Lügen mit guter Absicht

Ein Mensch muss danach trachten, ein Friedensstifter zu sein, so wie Aaron der Cohen, der die Liebe liebte und sich immer nach Liebe sehnte ..

7 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 17.03.21

Ein Mensch muss danach trachten, ein Friedensstifter zu sein, so wie Aaron der Cohen, der die Liebe liebte und sich immer nach Liebe sehnte ..

 

Mit seinem Mundwerk Frieden zu stiften, bedeutet, Liebe zu stiften und dafür erlaubt die Tora sogar, dass man lügt, also koscher flunkert ..

 

Beispiel 1: Mann und Frau sind total verzofft. Daraufhin hat er das Haus verlassen, weil er nicht mehr mit diesem zänkischen Weib nicht mehr zusammenleben kann. Die Frau berichtet, sie hat ihn – diese Null – aus dem Haus gejagt ..

 

Sage dieser Frau auf ihr Verhalten hin: „Ich habe deinen Mann getroffen. Der Arme trägt keine Haare mehr an seinem Kopf, auch keine im Gesicht. Es scheint, als wären ihm alle seine Haare ausgefallen ..“ Selbst wenn die Frau sich nichts anmerken lässt will sie wissen warum .. sag ihr: „Ja er hat sich alle seine Haare ausgerissen, weil er sich nicht verzeihen kann, so eine tolle Frau wie dich nie wirklich verehrt und geliebt zu haben. Er befindet sich in einer echt miesen Verfassung und ist sehr deprimiert.“..

 

Natürlich ist dies gelogen. In Wahrheit trägt ihr Mann nämlich einen topmodischen Haarschnitt und sagt voller Erleichterung freudig: „Endlich bin ich die Alte los! Nie wieder will ich sie sehen!“

 

Nun gehe auch zu ihrem Mann und sage ihm: „Ich habe deine Frau getroffen. Sie hört nicht auf zu weinen und schlägt sich ständig selbst ins Gesicht. Sie weiß, dass sie sich dir gegenüber unmöglich benommen hat ..“

 

Auch das ist absolut gelogen, denn in Wahrheit sagt sie sich: „Dieser Mistkerl! Der soll es ja nicht mehr wagen, bei mir vorbeizuschauen!“ ..

 

Wer Frieden stiftet, stiftet Liebe. Denn als sich die beiden dann zufällig getroffen haben, schauten sie sich voller Liebe und Zuneigung an ..

 

Wir erkennen hier klare Lügen, die von der Tora aber geduldet werden, wenn es darum geht, Gutes zu tun ..

 

Beispiel 2: Ein Freund liegt schwerkrank im Krankenhaus. Da kommt ihn Freund X besuchen und sagt ihm die Wahrheit: „Du schaust sehr blass aus. Du bist echt schlimm dran ..“

 

Freund Y lügt ihm ins Gesicht: „Hey, Wahnsinn! Dich kriegt echt nichts unter! Man erzählte mir, du seist richtig blass, aber dein Gesicht hat richtig Farbe. Bald hast du sicher alles hinter dir.“

 

Auch hier werden diese Lügen geduldet und sogar gern gesehen. Man darf also Tatsachen verdrehen, wenn am Ende das Leben siegt.

 

Jetzt gibt es sicher Menschen, die der Meinung sind: „Okay, dann lüge ich eben im 'Namen der Liebe'.“

 

Beispiel: Ein Mann sagte zu mir: „Super! Dann darf ich jetzt also meine Frau anlügen? Anstatt ihr zu sagen, dass ich in die gemischte Sauna oder ins Casino gehe, was sie beides ja gar nicht ausstehen kann, werde ich ihr sagen, ich sei bei einem Vortrag oder eben bei einer Sache, die ihr gefällt.“

 

Das ist natürlich verboten. Schließlich ist hier weder Liebe noch Frieden und auch kein Leben in Sicht ..

 

Der Mann lügt, nicht um seiner Frau zu imponieren, sondern um seine dummen und vielleicht sogar perversen Bedürfnisse zu sättigen. Wenn es außerdem auffliegt, dass er sie angelogen hat, wird die Lage, in der er sich befindet, noch viel schlimmer als zuvor, was bei den ersten Bespielen der Lügen mit guter Absicht aber nicht der Fall sein wird .. Sie werden sich geschmeichelt fühlen, dass eine Person erkannt hat, wie sehr sie sich doch liebten ..

 

Auch im „Namen der Gerechtigkeit“ darf man nicht lügen – so wie es Robin Hood tat .. Er stahl das Geld der Reichen, um es an die Armen zu verteilen. Auch das ist verboten, da es den Reichen ja missfällt, dass man sie um ihr Geld bestiehlt ..

 

Wenn ich also etwas verdrehe, dann muss am Ende immer Liebe und Frieden das Resultat sein – vor allem auch dann, wenn mein Verdrehen ans Licht gerät.

