Eine nach den halachischen Vorschriften geschlossene jüdische Ehe endet, wie man der ersten Mischna im Traktat „Kidduschin“ entnehmen kann, entweder durch den Tod eines Ehepartners oder durch eine Scheidungsurkunde (hebr.: Get), die der Ehemann der Frau überreicht. Wenn ein Ehepartner unauffindbar ist, so kann ein gemeinsames Leben natürlich nicht mehr stattfinden. Halachisch gesehen besteht die Ehe jedoch weiter.

 

Sollte einer der Eheleute sich neu verheiraten wollen, so ist dies nicht sofort möglich. Erst muss sie oder er den Beweis erbringen, dass die erste Ehe nicht mehr besteht. Ist ein Ehepartner verschollen, ergibt sich für die zweite Seite ein ernstes Problem. In der Praxis hat eine Ehefrau unter solchen Umständen wesentlich mehr Schwierigkeiten zu überwinden als ein Ehemann.

 

Der Unterschied zwischen der Situation eines Mannes und der einer Frau ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Tora einem Mann erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten; eine Frau darf aber nie mit zwei Männern verheiratet sein. Zwar wurde die Polygamie durch eine rabbinische Verordnung im Mittelalter verboten, aber unter bestimmten Bedingungen wird einem Mann erlaubt, eine zweite Frau zu ehelichen. Daher kann ein Gericht (hebr.: Bet Din) einem Mann mit einer verschwundenen Ehefrau erlauben, sich eine zweite Frau zu nehmen. Sollte die erste Ehefrau wieder auftauchen, ist nichts Schlimmes passiert. Der umgekehrte Fall hingegen kann tragische Konsequenzen haben: Sollte die Frau erneut heiraten und Kinder gebären, so stellt sich heraus, wenn der erste Mann wieder auftaucht, dass sie (unabsichtlich) Ehebruch begangen hat. Die Kinder aus der zweiten Verbindung bekommen einen Makel (hebr.: Mamserut), der an ihnen folgenreich haften bleibt.

 

Eine Frau, die nach dem Gesetz nicht  erneut heiraten kann, wird „Aguna“ genannt; sie bleibt an einen Mann gefesselt, mit dem sie nicht mehr zusammenlebt. Die besondere Lage einer Aguna wird im Talmud-Traktat „Jebamot“ besprochen. Die Ergebnisse der religionsgesetzlichen Erörterungen sind sowohl im Kodex von Maimonides (Hilchot Geruschin, Kap. 12 und 13) als auch im „Schulchen Aruch“ (Even HaEzer Kap. 17) zusammengefasst worden.

 

In der Responsa-Literatur werden erstaunlich viele Aguna-Fälle diskutiert . So hat  Rabbiner Yizhak Elchanan Sektor (1817-1896) aus Kovno mehr als 150 Responsa zu diesem Themenkomplex veröffentlicht. Fast alle Halachisten, die sich mit solchen Fällen befasst haben, neigten dazu, erleichternd zu entscheiden, das heisst, der betreffenden Frau eine zweite Ehe zu erlauben. Vom sephardischen Oberrabbiner Ovadia Yossef (1920-2013) und seinem Bet Din ist bekannt, dass sie nach dem Jom-Kippur-Krieg (1973) fast 1 000 Agunot aus ihrem gefesselten Zustand befreiten.

 

In den halachischen Gutachten geht es stets darum, die Umstände des jeweiligen Falles zu untersuchen, und dann zu prüfen, ob die halachischen Kriterien es erlauben, den Tod des Mannes für sicher zu halten. Forscher der umfangreichen Aguna-Literatur haben festgestellt, dass leider nicht in jedem Fall eine positive Lösung gefunden werden konnte.

 

Eine große Verantwortung lastet auf den rabbinischen Richtern (hebr.: Dajanim). Die Gefahr besteht, sie könnten Urteile fällen, die sich am Ende als falsch erweisen  (wenn der Mann unerwarteterweise wieder auftaucht). Man denke an die wirren Verhältnisse in den Vernichtungslagern, an unüberschaubare Kriegsereignisse und an die Menschen, die am 11.9.2001 in den Twin Towers in New York waren und vermutlich umgekommen sind. Viele tragische Geschichten, die in Responsa dokumentiert sind, können die Leser zu Tränen rühren.

 

Sehr bewegend sind auch die Schicksale einer anderen Sorte von Agunot. In diesen Fällen sind die Männer nicht verschollen, sondern sie wollen ihren Frauen keinen Get geben, obwohl sie vom Bet Din dazu aufgefordert worden sind. In Israel werden solche widerspenstige Ehemänner unter Druck gesetzt, im Extremfall landen sie sogar im Gefängnis! Kürzlich haben Dajanim Sanktionen gegen den Vater eines solchen Get-Verweigerers durchgesetzt; das Gericht war nämlich zu der Überzeugung gelangt, der Vater unterstütze das schändliche Verhalten seines Sprösslings.

 

Zahlreichen Berichten kann man entnehmen, dass das Leid einer Aguna unermesslich ist. Wer einer solchen Frau helfen kann, aus ihrer misslichen Lage herauszukommen, vollbringt eine gottgefällige Tat.

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