Mitzwa der Nächstenliebe

Lass dich von Ihm beschenken mit wahrem Einfühlungsvermögen und echtem Mitgefühl gegenüber allem in der Schöpfung.

4 Min.

Andrea Jockisch

gepostet auf 18.03.21

Kürzlich erfuhr ich anhand eines Berichtes, dass aus einem Krankenhaus ein demenzkranker Mann, der auf Medikamente angewiesen ist, spurlos verschwunden ist. Vermutet wird, dass dieser ältere Herr im nahe liegenden Zug unterwegs war. Andererseits weiß ich meiner Erfahrung nach, da mein Bruder zur Kur in diesem Krankenhaus war, dass es ein riesiger Gebäudekomplex ist, welcher umgeben ist von einem großen Waldgebiet.

 

Noch am Abend beschäftigte mich dieser Fall des verschwundenen Mannes. Ich selbst kenne ihn nicht persönlich, aber dennoch ging es mir sehr zu Herzen.

Der Sohn macht sich große Sorgen um seinen Vater und hofft darauf, dass er sobald wie möglich wiedergefunden wird. Wie soll sich ein dementer Mensch, der völlig orientierungslos ist, in dieser Welt zurechtfinden? Obendrein schwebt er in gesundheitlicher Gefahr, weil er auf seine täglichen Medikamente angewiesen ist.

 

Und so dachte ich darüber nach, dass es doch eigentlich angebracht wäre, den orientierungslosen Patienten ein Band an Hand- oder Fußgelenk anzubringen, dass GPS-Signale aussendet, sodass die Suche nach verschwundenen Personen erleichter  werden könnte. Andererseits dachte ich darüber nach, dass dies vom Gesetz her sicherlich auch nicht einfach so umsetzbar ist, weil es ein Eindringen in die Freiheit des Menschen ist. Wenn man aber bedenkt, dass es um den Schutz und lebensrettende Maßnahmen eines orientierungslosen Menschen geht, dann wäre so ein GPS-Armband von Nutzen für solch einen Patienten – selbstverständlich mit seiner Einwilligung bzw. mit der Einwilligung eines Angehörigen, falls der Patient selbst geistig nicht mehr imstande ist, seinen eigenen Willen zu bilden.

 

Vor dem Schlafengehen ist es mein tägliches Ritual, Einträge in mein Gebetstagebuch zu machen.

 

Rabbi Nachman aus Breslev sagte einmal: „Halte dir stets vor Augen, dass die Essenz deiner Gebete dein Glaube daran ist, dass sie erhört werden.“ (Likutey Moharan, Band 1, Lektion 7)

 

Alles, was ich ins Gebetstagebuch niederschreibe, sind an HaShem gerichtete Gespräche – Liebesbriefchen an Gott, Sorgenzettelchen, Herzensanliegen, kleine persönlich erlebte Wunder, begeisternde Erlebnisse und unvergessliche Augenblicke. Darin befindet sich zusätzlich jeden Tag ein Zettelchen für Danksagung und ein Zettelchen für Gebetsanliegen.

Und so betete ich selbstverständlich auch für diesen spurlos verschwundenen älteren Herrn: „Lieber Gott, Du siehst wie besorgt der Sohn ist und voller Hoffnung auf neue Hinweise über den Verbleib seines Vaters. Bitte hilf, dass dem für vermisst gemeldeten Mann nichts zustößt und Bürgerhinweise bei der Polizei eingehen, damit er sobald wie möglich gefunden wird. Bitte mache, dass dieser Beitrag, den sein Sohn veröffentlichte, vielen Lesern zu Herzen geht und sie aktiv mitwirken, indem sie den Beitrag fleißig teilen und für den vermissten Vater beten. Ich wünschte, sie würden genauso viel Interesse am Wiederfinden dieses demenzkranken Menschen zeigen wie am Wohl ihres eigenen Lebens.“

 

Das der Beitrag des Sohnes auf seiner Seite kaum geteilt bzw. kaum kommentiert wurde, darüber war ich schon etwas schockiert. „Betrifft mich, meine Angehörigen, Freunde und Bekannten nicht – geht mich daher nichts an“ scheint in den Köpfen vieler Menschen resignierenden Einfluss genommen zu haben.

