Alles oder nichts

Ein scheinbar paradoxer Dialog offenbart eine lebendige Liebesbeziehung im Licht der Tora

4 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 05.04.21

Ein scheinbar paradoxer Dialog offenbart eine lebendige Liebesbeziehung im Licht der Tora

Unsere Weisen lehren uns, dass man sich an den guten Eigenschaften Gottes ein Vorbild nehmen muss. Das heißt, jeder soll Gutes vollbringen, so wie es heißt:

„Seid heilig, da Ich heilig bin!“ (3. Buch Moses, Kapitel 19, Satz 2) Mit anderen Worten spricht Gott hier zu Dir: „Du kannst in allem so sein wie Ich!!!“, faszinierend, nicht wahr!?
 
Diese Faszination erfordert aber zunächst die Einstellung, Gutes tun zu wollen! Für den einen oder anderen ist jetzt vielleicht nicht ganz klar, was das Gute ist. Daher sollten wir kurz erklären, das gut in der Regel immer all das ist, was mit Heiligkeit in Verbindung zu bringen ist. Und heilig ist ganz ohne Zweifel die Tora und somit alle aus ihr entspringenden Ge- und Verbote, die 613 Mitzwot (auf Hebräisch: Tariag Mitzwot).
 
Im Bezug auf diese 613 Mitzwot, gibt es im Talmud (Traktat Sanhedrin) einen höchst interessanten Dialog zwischen Rabbi Jochanan und Resch Lakisch (Rabbi Schim´on ben Lakisch).
 
Rabbi Jochanan ist nämlich der Meinung, dass ein Jude dazu verpflichtet sei, alle 613 Ge- und Verbote der Tora zu erfüllen, stets durchzuführen und auch einzuhalten. Wenn ein Jude dies nicht schafft, dann wird ihm der Eintritt in den Garten Eden (dem Paradies) verwehrt und somit bleibt ihm nur noch die Hölle – Gott behüte!
 
Resch Lakisch vertritt hierbei allerdings eine ganz andere Auffassung! Er sagt nämlich im Gegenteil, dass einem Juden bereits bei nur einer einzigen Gebotserfüllung der Eintritt in das himmlische Paradies gewährt wird!
 
Um diese Kontroverse zu klären, müssen wir nun einen weiteren Dialog betrachten, der sich zwischen Ja´akov Awinu (unserem Stammesvater Jakob) und seinem Bruder Esaw abspielte.
 
Esaw war – wie jedem bekannt ist – ein richtig schlechter Mensch in allem. Ja´akov war dagegen ein guter Mensch und hatte alle guten Charaktereigenschaften.
 
Eines Tages ging Esaw auf Ja´akov zu und sagte zu ihm:
 
„Wenn du in das Paradies kommst, dann komme ich auch in das Paradies! Und wenn ich in die Hölle verbannt werde, dann wirst auch du gemeinsam mit mir in der Hölle landen!“
 
Ja´akov war von der Aussage seines Bruders sehr irritiert, denn er wusste, dass sein Bruder ein übler Typ war, er selbst jedoch das gottesfürchtige Leben eines Zaddik lebte. Deshalb ist es mit absoluter Gewissheit auszuschließen, dass beide gemeinsam entweder ins Paradies oder in die Hölle kommen.
 
Esaw grinste Ja´akov an und erklärte weiter:
 
„Wenn die Halacha (die rechtlichen Auslegungen der Tora) gemäß den Worten von Rabbi Jochanan zu werten ist, ein Jude also alle der 613 Mitzwot erfüllen muss, dann werde sowohl ich als auch du in der Hölle schmoren! Ich, da ich – zugegeben – ein übler Typ bin, der keine Gebote erfüllt, geschweige denn die Verbote beachtet!
 
Und du, da du in deiner 28 Jahre langen Abwesenheit das Gebot der Elternehre missachtet hast! Dabei spielt es auch überhaupt keine Rolle, ob du in dieser Zeit hintergangen wurdest und nur deshalb diese Probleme hattest. …
 
Wenn die Halacha allerdings gemäß den Worten von Resch Lakisch zu werten ist, dann kommst du – logischerweise – problemlos in das himmlische Paradies und ich auch, da ich in der Zeit wo du nicht da warst, 28 Jahre lang das Gebot der Elternehre erfüllt habe!!!“
 
Ja´akov erwiderte daraufhin:
 
„Esaw! Deine Theorie hört sich gut an, ist aber falsch!!! Denn ich liebe dich – du jedoch hasst mich ohne jeden Grund! Und da ich dich liebe, erfülle ich in den Augen Gottes die gesamte Tora und somit alle der 613 Ge- und Verbote! Da du mich aber grundlos hasst, erfüllst du in den Augen Gottes nicht einmal ein einziges Gebot …“.
 
Nun ist klar das zwischen den Aussagen Rabbi Jochanans und Resch Lakisch in Wahrheit kein Widerspruch besteht. Denn beide haben ja recht!
 
Rabbi Jochanan sagte einfach nur, dass ein Jude erst dann in das Paradies kommt, wenn er alle 613 Mitzwot erfüllt hat. Daraufhin sagte Resch Lakisch, sogar wenn ein Jude nur eine einzige Mitzwa erfüllt, nämlich die Mitzwa der Nächstenliebe, dann wird ihm bereits der Eintritt in den Garten Eden gewährt werden, da er ja dadurch die gesamte Tora in ihrer Essenz erfüllt, was bedeutet, dass ein Mensch der Liebe in seinem Herzen trägt, mit Sicherheit die Faszination, von der wir hier zu Beginn sprachen finden wird. Kannst Du Dich erinnern, wie Gott zu Dir spricht: „Du kannst in allem so sein wie Ich!!!“, wie faszinierend schön, nicht wahr!? Wer also den Schöpfer des Lebens findet und mit Ihm eine echte Liebesbeziehung hat, der wird die gesamte Tora erfüllen.

Hier muss man aber auch sagen, dass in Wahrheit kein Mensch alle 613 Mitzwot erfüllen kann, da es viele Gebote gibt, die man nur erfüllen kann wenn der Tempel steht, oder es Gebote gibt die nur bestimmte Personen erfüllen können so weiter.

Doch mit Seiner himmlischen Hilfe, schaffen wir sogar auch dieses scheinbar         unmögliche, denn HaShem macht ja alles möglich.

Und genau das erklärt uns Resch Lakisch, er hat uns nämlich verraten wie wir uns himmlischen Beistand schaffen können – mit LIEBE!

Durch die Liebe verwandelt sich das Eine zu einem Ganzen und alles wird eins. Wenn wir also von alles oder nichts reden, dann müssen wir nach der Formel suchen, die alles vereint, alles zu einer Symphonie der Herrlichkeit Gottes verwandelt, in der es keine echten Kontroversen gibt, sondern eben nur himmlische Momente die es in Form einer Mitzwa in dieser Welt zu sammeln gilt.
  
Durch diesen talmudischen Dialog zwischen den zwei heiligen Männern, kann jeder leicht die Erkenntnis gewinnen, dass ein jeder Mensch stets an sich selbst arbeiten sollte und muss. Jeder muss immer wieder versuchen, sich von jeglichen Streit usw. fernzuhalten. Ein Mensch muss sich schlichtweg nur an Gott halten und somit das Gute in dem Nächsten erkennen, nach dem Motto: „Ich sehe dich, wie du bist, sehe durch dich was in mir ist", so ist alles wunderbar und so spürt man Gott unbeschreiblich nah bei sich, eine lebendige Liebesbeziehung im Licht der Tora. 

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