Heilige Gleichgültigkeit

Gleichgültigkeit an sich ist immer sehr negativ, aber im Judentum gilt es, eine nahtlose Brücke zu bauen ...

4 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 17.03.21

FRAGE: Ich würde gerne wissen, ob die Bezeichnung „heilige Gleichgültigkeit“ aus dem Judentum stammt.

 

ANTWORT: Ja. Die Rede ist von Adishut Dikdusha (Dt.: heilige Gleichgültigkeit). Dieser Begriff ist weniger bekannt, jeder kennt aber Asut Dikdusha (Dt.: heilige Frechheit), die ja König David nachgesprochen wird, wobei Esau Asut Deklipa (Dt.: grobe Frechheit) besaß.

 

Gleichgültigkeit an sich ist immer sehr negativ, aber im Judentum gilt es, eine nahtlose Brücke zu bauen zwischen Materialität und Spiritualität, Körper und Seele, Himmel und Erde, Materie und Geist zwischen uns und Hashem.

 

Es gibt Situationen im Leben, die kannst du nicht einfach so ändern. Manche Ereignisse entziehen sich deiner Macht. In solchen Situationen bist du nur ein Zuschauer des Geschehens. Adishut Dikdusha gilt es immer dann anzuwenden, wenn du etwas nicht vermeiden und nicht ändern kannst. Hier müssen wir Hashem um Gelassenheit bitten, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können. Alles, wofür ich wirklich nichts kann, z.B. Flugverspätungen wegen Unwetter oder Dinge, die von anderen Menschen beeinflusst werden konnten, aber nicht von mir, kann ich gelassen hinnehmen. Wenn du etwas nicht ändern kannst, dann bedeutet das so gut wie: Akzeptiere doch, dass du nichts tun kannst, gestehe dir deine Machtlosigkeit ein. Lass los und lasse es geschehen. Vertraue auf Hashem! Alles hat seinen Sinn und Zweck, nichts geschieht hier „zufällig“.

 

Wenn du nun aber denkst, dass du jetzt nichts mehr tun kannst, und der passive Beobachter bist, dann hast du dich getäuscht! Du bist keineswegs ganz machtlos. „Ändere deine Einstellung“ gibt dir wieder eine Wahl. Es ist zwar eine kleine, aber eine „große“ Möglichkeit, da wir mit der richtigen Einstellung die Sache heiligen.

 

„Ändere deine Einstellung“ ist ein Appell der Emuna, der Kraft des Glaubens. Sie fordert dich vor allem wieder auf, die Verantwortung für dich zu übernehmen. Wenn du deine Einstellung ändern willst, dann musst du meist ein altes Vorstellungsbild, das dir nicht mehr dient, über Bord werfen. Denn oft sind es solche veraltete und verstaubte Bilder, die dir das Leben zur Hölle machen. Der Ball liegt jetzt also wieder bei dir und du hast wieder die Möglichkeit. Du kannst wählen, was du willst und was dir gefällt. Anstatt mit der Situation zu hadern, solltest du versuchen, deine ganze Energie auf die Zukunft zu lenken. Wenn es nicht mehr weiter geht, schau nach vorne und nicht zurück! Denn die Zukunft kannst du beeinflussen, diese unvermeidbar unglückliche Situation oder gar die Vergangenheit nicht mehr. Schaue voraus und erfreue dich an den schönen Dingen, welche noch kommen werden!

 

Ein gutes Beispiel dazu liefert uns der Brisker Rabbi. Als am 1. September 1939 der Zweiten Weltkrieg ausbrach, befand sich der Rabbiner in Warschau.
Warschau stand damals unter schwerem Bombardement. Man war weder im Haus noch im Schutzbunker sicher, denn wenn ein Haus durch eine Bombardierung zerstört wurde, waren alle im Schutzbunker darin gefangen. Es gab keinen Ausweg.
Wie viele Warschauer, musste sich jetzt auch der Brisker Rabbi entscheiden: „Wo halte ich mich während eines Fliegeralarms auf?“

Der Rabbi hat beide Optionen gründlich abgewogen und sich entschieden, bei einer Bombardierung zu Hause zu bleiben und nicht in den Schutzbunker zu gehen.
Als es Zeit war, schlafen zu gehen, ging der Brisker Rabbi zu Bett und schlief ruhig die ganze Nacht.
Seine Familie konnte das nicht verstehen und fragte ihn, wie er so ruhig schlafen kann?
Der Rabbi erklärte, dass – nachdem er die bestmöglichste Entscheidung getroffen hatte und die Ereignisse ohnehin nicht mehr beeinflussen kann – es nun keinen Sinn macht, sich weiter zu sorgen!

