Augen auf!

Schon der Tanaait Rabbi Akiba benutzte den Ausdruck „Klal gadol baTora“ (fundamentale Regel der Tora) ... „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 18.03.21

Anerkennung von Gottes Gegenwart

Bemerkungen zum „Schiwiti“- Vers

Schon der Tanaait Rabbi Akiba benutzte den Ausdruck „Klal gadol baTora“ (fundamentale Regel der Tora). Er bezeichnete das Gebot der Nächstenliebe, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, als eine solche Regel (siehe  Raschi zu 3.B.M.19,18). Man muss sich aber klarmachen, dass es nicht nur eine einzige fundamentale Regel der Tora gibt. Rabbi Mosche Isserles hat auch den „Schiwiti“- Vers, „ Ich nehme mir den Ewigen stets vor Augen; denn ist Er zu meiner Rechten, wanke ich nicht!“ (Psalm 16,Vers 8 in der Übersetzung von Zunz), als eine wichtige Regel in der Tora hervorgehoben. 

Rabbiner Schelomo Ganzfrieds halachisches Werk „Kizzur Schulchan Aruch“, das eine außergewöhnliche Verbreitung gefunden hat und  erfreulicherweise auch ins Deutsche übersetzt worden ist, beginnt mit dem folgenden Zitat (einer Glosse des übrigens ungenannten Autors Rabbi Mosche Isserles) :

„Ich habe den Ewigen stets vor Augen (Ps.16,8) – das ist eine wichtige Regel in der Tora und den Eigenschaften der Frommen, die vor Gott wandeln. Denn es ist nicht das Wissen des Menschen, seine Bewegung und sein Benehmen, wenn er allein zu Hause ist, gleich seinem Sitzen, seiner Bewegung und seinem Benehmen, wenn er sich vor einem großen König befindet. Ebenso sind seine Rede und das Öffnen seines Mundes, wenn er mit seiner Familie und seinen Verwandten zusammen ist, nicht so, wie wenn er im Rat des Königs verweilt; denn dann achtet er bestimmt auf alle seine Bewegungen und Worte, dass sie wohl bemessen seien. Um so mehr, wenn der Mensch bedenkt, dass der große König, der Heilige, gelobt sei Er, dessen Herrlichkeit die ganze Erde erfüllt, bei ihm steht und seine Handlungen sieht.“
 
Warum ist also der „Schiwiti“-Vers eine fundamentale Regel der Tora? Weil dieser Satz des Psalmisten das Verhalten des Menschen ausrichten kann: beachtet jemand stets Gottes Gegenwart, dann wird sein Verhalten automatisch auf eine höhere Ebene gehoben.

Um die Andacht (Kawana) des Vorbeters in der Synagoge aufrecht zu halten, hat man vielerorts schöne Schiwiti-Blätter ihm gegenüber aufgestellt. So hat der Kantor diese ermahnenden Worte im wörtlichen Sinne die ganze Zeit vor Augen. Aber nicht nur im Gebetshaus gilt es Gottes Gegenwart zu bedenken, sondern jederzeit und überall.

Im Midrasch „Schocher tov“ (zum Schiwiti- Vers) steht, dass man  nach  Ansicht des Amoräers Rav (der wir in der Praxis heute folgen), bei jedem Segensspruch „ Gelobt seiest Du…“ sagen muss, um das Gegenübersein des Ewigen anzuerkennen; diese Lehre ist abgeleitet von unserem Vers. Erst nach der Einleitung in der 2. Person wechseln wir mitten im Segensspruch, aus Ehrfurcht vor der Gottheit, in die 3. Person (siehe auch Schlomo Bubers Anmerkung zu dieser Midrasch-Stelle).  

Rabbiner Israel Meir HaKohen lehrt (in der Spalte „Biur Halacha“ in seinem Werk „Mischna Berura“, Kap.1,1), wie man die Schiwiti – Pflicht in der Praxis richtig ausüben kann. Er erinnert an die 6 ständigen Gebote, die im bekannten „Sefer HaChinuch“ aufgezählt werden. Folgende Mizwot gelten ununterbrochen, und wer sie erfüllt, dem wird ein großer Lohn in Aussicht gestellt.

 

  1. zu glauben, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, der uns aus Ägypten herausgeführt hat und uns die Tora gab.
     
  2.  zu glauben, dass es keinen Gott außer Ihm gibt.
     
  3.  zu glauben, dass Gott alleine wirkt, ohne Partner.
     
  4.  den Ewigen zu lieben. 
     
  5.  Ehrfurcht vor dem Ewigen zu haben. 
     
  6.  nicht torafremden Gedanken nachzugehen und nicht Wege der Unzucht zu beschreiten. 
     

An dieser Stelle ist es nicht notwendig, die entsprechenden Tora-Verse und die Ausführungsbestimmungen darzustellen; zahlreiche Bücher wurden bereits darüber geschrieben.

Erwähnenswert ist, dass im Talmud (Sanhedrin 21 b) der Schiwiti-Vers mit einer Vorschrift für die jüdischen Könige in Verbindung gebracht wird. Der König muss bekanntlich eine zweite Tora-Rolle schreiben und diese ständig mit sich führen. Raschi erklärt (im Kommentar zu unserem Psalmenvers), dass der König Gott ständig vor Augen hatte durch die Tora-Rolle, in der er alle Tage seines Lebens zu lesen hatte. Die Rechte, die in der 2. Hälfte des Verses erwähnt wird, spielt an auf die Tora, die mit der Rechten Gottes gegeben wurde (siehe 5.B.M.33,2).

Eine andere Interpretation der 2. Vershälfte finden wir im philosophischen Werk von Moses Maimonides. Er schreibt („Führer der Verirrten“, Teil 3, Kap. 51 ), dass der Psalmist sagte: „Ich habe meine Gedanken nie vom Ewigen abgewendet, und es ist so, als wäre Er meine rechte Hand, die ich keinen Augenblick unbeachtet lassen kann, und deshalb werde ich nicht fallen.“

Im „ Siddur Schma Kolenu“ steht, dass im Trauerhaus in den meisten Gemeinden Psalm 16 gesagt wird. Verschiedene Autoren erklären, dass wir in diesem Psalm Hinweise auf ein Leben nach dem Tod finden. Gewiss ist es für die Trauernden trostreich zu hören, dass  nicht immer mit dem Tod die Existenz des Verstorbenen aufhört. Rabbiner S.R. Hirsch hat es so formuliert: „Für die Rechtschaffenen ist der Tod der anbrechende Morgen eines neuen Tages.“ Vielleicht hat auch der Schiwiti-Vers dazu beigetragen, dass man gerade Psalm 16 im Trauerhaus betet. Dieser Vers besagt, dass man sich immer – also auch in der schmerzvollen Trauerzeit- um eine Verbindung mit Gott bemühen sollte. Der Vortrag von Psalm 16 mag den Trauernden helfen, ihre besondere, leidvolle Situation zu begreifen: Gottes Gegenwart begleitet auch trauernde Menschen, und das Leben mit seinen vielfältigen Aufgaben wird unausweichlich weitergehen.

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