 

In meinem Vortrag „Erschöpft und Ruhelos?“ erzählte ich genau von diesem Thema. Ein junger Mann war völlig empört, als ich darüber berichtete, dass lügen erlaubt sei: „Schaut mal, was ihr da ab der 48. Minute redet. Was ist nur los mit euch? ihr seid so abgewichen. Was beim Sabbath arbeiten ist, da nehmt ihr alles ganz genau, aber 'Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen' verwässert ihr. Ihr seid so abgewichen.“ Ich habe ihm geantwortet: „Wir weichen nicht ab – im Gegenteil! Das nennt man koscher flunkern, und das im Namen der Liebe oder im Namen des persönlichen Wohlergehens. Hier wird kein falsches Zeugnis abgelegt, da niemand in seinem Herzen mit schlechter Absicht seine Familie zerstören will. Ebenso will ein Kranker sicher nicht hören, wie schlimm es um ihn steht, dass weiß er von seinen Ärzten zu genüge. Unser Job ist es, einen Kranken aufzubauen, ihn zu motivieren!“ Meine Antwort machte ihn aber noch wütender und er meinte: „Aufzubauen, in dem man ihn belügt? Wo steht es denn genauestens in der Thora geschrieben, dass man 'Koscher flunkern' darf? Weißt du, das ganze erinnert mich an den Islam!“

 

Nun schrieb ich etwas ausführlicher, da ich sah, dass wir es mit einem Wahrheitsfanatiker zu tun haben, was ich natürlich sehr gut heiße! So schrieb ich ihm: „Es ehrt dich sehr, wie du dich für die Wahrheit einsetzt. Das Judentum bzw. meine Worte mit dem Islam zu vergleichen, da irrst du dich aber sehr! Schließlich ist das Judentum keine Religion, sondern wie es im Englischen so schön heißt: 'Judaism is not a religion, it is a relationship!'“

 

Eben deswegen gibt es in der Tora sehr viele Beispiele für erlaubte Lügen, also diplomatische Abänderungen.

 

Es ist erlaubt, die Wahrheit um des Friedens willen abzuändern. So steht es im Talmud, Jewamot 65b, geschrieben. Wir sehen dies in einem Gespräch zwischen Gott, Sara und Abraham in Genesis 18. 

 

Als Sara mitgeteilt wurde, dass sie einen Sohn auf die Welt bringen würde, lachte sie nur und sprach: „Nachdem ich schon verwelkt bin, soll ich wieder eine glatte Haut bekommen? Und mein Ehemann ist alt.“ Als Gott Abraham diesen Kommentar von Sara übermittelte, meldete Er ihm, dass Sara gesagt hatte: „Wie soll ich Kinder gebären, nachdem ich schon alt bin?“ Und Raschi erklärt im Talmud, Baba Mezia 23b, dass Gott Saras Worte abänderte, damit Abraham nicht erfahren würde, dass Sara eine etwas abwertende Bemerkung über ihn fallen gelassen hatte.

 

Aaron der Hohepriester wendete diese Methode oft an, als er versuchte, zwischen streitenden Eheleuten und Freunden Frieden zu stiften. Er würde sich zuerst an eine der beiden Parteien wenden und ihr „weismachen“, dass es der anderen Partei leid tut und sie sich wieder mit ihr versöhnen will. Als die Person das hörte, zeigte sie ein Interesse daran, die Meinungsverschiedenheit zu regeln. Aaron würde sich dann an die andere Partei wenden und ihr diese Neuigkeit überbringen, worauf alle zu einer Wiedervereinigung einverstanden waren. Sprüche der Väter 1:12 und Bartenura ad loc. Der Rif Baba Mezia 13a (auf den Seiten des Rif) sagt, dass es sogar eine Mizwa ist, die Tatsachen auf eine Weise zu verdrehen, dass sie es vermögen, den Frieden zu bewahren.

 

Andere Fälle, in denen weise Lügen erlaubt oder sogar erwünscht sind:

 

1.       Die Wahrheit aus Gründen der Bescheidenheit verändern. Es ist z.B. erlaubt zu behaupten, ein bestimmtes Traktat des Talmuds nicht zu kennen, obgleich wir es in Wirklichkeit kennen. Bava Mezia, ibid.

 

2.       Die Wahrheit verändern, um Diskretion zu bewahren. Ibid.

 

3.       Die Wahrheit verändern, um einen anderen vor Schaden oder Unannehmlichkeiten zu beschützen. Wenn z.B. ein Gastgeber sehr großzügig war, und wir auf dieses Thema angesprochen werden, sollten wir nicht jedem von seiner Freigebigkeit erzählen, weil er dann riskiert, von Gästen regelrecht überflutet zu werden. Ibid.