 

Im Judentum gibt es einen von insgesamt drei grundsätzlichen Werten, der auf dieser Welt besteht. Das ist die sogenannte Gemilut Chassadim (Mitzwa der Nächstenliebe). Wir sind von Gott dazu aufgefordert, anderen Menschen zu helfen – und das nicht nur finanziell und durch Hilfsbereitschaft, sondern ihnen auch durch mentale Unterstützung im Gebet, der Fürbitte, beizustehen.

Mitmenschlichkeit zu entwickeln, bedeutet nicht nur für Gläubige, für Familienangehörige, Verwandte, Freunde und Bekannte zu beten. Es bedeutet auch, dass uns Menschen, zu denen wir keinen persönlichen Bezug haben, genauso sehr am Herzen liegen sollen.

Stell dir mal vor, HaShem würde sich nur für die Menschen interessieren, die schon an Ihn glauben! Das würde bedeutet, dass HaShem den Menschen, die noch auf der Suche nach Ihm sind, keine Chance geben würde, Ihn zu entdecken.

Der Schöpfer interessiert sich in Wirklichkeit für jeden Menschen, für jedes Seiner Geschöpfe. Und daher sollte es auch zwischen uns Menschen zu einem Herzensanliegen werden, für die Mitmenschen, die sich in Not und Gefahr befinden, zu beten – egal ob wir sie nun persönlich kennen oder nicht.

 

Wie fühlst du dich, wenn du unverhofft erfährst, da hat jemand im Stillen unauffällig für dich betet, wenn du dich in einer herausfordernden und turbulenten Situation befindest, ohne dass du ihn darum gebeten hast? Ist es nicht ein stärkendes Gefühl der Gemeinschaft und der herzlichen Verbundenheit? Gemeinsame Fürbitte zu halten, bestärkt das Gebet auf wundervolle Weise!

 

Eine tolle Idee, die ich bestens empfehlen kann, ist, eine Gebetskette zu bilden. Was eine Gebetskette ist? Du legst mit deinen Freunden und Bekannten eine Gebetszeit fest, in der ihr speziell für eine Person eine ganze Stunde lang betet. Das tut jeder für sich zu Hause. Nehmt euch diese feste Zeit der Fürbitte zwei-, dreimal in der Woche vor.

Bevor ihr mit der Fürbitte im Kettengebet beginnt, könnt ihr beispielsweise folgende Worte beten: „Lieber Gott, zeige mir Menschen, mit denen ich gemeinsam beten kann. Wann immer wir die Möglichkeit haben, für andere zu beten, hilf uns, dies in vollkommener Einheit zu tun. Lass uns so sehr im Einklang miteinander sein, dass unsere Gebete wirkungsvoll sind.“

Und ihr werdet mit der Zeit bemerken, wie nach und nach sich eure Gebetskette erweitert. Animiert Menschen auf diese Weise dazu, Gottes wundervolles Wirken im gemeinschaftlichen Gebet zu entdecken.

 

Es ist wichtig, dass wir HaShem darum bitten müssen, Mitgefühl und ein feines Gespür sowie Freundlichkeit, Güte und Liebe für andere zu entwickeln – gerade so wie HaShem zu allen Seinen Geschöpfen freundlich, gütig und liebevoll ist.

Lass dich von Ihm beschenken mit wahrem Einfühlungsvermögen und echtem Mitgefühl gegenüber allem in der Schöpfung.

 

Die fünf kabbalistischen Grundelemente alles menschlichen Tuns sind das Handeln, Reden, Fühlen, Denken und Wollen. Jedes dieser Elemente entspricht einer Ebene der menschlichen Seele, der wiederum einer Schöpfungsebene entspricht.

 

Wir sollten somit nicht nur beginnen, Fürbitte zu halten, wenn es unsere Angehörigen, Freunde und Bekannten betrifft. Wir tragen ebenso im gleichen Maße Verantwortung für Menschen, über die bzw. von denen wir erfahren, dass sie unseren Beistand benötigen.

Jeder achtet beispielsweise darauf, Schnäppcheneinkäufe zu machen, wo es nur geht, um Geld einzusparen. Wenn das einem Menschen so viel bedeutet, wie viel mehr müssten ihm dann seine Worte der Fürbitte bedeuten, die völlig kostenlos sind und obendrein eine große Mitzwa erfüllt – die Mitzwa der Gemilut Chassadim?

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