 

Fazit ist: Akzeptiere es und ändere deine Sicht der Angelegenheit. Wenn Du es nicht akzeptierst, bleibst du unglücklich.

 

Das gilt auch bei unheilbarer Krankheit oder Todesahnung. König Hiskia wurde auch gesagt, er sei unheilbar krank, aber er lebte die Adishut Dikdusha. Ihm war egal, was ihm so alles gesagt wird. Er hatte von seinen Vorfahren gelernt, dass man selbst mit einem scharfen Schwert an der Kehle nicht die Hoffnung auf Hashems Gnade aufgeben dürfe. (Brachot 10a) Verzweiflung und Mutlosigkeit sind immer nur kontraproduktiv. Dankbarkeit, Vertrauen in Hashem und ein fester Glaube bewirken dagegen Wunder.

Dabei sollte man aber aufpassen, nicht in die Positiv-Denken-Falle zu tappen, indem man sich dazu hinreißen lässt, negative Gefühle wegzudrücken. In einer Welt, in der alle immer gut drauf sind, passt Trauer und Wut und ein kritischer Verstand nicht hinein. Aber sind diese Gefühle dann tatsächlich weg? Natürlich nicht. Sie sind nur ausgeblendet und sammeln ihre Kräfte, um irgendwann verstärkt aufzutreten.

Adishut Dikdusha ist eine Bewusstseinsfrage. Ein Mensch mit einer positiven Grundeinstellung nimmt sich die Zeit, die er braucht, um das Geschehene in dem Bewusstsein zu verarbeiten, zu trauern bzw. wütend zu sein, dass es danach weitergeht und die Zeit kommt, wieder nach vorne zu schauen und den Rest des Lebens anzugehen. Im Leben geht es nicht darum, gute Karten zu haben, sondern auch mit einem schlechten Blatt spielen zu können.
Positiv denken, heißt, zu wissen, dass es weitergeht und das Positive Teil des Negativen ist und umgekehrt – sozusagen zwei Pole derselben Sache. 

Das Leben ist keine Serie von glücklichen Momenten. Das Leben besteht aus Hochs und Tiefs, Erfolgen und Niederlagen, vor und zurück. Es ist voll von Problemen und Herausforderungen und besteht aus großen Siegen, gewaltigen Schiffbrüchen, Enttäuschungen UND glücklichen Momenten, die man umso mehr genießen kann, eben weil sie nicht alltäglich sind.

Außerdem soll Adishut Dikdusha einen Menschen auf den Wert einer Sache hinweisen: Welchen Wert hat ein Sieg für jemand, der noch nie verloren hat? Welchen Wert hat eine Familie für jemand, der nie von ihr getrennt war? Und wie wichtig ist Geld für jemand der reich geboren wurde und ohne jedes finanzielle Problem aufgewachsen ist?
Negativen Ereignissen ehrlich zu begegnen, die eigenen Gefühle in dem Bewusstsein zuzulassen, dass eine Zeit kommen wird, in der man auch die positiven Aspekte der Ereignisse würdigen kann, wird uns sicher weiterbringen. Positiv zu denken ist kein Wunschdenken und keine Verdrängung, sondern der positive Umgang mit dem, was man hat, ist und werden kann.

Aber wisse: Wenn Dankbarkeit und Vertrauen sich miteinander vereinen, entsteht daraus ein magischer, spiritueller Trank, welcher jedes Unglück mildern kann!!!

Woher ich das alles weiß? Da fallen mir spontan drei Nachlesepunkte ein, siehe Midrasch Halacha, Sifri, Parashat Ree über die Erech Apaim. Ebenso 2. Likutey Moharan, Lektion 155. Und „Dan Jadin“ von Rabbi Shimshon aus Ostropoli, der sich auf das Buch „Sefer HaKarnaim“ bezieht. Auch MeMa´amakim erklärt diesen Punkt wundervoll.

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