Wenn bei einem Menschen eine unheilbare Krankheit entdeckt wurde, und diese Information riskiert, negativen Einfluss auf seine Gesundheit zu haben, könnte es besser sein, diese Tatsache vor ihm zu verstecken. Siehe Enzyklopädie der jüdischen medizinischen Ethik von Abraham Steinberg, Eintrag Bekanntgabe der Krankheit an den betreffenden Patienten.

 

4.       Eine weise Lüge wird gesagt, um zu vermeiden, jemanden in Verlegenheit zu bringen. So sollen wir über eine Braut sagen, dass sie hübsch und anmutig ist, selbst wenn das nicht unserer persönlichen Ansicht entspricht. Talmud, Ketuwot 17a.

 

5.       Wenn wir einen übertriebenen Ausdruck benutzen, um etwas zu beschreiben, und es allen klar ist, dass es sich lediglich um eine Übertreibung handelt, Piskej Tschuwot 156:21, wie z.B. „Du siehst bleich wie ein Leinentuch aus.“

 

6.       Es gibt Umstände, in denen es erlaubt ist, jemanden zu täuschen, um den Verlust einer Sache zu vermeiden, die uns eigentlich zusteht. Unser Patriarch Jaakow musste diese Methode mehrere Male anwenden, um sein rechtmäßig verdientes Einkommen davor zu schützen, von Lawan unterschlagen zu werden. Siehe Pardes Josef Paraschat Wajeze Nr. 66 in den dort erwähnten Quellen. Die Einzelheiten dieser Angelegenheit liegen jedoch jenseits des Rahmens dieses Artikels. Siehe Pitchej Choschen, Kap. 6, Gesetze betreffend Darlehen, Anm. 5.

 

7.       Falls wir etwas für uns selbst tun, aber ein anderer denkt, wir hätten es getan, um ihn zu würdigen, können wir diesem Menschen „die Freude lassen“, und brauchen dieses Missverständnis nicht zu korrigieren. Der Talmud Chulin 94b erzählt, dass einige Rabbiner von Stadt zu Stadt reisten. Ein Rabbiner, der sich zufällig in einer jenen Stadt befand, dachte, dass sie extra gekommen waren, um ihn zu begrüßen. In diesem Fall, folgert der Talmud, ist es nicht nötig, diese falsche Annahme zu korrigieren. Siehe Kodex des jüdischen Gesetzes, Choschen Mischpat 228:6.

 

Es gibt unter diesen Ausnahmen natürlich auch weitere Ausnahmen

 

  • Trotz dieser Genehmigungen, sollen wir stets vermeiden, eine vollständige Lüge zu erzählen, sondern uns möglichst auf Halbwahrheiten beschränken. Das kann vom Wortlaut in Baba Mezia und Jewamot, ibid., abgeleitet werden, wo gesagt wird, „Wir dürfen für Friedensgründe 'abändern'.“, statt „Wir dürfen für Friedensgründe 'lügen'.“

 

  • Selbst in jenen Fällen ist Kindern gegenüber größere Vorsicht geboten. Wir sollen uns stets bemühen, Kinder nicht anzulügen, damit sie sich nicht an Lügen gewöhnen. Siehe Talmud Sukka 46b.

 

  • Und selbst unter diesen Umständen sollen wir nicht fortlaufend lügen. Talmud Jewamot 63, wie das vom Maharscha erklärt wird. Das scheint ein Widerspruch zu Aarons Verhalten (siehe oben) zu sein. Doch siehe Ijun Jaakow zu Jewamot für eine alternative Erklärung.

 

  • Der Magen Abraham Orach Chaim 156, basierend auf Sefer Chassidim 426. sagt, dass wir selbst in den oben erwähnten Umständen nur über die Vergangenheit lügen dürfen, jedoch nicht die Zukunft betreffend. Wir dürfen z.B. nicht sagen: „Ich werde das und das tun“, um Frieden zu stiften. Andere beanstanden diese Entscheidung. Schulchan Aruch HaRav, Orach Chaim 156:2.

 

Auch hier findest du einen informativen Artikel von Rabbiner Goldberg zu dem Thema auf unserer Seite: http://www.breslev.co.il/articles/spiritualit%C3%A4t/judentum_halacha/koscher_flunkern.aspx?id=20858&language=germany

 

Das Judentum ist nicht farbenblind, mein Lieber. Es ist aktiv, wie du gesehen hast. Ich habe dir hier aus dem Ärmel geantwortet. Gerne können wir dieses Thema noch weiter vertiefen und sehen, wie die Tora dieses Thema behandelt. Ich hoffe du hast nun einen gewissen Einblick zu diesem Thema und der Thora erhalten. Bleib wie du bist, also immer der Wahrheit treu! Alles Liebe und danke für deinen wirklich wichtigen Einwand!

David Kraus

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